LEHREN AUS UND BEOBACHTUNGEN ZU EINEINHALB MONATEN CORONA-PANDEMIE
Nach der Untersuchung aller Ursachen, warum Italien durch das Coronavirus besonders betroffen war – andere hingegen weniger –, ist es angebracht, Bilanz zu ziehen, was man dabei über Italien im besonderen, die EU im allgemeinen und unser Gesellschaftssystem überhaupt lernen kann. Dazu kommen noch andere Erfahrungen, die in den letzten Wochen und Monaten weltweit gemacht wurden.
1. Mobilität
Gefordert ist inzwischen eine uneingeschränkte Mobilität, die alle Gesellschaftsklassen umfasst, von Erntehelfern, die notfalls auch eingeflogen werden, über medizinisches Personal und Pflegekräfte, die täglich oder wöchentlich bedeutende Wegstrecken auf sich nehmen, bis hin zum gehobenen Management, das dauernd rund um den Globus von Betriebsbesichtigungen zu Konferenzen jettet, um in der Konkurrenz bestehen zu können.
Zur beruflichen Mobilität kommt die Freizeit-Mobilität. Ständig mit Verlusten kämpfende Fluggesellschaften unterbieten sich gegenseitig, um ja möglichst viele Urlauber auf sich zu ziehen, die ans Meer, auf Inseln, möglichst weit weg von zu Hause, an besonders exotische Flecken oder in gerade aktuell gehypte Ferienparadiese fliegen wollen. Irgendwo an den nächsten Schotterteich oder eine geruhsame Sommerfrische im nächstgelegenen Erholungsgebiet – das war einmal, ist etwas für notorische Loser oder Mindestrentner.
Diese ganze Mobilität hat hohe gesellschaftliche Kosten, was Energie, Lärm und Umweltverschmutzung angeht. Aber sie stellt inzwischen wichtige Sektoren der Wirtschaft: Flughäfen, Häfen, Kreuzfahrschiffe, Fluglinien, Transportunternehmen, Reisebüros, und die Industrie, die diese Flugzeuge, Schiffe und Nutzfahrzeuge herstellt.
Es wird sich herausstellen, wie weit und wie lange sich dieses Herumschieben von Arbeitskräften in CV- und Nach-CV-Zeiten fortsetzen läßt. Erntehelfer einzufliegen kommt auf die Dauer teuer, und läßt vielleicht wieder manche Lebensmittel vom Speiszettel der Normalsterblichen verschwinden. Die Lockdowns haben gezeigt, wieviel Reisetätigkeit sich durch Videokonferenzen und Chats vermeiden und die Betriebsführung dadurch verbilligen läßt. Und der Urlaub und die Zweitwohnsitze am Meer – die Zeit wird weisen, wer sich dergleichen Luxusbedürfnisse überhaupt noch leisten kann.
Alle Sektoren der Mobilitäts-Industrie sehen einer Schrumpfung entgegen, vor allem der Flugverkehr. Damit geht Zahlungsfähigkeit verloren, und die wird sich wiederum in geringerem Berufs- und Urlaubsverkehr niederschlagen, usw. usf.
2. Auslagerung von Produktion
Die Chinesen von Prato, die verlorengegangene Produktion in abgewandelter Form nach Italien zurückbrachten, stellen die Ausnahme dar. Auch italienische Firmen haben, wie viele andere auch, Produktion in ehemals sozialistische EU-Staaten und nach Fernost, vor allem China verlagert.
Sie taten das, genauso wie die Betriebe in anderen Staaten der EU, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Da machen die niedrigeren Lohnkosten und geringeren Umweltauflagen die höheren Transportwege wett, und man hat dann eben, wenn eine Pandemie ausbricht, keine Schutzausrüstung, weil die Masken, Anzüge, Handschuhe usw. bereits seit einiger Zeit von der anderen Seite der Erdhalbkugel geliefert werden. (Oder, im konkreten Fall, nicht geliefert werden, weil dort auch alles stillsteht.)
Der Bundesnachrichtendienst hat die deutsche Regierung gerügt, wie sie das denn hätte zulassen können, so wichtige Dinge im Ausland herstellen zu lassen?
Solche Gesichtspunkte waren aber der deutschen wie der restlichen europäischen Politik in den letzten Jahrzehnten völlig fremd. Das ist auch interessant angesichts der Tatsache, daß wegen CV ein Riesen-NATO-Manöver an der Ostfront der EU abgeblasen wurde. Säbelrasseln gegen Rußland – ja immer! Aber für den Kriegsfall medizinische Ausrüstung zu lagern – nein, an so etwas wurde nirgends gedacht, in keinem NATO-Staat.
(Man merkt daran, wie wenig die NATO-Staaten und ihre Medien an die von ihnen selbst verbreitete Propaganda über die Aggressivität Rußlands glauben – sie sind offensichtlich ganz sicher, daß die Russen tatsächlich nie in die EU einmarschieren werden.)
Wenn immer mehr und mehr Produktion nach Fernost verlagert wird, wie kommt dann eigentlich das vielbeschworene Wachstum zustande? Woher die Sicherheit, daß die Produktion dort erfolgt, der Profit dazu aber hier anfällt?
In Zeiten wie jetzt, wo nicht nur der Personentransport, sondern auch der Warentransport stockt, stellt sich diese Frage mit besonderer Deutlichkeit. Wenn der Salto mortale der Ware, ihr Verkauf, ganz woanders stattfindet als dort, wo sie hergestellt wird, so hat das unter anderem das Risiko, daß mit dem Transport etwas nicht hinhaut. Das zweite Risiko ist, daß die Zahlungsfähigkeit auf dem anvisierten Markt flöten geht. Das ist etwas, was sich in der ganzen EU, und besonders in Italien abzeichnet. Die Coronavirus-Krise in Europa könnte gut zu einer Absatzkrise in China führen. Und erst recht zu einer Pleitewelle derjenigen europäischen Betriebe, die bisher ihr Geschäft mit Ware Made in China gemacht haben.
In manchen Staaten werden Überlegungen laut, bestimmte Produktionen wieder zurück ins eigene Hoheitsgebiet zu holen. Da ist wieder die Frage: Wie? – immerhin handelt es sich ja um die Freiheit des Eigentums und die Akkumulationsfähigkeit des heimischen Kapitals, die die Verlagerung nach China veranlaßt haben.
3. Spektakel, Unterhaltungsindustrie
Die Unterhaltungsindustrie bewegt ziemliche Kapitalien, und sie bewegt sich immer mehr in Richtung Spektakel: Großveranstaltungen aus Sport, Kultur, Musik und sonstige Events aller Art bescheren den Veranstaltern hohe Einnahmen, die allerdings durch immer höhere Sicherheits-, Logistik- und Werbeausgaben, Gagen, Versicherungskosten und weiteres geschmälert werden. Deswegen bemühen sich die Akteure dieser Spektakel, noch mehr Menschen anzuziehen, denen sie das Live-Erlebnis verschaffen, und zusätzlich durch Fernseh- und Internet weitere Einnahmen zu lukrieren: Größer, lauter, bunter, mehr, höher – in diesen Superlativen versuchen sich Unternehmen aus Kulturindustrie und Sport über Wasser zu halten.
Interessant ist auch die andere Seite: Warum lassen sich so viele Leute in diesen Strudel hineinziehen, oder: Was macht die Attraktivität dieser Großveranstaltungen aus?
Es muß etwas Ähnliches sein, was in sozialistischen Staaten früher die Massen für Paraden und andere Demonstrationen der Einheit zwischen Staat und Volk auf die Straße gebracht hat: Das Gefühl, wo dazuzugehören, mit vielen Gleichgesinnten an etwas teilzuhaben, der Isolation zu entkommen. In der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ist dieses Gefühl der Einheit um so wichtiger, weil es in Kontrast zu den täglichen Erfahrungen steht, wo man ständig untergebuttert und an seine Macht- und Bedeutungslosigkeit erinnert wird.
Außerdem übertönt dieses Laute und Grelle der Spektakel die Töne, die sich im Inneren der Menschen immer wieder melden: Kann ich meine Miete weiter zahlen? Liebt mich mein Partner noch? Verläßt er/sie mich womöglich bald? (Das hat durchaus auch was mit der Miete zu tun, weil allein ist die dann gar nicht mehr zu stemmen.) Habe ich meinen Job nächstes Jahr/ nächsten Monat noch? usw.
Existenzielle Ängste, was ist das?! Heute jubeln wir, feiern wir, saufen uns zu, erfreuen uns am Sieg unserer Mannschaft oder dem Konzert unseres Lieblings-Schlagersängers.
All diese Veranstaltungen sind auf der einen Seite im System von „Brot und Spiele“ wichtig für das Funktionieren der Klassengesellschaft, aber sie stellen auf der anderen Seite eine Art Zusatzveranstaltung dar, bedienen wie Alkohol und Drogen das Luxusbedürfnis des Sich Zu- oder Wegtörnens und müssen aus irgendeiner Art von Surplus-Produktion finanziert werden.
Heute sind diese Veranstaltungen alle gestoppt wegen Ansteckung, aber sie werden in Zukunft überhaupt sehr heruntergefahren werden, weil auch hier der lange Stillstand auf den Umstand hingewiesen hat, wie überflüssig sie eigentlich sind, und daß die Veranstalter nie mehr mit den Besucherzahlen wie bisher rechnen können.
4. Die gesellschaftliche Reproduktion
Jede Gesellschaft, ob Stämme im Urwald, mittelalterliche Fürstentümer, kapitalistische oder sozialistische Wirtschaft läßt sich im ökonomischen auf die 3 Haupt-Gebiete reduzieren: Produktion-Distribution – Konsum.
Unsere heutige Gesellschaft, der moderne Kapitalismus, die globalisierte Marktwirtschaft, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß an einem Ende der Welt produziert wird, was am anderen konsumiert wird. Die Distribution, vermittelt über Transport, Logistik, Lagerung, nicht zu vergessen Wechselkurse und Zahlungsverkehr, macht einen im Vergleich zu anderen Gesellschaften unverhältnismäßig großen Teil der gesellschaftlichen Tätigkeit aus. Das gilt nur für den Fall, wenn man die ganze menschliche Gesellschaft betrachtet.
Nimmt man aber kleinere Einheiten, also einzelne Staaten, so stellt sich ihre Lage so dar, daß die Bewohner von vielen von ihnen fast nichts mehr produzieren, was sie oder andere brauchen. Ihre Mitglieder können ihren Lebensunterhalt nur bestreiten und ihren Konsum nur vollziehen, indem sie sich entweder als Transitland oder auf andere Art Dienstleister für die Distribution nützlich machen, oder bei der weltweiten Freizeitindustrie mitmachen.
Letztere – also Tourismus aller Art – stellt wirklich eine Besonderheit unserer Gesellschaft dar, und sie gehört damit in die Sphäre der Luxusbedürfnisse – also derjenigen Bedürfnisse, die entbehrlich sind, wenn Not herrscht und man jeden Groschen umdrehen, oder jeden Grashalm verwerten muß.
Nach monatelangen Shutdowns mit allen Nebenerscheinungen stellt sich heraus, daß diejenigen Staaten, die produzieren, weitaus besser aufgestellt sind als andere, denen ein guter Teil ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlage abhanden kommen könnte.
5. Messegelände
In der Coronakrise wurden überall hektisch Messehallen zu Notfallkrankenhäusern umgebaut. Es stellt sich heraus, daß fast jede größere Stadt über so etwas verfügt.
Man muß sich das bewußt machen: In Zeiten steigender Obdachlosigkeit, wo immer mehr Menschen unter Brücken, in Tunnels und in Notquartieren hausen, stehen große Objekte herum, die den größten Teil des Jahres leerstehen. Nur wenige Städte schaffen es, einen halbwegs durchgehenden Messebetrieb auf die Beine zu stellen. Bei den anderen bleibt der Wunsch der Vater des Gedankens. Diese Hallen, Zufahrten, Parkplätze und Parkhäuser wurden erstens gebaut und müssen zweitens gewartet werden – mit welchem Geld, so fragt man sich? – während gleichzeitig für Kindergärten, Pensionen oder Sozialhilfe immer zu wenig da ist.
Sie sind Denkmäler dessen, daß in unserer Gesellschaft absurde Ausgaben getätigt werden, während die wirklichen und breite Bevölkerungsschichten betreffenden Bedürfnisse nur sehr bedingt zählen und bedient werden.
6. Medizin im Kapitalismus
Zur Medizin und dem Gesundheitswesen haben wir viel gelernt: Erstens, und das ist wirklich bemerkenswert, daß Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Handschuhe offenbar in ganz Europa als höchst überflüssige Anschaffung betrachtet wurden, bevor das Coronavirus auftauchte. Einfache Hygiene-Artikel waren nirgends lagernd, werden in Europa kaum mehr hergestellt und es galt als höchst wirtschaftlich und schlau, sie vom anderen Ende des Globus zu beziehen.
Generell wurde in den letzten Jahres vieles, was Kranke brauchen, um gesund zu werden, als hinausgeschmissenes Geld betrachtet. Krankenhausbetten, die für den Fall zur Verfügung stehen, daß Menschen krank werden und deswegen dort hineingelegt werden müssen, wurden von Rechnungshöfen und sonstigen, teilweise privaten Evaluierern als eine Art Hotelbetten betrachtet, die so und so viel Tage im Jahr ausgelastet sein müssen.
Durch das Internet und auch die offiziellen Medien geistern Expertenmeinungen, die feststellen, man soll doch ruhig ein paar Leute sterben lassen, das sei normal, man könne nicht alle retten, und die Gesunden kommen schon durch. Diese Leute treten auch mit onkelhafter Gestik, als Fachleute zur Vermeidung von Panik auf, sie sind gütige Beruhiger, macht euch doch keine Sorgen, euch erwischt es eh nicht, sondern die anderen!
Besonders befeuert werden sie von schwedischen Gesundheitspolitikern, die stolz auf ihre Bevölkerung verweisen, die das Coronavirus besser überstanden hat als diejenige anderer Länder. Eine gesunde Nation, sapperlot!
Man fragt sich angesichts dieser Meldungen, warum wir eigentlich überhaupt Krankenhäuser und Ärzte haben? Im Grunde wird durch diese Sichtweise das gesamte medizinische Wissen entwertet, und die Heilkunst zu einer Art gesellschaftlicher Überempfindlichkeit stilisiert, wenn sie Kranke gesund machen oder vor dem Sterben bewahren will.
Diese Auffassung existierte sicher bereits vor dem Auftreten des Coronavirus, aber sie ist zweifelsohne populärer geworden bei Teilen der Bevölkerung, die nicht erkrankt sind und deren Einkommen durch die seuchenpolitischen Maßnahmen gefährdet ist.
Eine Art von Unterscheidung tritt auf, ein bekennendes Fordern nach Selektion, das nicht mehr (nur) zwischen Inländern und Ausländern, sondern zwischen Gesunden und Kranken eine Grenze zieht. Das „Wir“ der Braven und Fleißigen, die nicht rauchen, keinen Ballermann machen und sich um ihre Gesundheit kümmern, bläst ins Jagdhorn gegen die Alten, Schwachen, Drogensüchtigen usw. usf., die eigentlich als unnötiger Ballast bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgeschüttelt werden sollten.
7. Umwelt
Daß die Umwelt in einem schlechten Zustand ist und der Klimawandel zu einem guten Teil hausgemacht ist, war vor der Coronakrise das Thema Nr. 1, es gab FFF-Demos und viele Verantwortliche runzelten die Stirn, wie man denn den CO2-Ausstoß verringern und den Planeten retten könnte. Man dachte an die Natur, die Landwirtschaft, die Naturkatastrophen, Dürre und Waldbrände, die Grundlagen der Ernährung, also sehr allumfassende und auf die Natur bezogene Besorgnisse und Maßnahmen.
Aber inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Bedingungen, unter denen viele Menschen leben, die Brutstätte von Krankheiten sind, und nicht nur in Hinterindien, wo es kein sauberes Wasser gibt, sondern in den Metropolen industrialisierter Staaten, in der Lombardei und in New York. Der Smog, beengte Wohnverhältnisse, veraltete Infrastruktur und eine moderne Armutsmedizin, die die Menschen mit Antibiotika, Tranquilizern und Schmerzmitteln ruhigstellt, haben sich als die wirklichen Krankmacher herausgestellt, die das Virus nur für alle sichtbar gemacht hat.
Die ganze Umwelt-Debatte ist ein wenig aus der Atmosphäre, den Ozeanen, Urwäldern und Wüsten, dem Geschrei um gefährdete Tierarten, Pflanzen und Inseln in den Alltag des Hier und Jetzt zurückgekehrt: Worum geht es eigentlich beim Thema „Umwelt“? – um die Menschheit, die Zukunft, das Klima? – oder vielleicht zunächst einmal darum, wie in den Metropolen des Kapitals gelebt und gestorben wird?
8. Energie
Sehr betroffen von der Corona-Krise ist die Energiewirtschaft: Die eingeschränkte Mobilität und das Ruhen vieler wirtschaftlicher Tätigkeit läßt den Ölpreis abstürzen, wird aber auch viele Anbieter erneuerbare Energie in Schwierigkeiten bringen, weil auch sie mit der sinkenden Nachfrage und höheren Herstellungskosten zu kämpfen haben.
Wie die Fracking-Industrie und die darauf aufbauende Weltpapierspekulation aus diesem Wellental herauskommen und der Streit um North Stream und Ukraine-Gastransit weitergehen wird, ist unklar.
Das
9. Wachstum
wird jedenfalls in nächster Zeit nicht mehr so richtig flutschen.
Vielleicht kommt jetzt nach Null- und Negativzinsen das Null- und Negativ-Wachstum und die Prognosen werden sich darin überbieten, geringeren oder höheren BIP-Rückgang zu prophezeien.
Was das für die aufgehäuften Schuldenberge bedeutet, muß sich auch erst herausstellen.
Kategorie: Gesundheit
Die neue Pandemie III – Finale
ÜBER DIE BEWÄLTIGUNG UND NACHBEWÄLTIGUNG DES CORONAVIRUS
Welche Maßnahmen waren richtig und wichtig zur Eindämmung der Ausbreitung des Erregers?
Welche Versäumnisse werden jetzt Thema in der öffentlichen Debatte?
Was wir über das Virus wissen oder nicht wissen – all das eröffnet sicher noch ein weites Feld in der öffentlichen Meinung, nicht zu vergessen Fake News von offizieller und nicht offizieller Seite.
Überlegungen zum Coronavirus – 7.: Smog
WARUM ITALIEN? – TEIL 7
Zu den bisherigen Vermutungen, warum es Italien so erwischt hat,
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
haben sich inzwischen in den Medien weitere gesellt: Fußballspiele der UEFA (Atalanta Bergamo gegen Valencia), und der Smog, der in den Industrieregionen der Poebene ähnlich wie in Chinas Coronavirus-Zentrum Wuhan herrscht.
Während das Fußballspiele unter Großveranstaltungen fallen, überall stattfinden und bestenfalls die besondere Konzentration in Bergamo erklären können, ist die Sache mit dem Smog weitere Überlegungen wert.
1. Smog in London
Als klassisches Land des Smogs, wo der Begriff (Rauch+Nebel) erfunden wurde, gilt Großbritannien, speziell London. Die großen Smog-Wellen, die die Sterblichkeitsrate in die Höhe schießen ließen und teilweise das öffentliche Leben lähmten, gingen außer dem Nebel auf die Kombination von Kohleheizungen und mit Kohle betriebenen Kraftwerken auch auf den wachsenden Straßenverkehr zurück. Dabei spielte eine wichtige Rolle, daß in London nach 1945 die Straßenbahnen durch Busse ersetzt worden waren.
Die „Smogkatastrophe von 1952“, die über 4.000 Menschen das Leben kostete, wird so beschrieben:
„Am Abend des 5. Dezember 1952 verdichtete sich plötzlich der Nebel … In den folgenden Tagen war es sogar für Fußgänger unmöglich, sich zurechtzufinden. Viele sonst ortskundige Menschen verirrten sich. Autofahren war unmöglich, selbst wenn jemand mit einer Lampe dem Auto voranging. … Der Smog wurde so dicht, dass die Sicht fast auf »Null« zurückging. Augenzeugen berichten, dass Menschen, die an sich herab blickten, alles, was unterhalb ihrer Taille war, nicht sehen konnten … Der Smog drang auch in die Gebäude ein, so dass Kino- und Theatervorführungen abgesagt werden mussten, weil Leinwände oder Bühnen aus dem Zuschauerraum nicht mehr zu sehen waren. Andererseits hätten aber auch die Menschen den Weg dorthin nicht mehr gefunden.“ (Wikipedia, Smogkatastrophe 1952)
Ab Mitte der 50-er Jahre wurden daher Gesetze für saubere Luft erlassen und sonstige Maßnahmen gesetzt, um die Luftqualität zu verbessern. Unter anderem begann damals ein schrittweiser Wechsel von dem klassischen Energieträger Kohle zu den zumindest vom Standpunkt der Luftverschmutzung „saubereren“ Energieformen Atomkraft, Erdöl und Erdgas. Das Heizen mit Feststoff-Öfen aller Art wurde untersagt. Großbritannien war führend in Filtertechnik für Kohlekraftwerke, bis sich herausstellte, daß auch die Verflüssigung von Schadstoffen das Problem nur auf eine andere Ebene verlagerte.
Heute gilt das Smog-Problem in Großbritannien als gelöst, was nicht heißt, daß in London inzwischen reine Luft wäre. Aber die Schäden, die inzwischen noch auftreten, werden zumindest von den Gesetzgebern als gesellschaftlich tragbar eingestuft.
Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Londoner Luft – und der in anderen britischen Großstädten – war sicher die großflächige Stilllegung der Kohleförderung im UK. Damit wurde die Kohle als Verschmutzungsfaktor an den Rand gedrängt.
Ähnliche Entwicklungen gab es in anderen Regionen Europas, wo klimatische Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Zunahme von Industrie und Verkehr Smogprobleme und infolgedessen ein Ansteigen der Atemwegserkrankungen verursachten. Zuletzt ist die Problematik als „Feinstaub-Belastung“ rund um den Dieselskandal wieder in den Medien breitgetreten wurden.
2. Smog in China
China besitzt auf seinem Territorium nur einen einzigen Energieträger, nämlich Kohle. Deshalb baute sowohl die in den 50-er Jahren einsetzende Industrialisierung als auch die Beheizung der Städte – mit Fernwärme – auf Kohlekraftwerken auf.
Solange geplante Industriestädte auf der grünen Wiese erbaut und mit den vorgesehenen Fabriken und Kraftwerken versehen wurden, gab es kein Problem der Luftqualität. Selbst wenn sie einmal nicht so toll war, nahmen das die Betroffenen mit Gelassenheit, und es ging bald wieder vorbei.
Man darf nicht vergessen, daß die chinesische Bevölkerung bis hoch in die 80-er Jahre sehr immobil war. Wohnorte und Arbeitsplätze wurden zugeteilt und das System der Lebensmittelmarken verhinderte unbegründete Ortsverlagerungen. So spielte auch der Verkehr keine besondere Rolle als Umweltbelastung. Über Land fuhr man – sofern es einen guten Grund gab, wie Studium oder Beruf – mit Zügen. In der Stadt dominierte das umweltfreundliche Fahrrad.
Diese idyllischen Verhältnisse änderten sich, als die Reformen in Richtung Marktwirtschaft begannen. Chinas Städte wuchsen schnell und unkontrolliert an. In den Vorstädten entstanden informelle Viertel, die mit Kohleöfen heizten. Der Verkehr nahm zu, die Privatautos begannen, die Straßen der Städte zu verstopfen. Sogar im öffentlichen Verkehr stiegen viele auf Busse um, weil die überall hinfahren konnten, wo es keine Bahnverbindungen gab.
In der allgemeinen Euphorie des Fortschritts und der plötzlich gewonnenen Bewegungsfreiheit wurden lange keine Maßnahmen gesetzt, und die Luftverschmutzung stieg und stieg. Die Leute setzten Masken auf und zuckten mit den Schultern. Die Behörden hatten Wichtigeres zu tun, und bald nach der Jahrtausendwende war China nahe den Londoner Zuständen von 1952, nur in mehr als 10 Städten gleichzeitig. Aufgrund der Größe des Problems hatte das sogar weitergehende Folgen:
„In China befinden sich nach Aussicht der Weltbank zufolge sechzehn der zwanzig Städte mit der stärksten Luftverschmutzung der Welt. Für das Klima in der Region und darüber hinaus hat das gravierende Folgen, wie aktuelle Studien zeigen. … Einer … Studie zufolge hat dieser Effekt in einer nordchinesischen Bergregion die Regenfälle in den letzten fünfzig Jahren um ein Fünftel zurückgehen lassen.“ (Stern, 14.3. 2007)
Die Smogproblematik gefährdete also nicht nur die Gesundheit vieler Millionen Menschen, sondern trug auch zur Versteppung und Verwüstung des Nordwestens Chinas bei.
Die politische Führung setzte den Umweltschutz auf die Tagesordnung. Und gegenüber den 3 Hauptverursachern – Industrie, Verkehr, Heizung – wurden im letzten Jahrzehnt einschneidende Maßnahmen gesetzt: Seit Jahren baut China Wasser-, Wind- und Sonnenenergie aus. Die Schadstoff-Grenzwerte wurden gesenkt bzw. oft überhaupt erst eingeführt, Filteranlagen montiert und viele Industrien und Kraftwerke zugesperrt, die diesen Werten nicht genügten. Mit dem Abschluß von Erdgaslieferverträgen mit Rußland werden ständig Fernwärmekraftwerke von Kohle auf Gas umgestellt. Bei der Ansiedlung neuer Betriebe werden Umweltverträglichkeitsprüfungen gefordert, und Industrieanlagen sollen vermehrt aus Ballungsgebieten in weniger dicht besiedelte Gebiete verlegt werden.
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Hochgeschwindigkeitszüge dienen nicht nur der Beförderung der Mobilität, sondern auch dem Ziel, sie umweltverträglicher zu machen. China hat auch den Startschuß gegeben für die Elektroauto-Erzeugung, die die Verbrennungsmotoren ersetzen soll.
Das alles geht natürlich bei den Dimensionen dieses Staates und der Produktion, die dort stattfindet, nicht von heute auf morgen.
3. Wuhan
Die Existenz und die Größe Wuhans verdankt sich seiner Lage. Es liegt am Großen Fluß, dem wichtigsten Verkehrsweg Chinas, und an der Einmündung eines wichtigen Nebenflusses. So entstanden die 3 Städte, die Wuhan ausmachten, als Handelszentrum zwischen den gebirgigen westlichen Provinzen Chinas, die das Einzugsgebiet des Jangtse ausmachen und der Region um Shanghai, der großen Handelsmetropole.
Fast genauso wichtig wie die West-Ostverbindung ist für Wuhan die Nord-Süd-Verbindung: Durch Wuhan geht der historische Verkehrsweg, der Peking mit Kanton verbindet, also die wichtigste Nord-Süd-Verbindung Chinas. Deshalb wurde die erste feste Brücke über den Jangtse im Jahr 1957 mit sowjetischer Hilfe erbaut – in Wuhan.
Die zentrale Lage Wuhans ließ es auch im 20. Jahrhunderts im Krieg gegen die Japaner und zwischen Volksarmee und Kuomintang zu einer wichtigen militärischen Basis werden, sogar als mögliche neue Hauptstadt war es eine Zeitlang im Gespräch.
Die Vorteile der günstigen Lage ziehen aber auch Nachteile nach sich: Die Lage an den Flüssen (– außer dem Han-Fluß münden auch weitere kleinere Flüsse in der Nähe ein –) führte zu häufigen und sehr heftigen Überschwemmungen, sogar in jüngerer Vergangenheit. Die Überschwemmungsgefahr des Jangstekiang wurde durch den 3-Schluchten-Damm sehr verringert, aber er ist nicht das einzige Wasser, das sich Richtung Wuhan ergießt.
Außerdem führt die Lage am Wasser – außer Flüssen gibt es in und um Wuhan jede Menge Seen – zu einer hohen Luftfeuchtigkeit, die es im Zusammenhang mit der Luftverschmutzung in der kalten Jahreszeit zu einer idealen Brutstätte für Smog macht.
Der Einwohnerzahl nach gehört der Großraum Wuhan zu den großen Ballungszentren Chinas: In dem als „Innenstadt“ definiertem Gebiet leben 8 Millionen Menschen, im Großraum Wuhan mehr als 10,5 Millionen. Unter den Städten Chinas nimmt es nach Einwohnerzahl den 6. Rang ein.
„Die Stadt ist der industrielle Schwerpunkt Mittelchinas und hat die für chinesische Millionenstädte typische Mischung aus Produktionsbetrieben vieler Branchen, u. a. Motoren-, Schiffs-, Fahrzeug- und Maschinenbau, Zementfabriken, Textilwerke, chemische Werke, Papierherstellung, ein Aluminiumwerk sowie eine … Brauerei.“ (Wikipedia, Wuhan)
So kam zu dem Markt, von wo der Coronavirus angeblich seinen Ausgang nahm, ein vom Standpunkt des Virus ideales Milieu, wo sich erstens das Virus schnell ausbreiten konnte, aber zweitens in Wuhan Atemwegserkrankungen sowieso schon verbreitet waren, das Immunsystem der dortigen Menschen geschwächt, und deshalb auch eine durch erhöhte Medikamente-Konsum für dergleichen Infektionen anfällige Bevölkerung vorhanden war.
4. Die Poebene
a) Industrie
Eine der Voraussetzungen für die Industrialisierung Norditaliens war die bereits im Spätmittelalter erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft in verschiedenen norditalienischen Stadtstaaten. Um die Lebensmittelversorgung der Handelsmetropolen sicherzustellen, schufen diverse Fürstentümer bereits im 13. und 14. Jahrhundert einen freien Bauernstand, der mit der Zeit auch ein blühendes Handwerk außerhalb der Städte zustande brachte, sehr im Unterschied zu den süditalienischen Provinzen, wo der Großgrundbesitz bis heute vorherrscht und jede wirtschaftliche Entwicklung erstickte.
Diese Entwicklung wurde noch beflügelt durch die österreichische Herrschaft, wo das Urbarium und die Gewerbeordnung zur Zeit Maria Theresias beide Entwicklungen begünstigten.
Nach der Einigung Italiens baute die königlich-piemontesische Regierung auf diesen Vorbedingungen auf. Die Entscheidung, sich mit den Eliten Süditaliens nicht zu verscherzen und die dortigen Eigentumsverhältnisse zu bestätigen, besiegelte das Schicksal des Mezzogiorno, der seither als Arbeitskräfte-Reservoir für Norditalien dient.
Die weitere Industrialisierung Italiens geschah über den Schulterschluß des bisher vorhandenen Handelskapitals mit den genossenschaftlich organisierten Arbeiter- und Handwerkervereinen Norditaliens. Die Manufaktur und Industrie der Lombardei, des Piemonts und angrenzender Gebiete geschah teilweise von unten, mit Hilfe des traditionellen Bank- und Handelskapitals.
Der Faschismus schuf mit Staatshilfe einen weiteren Schub, und nach dem Krieg wurde die Industrie Norditaliens mit Hilfe des staatlichen Energie-Riesen ENI weiter ausgebaut.
„Die italienische Wirtschaft ist die sechstgrößte auf der Welt und lässt sich am besten mit der von Frankreich oder von Großbritannien vergleichen.“ (ItalienWissen)
(Die entsprechende Kulisse kann man in dem Film „Die rote Wüste“ betrachten.)
Abgesehen von den Textilfirmen sei erinnert an: Fiat, Pirelli, diverse Lebensmittel- und Sportartikel-Firmen, Möbel, usw. Die Berichterstattung der jüngeren Vergangenheit beleuchtet auch diesen Zustand der Wirtschaft der Lombardei:
„Die geschäftstüchtige Stadt Bergamo, bekannt für ihre Chemie- und Baumaterial-Produktion, den Stahlbau, sowie ihre Forschungsinstitute, ist in wenigen Wochen zum Lazarett Italiens geworden.“ (Tiroler Tageszeitung, 22.3. 2020)
b) Natur
Die Poebene ist eigentlich keine Ebene, sondern ein weitläufiges hügeliges Becken zwischen zwei Bergzügen, den Alpen im Norden und Westen und dem Apennin im Süden, des in Form eines Dreiecks in die Adria sozusagen entlüftet, was sich dort sammelt. Über den Nebel, der dort auftritt, kann man sich im Film „Amarcord“ von Fellini einen Eindruck verschaffen.
Die Luftfeuchtigkeit dieser Gegend war lange kein Problem, sondern sogar ein Faktor der Fruchtbarkeit, der die Landwirtschaft beflügelte.
Im Zusammenhang mit der Industrie wurde der traditionelle Nebel jedoch in den letzten Jahrzehnten zu einem bestimmenden Moment der Erkrankung der gesamten Bevölkerung der Poebene.
Das Bild aus Wikipedia zeigt das Ausmaß des Problems sehr deutlich:
Die Krankenhäuser der Lombardei, des Piemonts und Venetiens waren in den letzten Jahren bei der Behandlung der Atemwegs-Erkrankten an den Grenzen ihrer Kapazitäten:
„Letztes Jahr hätte niemand eine schwere Grippesaison erwartet. Und stattdessen: 8,5 Millionen Betroffene in Italien, über 740 schwerwiegende Fälle, 160 direkte und 10 000 indirekte Todesfälle, die mit Komplikationen der Atemwege wie Lungenentzündung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängen.“ (La Republicca, 26.9. 2018)
Zu diesen Zahlen und Fakten muß man noch hinzufügen, daß mit diesen sozusagen chronischen Erkrankungen, die sich aufgrund der Smog-Zustände ergeben, ebenfalls als chronisch zu bezeichnende Medikamenten-Abhängigkeiten ergeben, die nicht nur das Immunsystem, sondern durch ihre Nebenwirkungen angegriffene Organismen zusätzlich schwächen.
Der Smog Norditaliens ist also mit seinen direkten und indirekten Folgen als eine der wichtigsten Triebkräfte der CV-Pandemie Italiens zu betrachten.
Fortsetzung folgt: Fazit aus dem Bisherigen