ÜBER DIE BEWÄLTIGUNG UND NACHBEWÄLTIGUNG DES CORONAVIRUS
Welche Maßnahmen waren richtig und wichtig zur Eindämmung der Ausbreitung des Erregers?
Welche Versäumnisse werden jetzt Thema in der öffentlichen Debatte?
Was wir über das Virus wissen oder nicht wissen – all das eröffnet sicher noch ein weites Feld in der öffentlichen Meinung, nicht zu vergessen Fake News von offizieller und nicht offizieller Seite.
Kategorie: Gesundheit
Überlegungen zum Coronavirus – 7.: Smog
WARUM ITALIEN? – TEIL 7
Zu den bisherigen Vermutungen, warum es Italien so erwischt hat,
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
haben sich inzwischen in den Medien weitere gesellt: Fußballspiele der UEFA (Atalanta Bergamo gegen Valencia), und der Smog, der in den Industrieregionen der Poebene ähnlich wie in Chinas Coronavirus-Zentrum Wuhan herrscht.
Während das Fußballspiele unter Großveranstaltungen fallen, überall stattfinden und bestenfalls die besondere Konzentration in Bergamo erklären können, ist die Sache mit dem Smog weitere Überlegungen wert.
1. Smog in London
Als klassisches Land des Smogs, wo der Begriff (Rauch+Nebel) erfunden wurde, gilt Großbritannien, speziell London. Die großen Smog-Wellen, die die Sterblichkeitsrate in die Höhe schießen ließen und teilweise das öffentliche Leben lähmten, gingen außer dem Nebel auf die Kombination von Kohleheizungen und mit Kohle betriebenen Kraftwerken auch auf den wachsenden Straßenverkehr zurück. Dabei spielte eine wichtige Rolle, daß in London nach 1945 die Straßenbahnen durch Busse ersetzt worden waren.
Die „Smogkatastrophe von 1952“, die über 4.000 Menschen das Leben kostete, wird so beschrieben:
„Am Abend des 5. Dezember 1952 verdichtete sich plötzlich der Nebel … In den folgenden Tagen war es sogar für Fußgänger unmöglich, sich zurechtzufinden. Viele sonst ortskundige Menschen verirrten sich. Autofahren war unmöglich, selbst wenn jemand mit einer Lampe dem Auto voranging. … Der Smog wurde so dicht, dass die Sicht fast auf »Null« zurückging. Augenzeugen berichten, dass Menschen, die an sich herab blickten, alles, was unterhalb ihrer Taille war, nicht sehen konnten … Der Smog drang auch in die Gebäude ein, so dass Kino- und Theatervorführungen abgesagt werden mussten, weil Leinwände oder Bühnen aus dem Zuschauerraum nicht mehr zu sehen waren. Andererseits hätten aber auch die Menschen den Weg dorthin nicht mehr gefunden.“ (Wikipedia, Smogkatastrophe 1952)
Ab Mitte der 50-er Jahre wurden daher Gesetze für saubere Luft erlassen und sonstige Maßnahmen gesetzt, um die Luftqualität zu verbessern. Unter anderem begann damals ein schrittweiser Wechsel von dem klassischen Energieträger Kohle zu den zumindest vom Standpunkt der Luftverschmutzung „saubereren“ Energieformen Atomkraft, Erdöl und Erdgas. Das Heizen mit Feststoff-Öfen aller Art wurde untersagt. Großbritannien war führend in Filtertechnik für Kohlekraftwerke, bis sich herausstellte, daß auch die Verflüssigung von Schadstoffen das Problem nur auf eine andere Ebene verlagerte.
Heute gilt das Smog-Problem in Großbritannien als gelöst, was nicht heißt, daß in London inzwischen reine Luft wäre. Aber die Schäden, die inzwischen noch auftreten, werden zumindest von den Gesetzgebern als gesellschaftlich tragbar eingestuft.
Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Londoner Luft – und der in anderen britischen Großstädten – war sicher die großflächige Stilllegung der Kohleförderung im UK. Damit wurde die Kohle als Verschmutzungsfaktor an den Rand gedrängt.
Ähnliche Entwicklungen gab es in anderen Regionen Europas, wo klimatische Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Zunahme von Industrie und Verkehr Smogprobleme und infolgedessen ein Ansteigen der Atemwegserkrankungen verursachten. Zuletzt ist die Problematik als „Feinstaub-Belastung“ rund um den Dieselskandal wieder in den Medien breitgetreten wurden.
2. Smog in China
China besitzt auf seinem Territorium nur einen einzigen Energieträger, nämlich Kohle. Deshalb baute sowohl die in den 50-er Jahren einsetzende Industrialisierung als auch die Beheizung der Städte – mit Fernwärme – auf Kohlekraftwerken auf.
Solange geplante Industriestädte auf der grünen Wiese erbaut und mit den vorgesehenen Fabriken und Kraftwerken versehen wurden, gab es kein Problem der Luftqualität. Selbst wenn sie einmal nicht so toll war, nahmen das die Betroffenen mit Gelassenheit, und es ging bald wieder vorbei.
Man darf nicht vergessen, daß die chinesische Bevölkerung bis hoch in die 80-er Jahre sehr immobil war. Wohnorte und Arbeitsplätze wurden zugeteilt und das System der Lebensmittelmarken verhinderte unbegründete Ortsverlagerungen. So spielte auch der Verkehr keine besondere Rolle als Umweltbelastung. Über Land fuhr man – sofern es einen guten Grund gab, wie Studium oder Beruf – mit Zügen. In der Stadt dominierte das umweltfreundliche Fahrrad.
Diese idyllischen Verhältnisse änderten sich, als die Reformen in Richtung Marktwirtschaft begannen. Chinas Städte wuchsen schnell und unkontrolliert an. In den Vorstädten entstanden informelle Viertel, die mit Kohleöfen heizten. Der Verkehr nahm zu, die Privatautos begannen, die Straßen der Städte zu verstopfen. Sogar im öffentlichen Verkehr stiegen viele auf Busse um, weil die überall hinfahren konnten, wo es keine Bahnverbindungen gab.
In der allgemeinen Euphorie des Fortschritts und der plötzlich gewonnenen Bewegungsfreiheit wurden lange keine Maßnahmen gesetzt, und die Luftverschmutzung stieg und stieg. Die Leute setzten Masken auf und zuckten mit den Schultern. Die Behörden hatten Wichtigeres zu tun, und bald nach der Jahrtausendwende war China nahe den Londoner Zuständen von 1952, nur in mehr als 10 Städten gleichzeitig. Aufgrund der Größe des Problems hatte das sogar weitergehende Folgen:
„In China befinden sich nach Aussicht der Weltbank zufolge sechzehn der zwanzig Städte mit der stärksten Luftverschmutzung der Welt. Für das Klima in der Region und darüber hinaus hat das gravierende Folgen, wie aktuelle Studien zeigen. … Einer … Studie zufolge hat dieser Effekt in einer nordchinesischen Bergregion die Regenfälle in den letzten fünfzig Jahren um ein Fünftel zurückgehen lassen.“ (Stern, 14.3. 2007)
Die Smogproblematik gefährdete also nicht nur die Gesundheit vieler Millionen Menschen, sondern trug auch zur Versteppung und Verwüstung des Nordwestens Chinas bei.
Die politische Führung setzte den Umweltschutz auf die Tagesordnung. Und gegenüber den 3 Hauptverursachern – Industrie, Verkehr, Heizung – wurden im letzten Jahrzehnt einschneidende Maßnahmen gesetzt: Seit Jahren baut China Wasser-, Wind- und Sonnenenergie aus. Die Schadstoff-Grenzwerte wurden gesenkt bzw. oft überhaupt erst eingeführt, Filteranlagen montiert und viele Industrien und Kraftwerke zugesperrt, die diesen Werten nicht genügten. Mit dem Abschluß von Erdgaslieferverträgen mit Rußland werden ständig Fernwärmekraftwerke von Kohle auf Gas umgestellt. Bei der Ansiedlung neuer Betriebe werden Umweltverträglichkeitsprüfungen gefordert, und Industrieanlagen sollen vermehrt aus Ballungsgebieten in weniger dicht besiedelte Gebiete verlegt werden.
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Hochgeschwindigkeitszüge dienen nicht nur der Beförderung der Mobilität, sondern auch dem Ziel, sie umweltverträglicher zu machen. China hat auch den Startschuß gegeben für die Elektroauto-Erzeugung, die die Verbrennungsmotoren ersetzen soll.
Das alles geht natürlich bei den Dimensionen dieses Staates und der Produktion, die dort stattfindet, nicht von heute auf morgen.
3. Wuhan
Die Existenz und die Größe Wuhans verdankt sich seiner Lage. Es liegt am Großen Fluß, dem wichtigsten Verkehrsweg Chinas, und an der Einmündung eines wichtigen Nebenflusses. So entstanden die 3 Städte, die Wuhan ausmachten, als Handelszentrum zwischen den gebirgigen westlichen Provinzen Chinas, die das Einzugsgebiet des Jangtse ausmachen und der Region um Shanghai, der großen Handelsmetropole.
Fast genauso wichtig wie die West-Ostverbindung ist für Wuhan die Nord-Süd-Verbindung: Durch Wuhan geht der historische Verkehrsweg, der Peking mit Kanton verbindet, also die wichtigste Nord-Süd-Verbindung Chinas. Deshalb wurde die erste feste Brücke über den Jangtse im Jahr 1957 mit sowjetischer Hilfe erbaut – in Wuhan.
Die zentrale Lage Wuhans ließ es auch im 20. Jahrhunderts im Krieg gegen die Japaner und zwischen Volksarmee und Kuomintang zu einer wichtigen militärischen Basis werden, sogar als mögliche neue Hauptstadt war es eine Zeitlang im Gespräch.
Die Vorteile der günstigen Lage ziehen aber auch Nachteile nach sich: Die Lage an den Flüssen (– außer dem Han-Fluß münden auch weitere kleinere Flüsse in der Nähe ein –) führte zu häufigen und sehr heftigen Überschwemmungen, sogar in jüngerer Vergangenheit. Die Überschwemmungsgefahr des Jangstekiang wurde durch den 3-Schluchten-Damm sehr verringert, aber er ist nicht das einzige Wasser, das sich Richtung Wuhan ergießt.
Außerdem führt die Lage am Wasser – außer Flüssen gibt es in und um Wuhan jede Menge Seen – zu einer hohen Luftfeuchtigkeit, die es im Zusammenhang mit der Luftverschmutzung in der kalten Jahreszeit zu einer idealen Brutstätte für Smog macht.
Der Einwohnerzahl nach gehört der Großraum Wuhan zu den großen Ballungszentren Chinas: In dem als „Innenstadt“ definiertem Gebiet leben 8 Millionen Menschen, im Großraum Wuhan mehr als 10,5 Millionen. Unter den Städten Chinas nimmt es nach Einwohnerzahl den 6. Rang ein.
„Die Stadt ist der industrielle Schwerpunkt Mittelchinas und hat die für chinesische Millionenstädte typische Mischung aus Produktionsbetrieben vieler Branchen, u. a. Motoren-, Schiffs-, Fahrzeug- und Maschinenbau, Zementfabriken, Textilwerke, chemische Werke, Papierherstellung, ein Aluminiumwerk sowie eine … Brauerei.“ (Wikipedia, Wuhan)
So kam zu dem Markt, von wo der Coronavirus angeblich seinen Ausgang nahm, ein vom Standpunkt des Virus ideales Milieu, wo sich erstens das Virus schnell ausbreiten konnte, aber zweitens in Wuhan Atemwegserkrankungen sowieso schon verbreitet waren, das Immunsystem der dortigen Menschen geschwächt, und deshalb auch eine durch erhöhte Medikamente-Konsum für dergleichen Infektionen anfällige Bevölkerung vorhanden war.
4. Die Poebene
a) Industrie
Eine der Voraussetzungen für die Industrialisierung Norditaliens war die bereits im Spätmittelalter erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft in verschiedenen norditalienischen Stadtstaaten. Um die Lebensmittelversorgung der Handelsmetropolen sicherzustellen, schufen diverse Fürstentümer bereits im 13. und 14. Jahrhundert einen freien Bauernstand, der mit der Zeit auch ein blühendes Handwerk außerhalb der Städte zustande brachte, sehr im Unterschied zu den süditalienischen Provinzen, wo der Großgrundbesitz bis heute vorherrscht und jede wirtschaftliche Entwicklung erstickte.
Diese Entwicklung wurde noch beflügelt durch die österreichische Herrschaft, wo das Urbarium und die Gewerbeordnung zur Zeit Maria Theresias beide Entwicklungen begünstigten.
Nach der Einigung Italiens baute die königlich-piemontesische Regierung auf diesen Vorbedingungen auf. Die Entscheidung, sich mit den Eliten Süditaliens nicht zu verscherzen und die dortigen Eigentumsverhältnisse zu bestätigen, besiegelte das Schicksal des Mezzogiorno, der seither als Arbeitskräfte-Reservoir für Norditalien dient.
Die weitere Industrialisierung Italiens geschah über den Schulterschluß des bisher vorhandenen Handelskapitals mit den genossenschaftlich organisierten Arbeiter- und Handwerkervereinen Norditaliens. Die Manufaktur und Industrie der Lombardei, des Piemonts und angrenzender Gebiete geschah teilweise von unten, mit Hilfe des traditionellen Bank- und Handelskapitals.
Der Faschismus schuf mit Staatshilfe einen weiteren Schub, und nach dem Krieg wurde die Industrie Norditaliens mit Hilfe des staatlichen Energie-Riesen ENI weiter ausgebaut.
„Die italienische Wirtschaft ist die sechstgrößte auf der Welt und lässt sich am besten mit der von Frankreich oder von Großbritannien vergleichen.“ (ItalienWissen)
(Die entsprechende Kulisse kann man in dem Film „Die rote Wüste“ betrachten.)
Abgesehen von den Textilfirmen sei erinnert an: Fiat, Pirelli, diverse Lebensmittel- und Sportartikel-Firmen, Möbel, usw. Die Berichterstattung der jüngeren Vergangenheit beleuchtet auch diesen Zustand der Wirtschaft der Lombardei:
„Die geschäftstüchtige Stadt Bergamo, bekannt für ihre Chemie- und Baumaterial-Produktion, den Stahlbau, sowie ihre Forschungsinstitute, ist in wenigen Wochen zum Lazarett Italiens geworden.“ (Tiroler Tageszeitung, 22.3. 2020)
b) Natur
Die Poebene ist eigentlich keine Ebene, sondern ein weitläufiges hügeliges Becken zwischen zwei Bergzügen, den Alpen im Norden und Westen und dem Apennin im Süden, des in Form eines Dreiecks in die Adria sozusagen entlüftet, was sich dort sammelt. Über den Nebel, der dort auftritt, kann man sich im Film „Amarcord“ von Fellini einen Eindruck verschaffen.
Die Luftfeuchtigkeit dieser Gegend war lange kein Problem, sondern sogar ein Faktor der Fruchtbarkeit, der die Landwirtschaft beflügelte.
Im Zusammenhang mit der Industrie wurde der traditionelle Nebel jedoch in den letzten Jahrzehnten zu einem bestimmenden Moment der Erkrankung der gesamten Bevölkerung der Poebene.
Das Bild aus Wikipedia zeigt das Ausmaß des Problems sehr deutlich:
Die Krankenhäuser der Lombardei, des Piemonts und Venetiens waren in den letzten Jahren bei der Behandlung der Atemwegs-Erkrankten an den Grenzen ihrer Kapazitäten:
„Letztes Jahr hätte niemand eine schwere Grippesaison erwartet. Und stattdessen: 8,5 Millionen Betroffene in Italien, über 740 schwerwiegende Fälle, 160 direkte und 10 000 indirekte Todesfälle, die mit Komplikationen der Atemwege wie Lungenentzündung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängen.“ (La Republicca, 26.9. 2018)
Zu diesen Zahlen und Fakten muß man noch hinzufügen, daß mit diesen sozusagen chronischen Erkrankungen, die sich aufgrund der Smog-Zustände ergeben, ebenfalls als chronisch zu bezeichnende Medikamenten-Abhängigkeiten ergeben, die nicht nur das Immunsystem, sondern durch ihre Nebenwirkungen angegriffene Organismen zusätzlich schwächen.
Der Smog Norditaliens ist also mit seinen direkten und indirekten Folgen als eine der wichtigsten Triebkräfte der CV-Pandemie Italiens zu betrachten.
Fortsetzung folgt: Fazit aus dem Bisherigen
Überlegungen zum Coronavirus – 6.: Italiens Gesundheitswesen
WARUM ITALIEN? – TEIL 6
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
1. Gesundheit
Was als „Gesundheit“ angesehen wird, hängt von der Gesellschaft ab, in der man lebt.
Die alten Griechen trieben Sport, um fit für den Krieg zu sein. Gesund war, wer seine Feinde aufgrund seiner körperlichen Verfassung bezwingen konnte, und diesem Ziel war zumindest die körperliche Betätigung untergeordnet.
In den indigenen Gesellschaften gab es Medizinmänner, die mit Wissen über Pflanzen und Rauschzustände dafür sorgten, daß der Stamm halbwegs fit für Jagd, gegebenenfalls Ackerbau, und Reproduktion blieb.
In der heutigen Marktwirtschaft ist das Wichtigste, daß jemand arbeitsfähig ist. Sowohl nach körperlicher als auch nach geistiger Verfassung wird das Individuum dazu erzogen, sich an seinem Arbeitsplatz zu bewähren. Das heißt, daß sich bereits Kinder oder Jugendliche darauf vorbereiten sollen, andere gegebenenfalls auszustechen – im Sport, bei schulischen Leistungen, im Ergattern eines Partners. Gesund sein im weitesten Sinne heißt: bestmöglich gerüstet für die Konkurrenz.
Die Volksgesundheit, die modernen Staaten ein Anliegen ist, soll den ganzen Volkskörper möglichst für dieses Ziel befähigen. D.h., möglichst viele Individuen sollen nach dem Ideal der Gesundheitspolitiker möglichst sportlich, ehrgeizig und fleißig sein, um die möglicherweise nicht so gut vorbereiteten Untertanen fremder Herrschaften auf allen Gebieten – Kultur, Produktivität, Sport, usw. – auszustechen. Dieses Ziel geht auch in Form rassistischer Witze über andere Nationen in das Denken der jeweiligen Staatsbürger ein.
Der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Art von Gesundheit dienen die Bildungseinrichtungen eines Landes und das Gesundheitssystem. Wenn letzteres untersucht wird, sollte man sich jedenfalls vor Augen halten, wie die Gesundheit definiert wird: Nicht als allgemeines Wohlbefinden, Abwesenheit von Krankheiten und Schmerzen und allumfassende Fertigkeiten, Geschicklichkeit und Frohsinn, sondern um die Funktionalität für die kapitalistische Klassengesellschaft.
2. Das Gesundheitssystem
a) Gesundheit im Sozialismus
Als der junge Medizinstudent Ernesto Guevara in den Ferien mit dem Motorrad durch Lateinamerika fuhr, fielen ihm bei den Leuten, die er kennenlernte, Bergarbeitern in der Atacama-Wüste oder Leprakranken in Ecuador, zwei Dinge auf: Erstens, daß unser Gesellschaftssystem Leute krank macht, vernutzt und Schäden und Gefahren aussetzt, weil es hier wie dort legal ist, daß die Reichen die Armen ausnützen, für sich arbeiten lassen und so noch reicher werden.
Zweitens, daß diesen solcherart Beschädigten dann auch noch wegen ihrer Armut die ärztliche Hilfe verweigert wird und im 20. Jahrhundert Menschen an Krankheiten leiden und sterben, die längst heilbar sind.
Er zog daraus den Schluß, daß er an dieser Gesellschaftsstruktur etwas ändern will, und sich nicht damit abfinden will, als Arzt diejenigen zu betreuen, die sich das eben leisten können.
Er wollte eine Gesellschaft errichten, in der Leute erstens nicht mutwillig krank gemacht, und zweitens ihre Krankheiten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geheilt werden.
Auf diesen beiden Prinzipien beruht das heutige kubanische Gesundheitssystem, das in diesen schweren Zeiten als besonders vorbildlich hervorsticht und Ärzte-Brigaden in die Zentren des Kapitalismus schickt, weil deren Gesundheitssysteme mit dem Coronavirus nicht mehr fertig werden.
b) Gesundheit im Kapitalismus
Der fundamentale Unterschied unseres Gesundheitssystems zum kubanischen besteht darin, daß Punkt 1 nie angedacht wurde. Das sehr gerühmte sozialstaatliche Gesundheitssystem Mitteleuropas beruht auf der Überzeugung, daß die Leute die Arbeit, die Umweltverschmutzung, den Streß und die Konkurrenz aushalten müssen, zumindest mehrheitlich.
Die Denkmäler dieser Auffassung sind Berufskrankheiten und Grenzwerte.
Bei ersteren ist anerkannt, daß gewisse Berufe krank machen. Diese Art von Beruf wird aber nicht eliminiert, oder so umgestaltet, daß er der Gesundheit nicht schadet. Die bereits Erkrankten werden, wenn sie Glück haben und ihre Beschädigung anerkannt wird, mit einer Invalidenrente ausgestattet.
Bei Grenzwerten wird festgestellt, daß verschiedene Stoffe nachteilige Folgen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Sie werden aber nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern lediglich mengenmäßig beschränkt.
Eine Kritik an unserem Gesundheitswesen lautet, daß sie Symptome behandle, nicht Ursachen. Das ist zwar nicht immer richtig, hat aber natürlich in der Ausgangslage des ganzen Gesundheitswesens ihre Grundlage. Eigentlich könnten viele Ärzte angesichts der Lage ähnlich Schlüsse ziehen wie Che Guevara, aber irgendwie scheint sich diese Denkweise nicht so richtig durchzusetzen.
Ein schönes Beispiel für den Zustand unseres Gesundheitswesens ist die Krebsforschung. Es sind alle möglichen Stoffe bekannt, die krebsfördernd wirken. Die werden eben dann beschränkt und mit Grenzwerten versehen.
In andere Richtungen – wie sehr der Streß, die Existenzangst, das Mobbing, andere Formen der Konkurrenz und die zeit- und geldbedingte Mangelernährung breiter Volksmassen zur Folge haben, daß einige Zellen im Körper einfach kippen und zu Killern werden – wird gar nicht geforscht. Stattdessen suchen gutdotierte Institutionen nach Mitteln, diese Killerzellen wiederum zu killen. Auch alle Folgekosten, wie Chemotherapie, Rehab und Frühpensionierungen und Invalidenrenten, werden vom Gesundheitssystem in Kauf genommen. So sieht eben die Reparaturarbeit in unserer Gesellschaft aus.
Dem Gesundheitswesen entstehen außerdem beachtliche Kosten nicht aus der großartigen Entlohnung der dort Angestellten – viele Berufe im Gesundheitswesen streifen bereits die Prekariatsgrenze –, sondern daraus, daß die pharmazeutische und sonstige Medizinindustrie auch ihre Kosten kommen soll. Gerade solche Staaten leisten sich ein flächendeckendes Krankenhausnetz und behandeln ihre Bevölkerung großzügiger als andere Staaten, die damit auch ihrer Medizinindustrie eine zahlungsfähige Nachfrage und daneben ein Experimentierfeld für neue Behandlungsmethoden und Medikamente sichern.
Man kann das Gesundheitssystem unter diesem Gesichtspunkt durchaus auch als eine Art Standort- und Wirtschaftsförderung betrachten.
Wenn also die Neoliberalismus-Kritiker rufen: „Gesundheit darf kein Geschäft sein!“ und eine höhere Dotierung dieses Sektors fordern, so übersehen sie sehr geflissentlich, welchen Geschäften das ganze Gesundheitssystem von Anfang an dient: Sowohl den gesundheitsschädlichen nämlich als auch den heilenden.
3. Das Gesundheitswesen Italiens
„Zu Beginn der 1970er Jahre gab es in Italien noch rund 100 Krankenkassen. Dieses System wurde 1978 mit Einführung des nationalen Gesundheitsdienstes abgeschafft. Mit einem einheitlichen Leistungsangebot wollte die Regierung dem starken Gefälle zwischen reichem Norden und armen Süden entgegenwirken. In der Praxis hat dies nicht so ganz funktioniert, sodass es mittlerweile bereits vier größere Reformen gab.“ (Krankenkassenvergleich)
Ein Ergebnis dieser Reform von 1978 ist, „dass die medizinische Grundversorgung für alle Bürger kostenlos ist.“ (ebd.)
Was als Grundversorgung definiert, und was darüber hinaus geleistet ist, hängt von der Dotierung der Spitäler ab, und das wiederum hat mit dem Steueraufkommen derjenigen Region zu tun, in der sich die medizinische Einrichtung befindet.
Was im Mezzogiorno in medizinischen Einrichtungen als Grundversorgung angeboten wird, unterscheidet sich daher aufgrund der finanziellen Mittel sehr von Regionen wie Rom oder den reicheren Provinzen des Nordens. Die wirtschaftliche Entwicklung Italiens spiegelt sich also in der Ausstattung seiner Krankenhäuser, und auch in der Anzahl derselben: „Auf lokaler Ebene gibt es die Unita Sanitarie Lokale (USL). Pro USL werden zwischen 50.000 und 200.000 Einwohner betreut.“ (ebd.)
Man kann sich also vorstellen, was in solchen USL (= Krankenhaus, Notfallambulanz oder auch nur Ordination) los ist, wenn auf einmal massenhaft Leute krank werden.
„37,5 Prozent der Kosten werden mit Steuergeldern finanziert. Weitere 40,8 Prozent stammen aus den Versicherungsbeiträgen, die komplett vom Arbeitgeber übernommen werden.“ (ebd.) Der Rest kommt aus Selbständigen-Beiträgen und Selbstbehalten – für Medikamente oder Behandlungen, die über die Grundsicherung hinausgehen.
Dieses italienische Gesundheitswesen funktionierte zu Zeiten der Scala Mobile bis 1992, als die Gehälter hoch waren, halbwegs gut. Erstens war die allgemeine Gesundheit besser, zweitens war der Altesdurchschnitt niedriger, und auch die Steuern und Abgaben deckten die Anforderungen des Gesundheitswesens besser ab.
Sogar 8 Jahre später, nach sehr großen Veränderungen in Sachen Arbeitsmarkt, individuelle Einkommen und Abgaben erhielt Italien ein großes Lob der WHO: „Trotz der regionalen Unterschiede stand das Gesundheitssystem Italiens im Jahr 2000 an zweiter Stelle der Weltrangliste der Weltgesundheitsorganisation … Italien gibt knapp 10 Prozent seines BIP für das Gesundheitswesen aus und liegt damit im OECD-Durchschnitt.“ (Wikipedia, Servizio Sanitario Nazionale)
Als die Finanz- und Eurokrise die Eurozone erschütterte, trat die Regierung Berlusconi zurück, nachdem sie bereits das erste von EU-Beamten in Brüssel verordnete Sparpaket unterzeichnet hatte. Ihm folgte der Wirtschaftswissenschaftler Mario Monti als Übergangspräsident. Obwohl er gar nicht gewählt, also nach der italienischen Verfassung gar nicht zu solchen einschneidenden Maßnahmen berechtigt war, setzte er weitere Sparmaßnahmen durch. Die betrafen auch das Gesundheitswesen: „Unter anderem sollen 50 der insgesamt 100 Provinzverwaltungen verschwinden; im Gesundheitswesen sollen mittelfristig 18 000 Krankenhausbetten wegfallen.“ (Tagesspiegel, 7.7. 2012)
„Wegfallen“ – das klingt ganz so, als seien diese Betten bisher überflüssig gewesen, ein reines Dekor sozusagen.
Weitere Einsparungen nahm sich 3 Jahre später die Regierung Renzi vor: „Italiens Gesundheitswesen wird milliardenschweren Sparmaßnahmen unterzogen. Einsparungen in Höhe von zehn Milliarden Euro stehen dem Gesundheitssektor in den kommenden fünf Jahren bevor. … Schon im kommenden Jahr will die Regierung 2,3 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben kürzen. Die Einsparungen werden jedoch nicht die Dienstleistungen für die Bürger belasten, versicherte Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin. … Maßnahmen seien auf lokaler Ebene mit Hilfe der Regionen geplant. Kleinere Krankenhäuser sollen geschlossen werden. … Der Präsident des Veneto, Luca Zaia, meinte, in seiner Region seien nach den beträchtlichen Einsparungen der vergangenen Jahre keine weiteren Ausgabenkürzungen mehr möglich.“ (Salzburger Nachrichten, 29.7. 2015)
Das solchermaßen verkleinerte Gesundheitswesen Italiens mit überlastetem Personal, das aufgrund der Kürzungen seit 2012 eigentlich schon seit Jahren an der Grenze seiner Kapazitäten operiert, setzte ähnlich wie die Ärzte und Spitäler in den USA auf Entlastung: Statt aufwendiger stationärer oder auch ambulanter Behandlungen verschrieben die Ärzte vor allem älteren Patienten und solchen mit chronischen Krankheiten lieber Medikamente und schickten sie nach Hause.
Damit schufen sie eine zusätzliche Verschärfung der Situation, weil diese Patienten waren wenig widerstandsfähig, als das Coronavirus bei ihnen anklopfte.
Fortsetzung (Bonus Track): Der Smog