Off topic: Eurokrise revisited

WIE GEHT ES EIGENTLICH PORTUGAL?
Man erinnere sich: 2011 stand Portugal am Rande der Zahlungsunfähigkeit und wurde mit den Stützungsfonds der EZB und Auflagen der Troika mit Kredit unterfüttert. 2014 vermeldeten die Medien erfreut, daß die Sache durchgestanden ist:
„Das 78 Milliarden Euro schwere Rettungsprogramm, das das hochverschuldete, krisengeschüttelte Land im April 2011 vor der Pleite bewahrte und seitdem finanziell am Leben erhielt, ist nun offiziell beendet.“ (Spiegel, 17.5. 2014)
Die Beendigung des Programms fand dergestalt statt, daß statt Troika und Rettungsfonds die EZB alleine die Stützung des portugiesischen Staatskredits – über Aufkauf von Staatsanleihen von den Banken – übernommen hat. Dadurch gelang es, die Zinsen niedrig zu halten und von der portugiesischen Regierung, den EU- und Euro-Verantwortlichen und den Medien wurde stolz verkündet, daß Portugal jetzt wieder aus dem Schneider ist und sich selbst finanzieren kann.
Der nächste „Erfolg“ nach dieser Übernahme durch die EZB – und eigentlich eine direkte Folge derselben – war der Bankrott von Portugals größter Bank, der BES.
Die BES wurde auch wieder mit Geld der EZB und Garantien seitens der Euroländer saniert bzw. teilsaniert. Darauf kommen wir weiter unten zurück. Das Wesentliche ist hier, daß alle möglichen Manöver eingesetzt wurden, um den portugiesischen Staatskredit nicht weiter zu belasten. Die Gelder, die unmittelbar zum Auffangen der Bank eingesetzt wurden, sind daher als eine verdeckte Schuld Portugals zu betrachten.
Dann gab es 2015 eine konzertierte Aktion zwischen der portugiesischen Regierung und der EU-Spitze::
„Portugal will dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einen Kredit vorzeitig zurückzahlen und sich damit vom Euro-Krisenland Griechenland abheben. »Wir werden dem IWF knapp zwei Milliarden Euro vorzeitig erstatten, um bei den Zinsen zu sparen«, sagte Finanzministerin Maria Luis Albuquerque … »Man braucht uns nur mit einem anderen europäischen Land zu vergleichen, das seine Zahlungen an den IWF nicht vorzieht, sondern sie aufschiebt«, sagte die portugiesische Ministerin.“ (Standard, 7.6. 2015)
Die Botschaft war klar: wenn eine Regierung wie die portugiesische unter Passos Coelho alles brav macht, was ihr von EU, EZB, Troika usw. angeschafft wird, so kann sie ihre Finanzen sanieren und kommt wieder auf Wachstums-Kurs. Das war sowohl für die portugiesische Regierung als auch für die EU-Spitze wichtig, um der griechischen Regierung den Ausnahmecharakter der Misere Griechenlands unter die Nase zu reiben und ihr die Alternativlosigkeit der geforderten Maßnahmen klarzumachen. Die portugiesische Regierung hingegen konnte sich nach innen und außen als vernünftig und erfolgreich präsentieren.
Es findet sich allerdings nirgends ein Hinweis darauf, daß dieser Kredit oder einzelne Tranchen davon tatsächlich vorzeitig zurückgezahlt worden wären. Es handelte sich um eine reine Ankündigung, die bereitwillig von allen Medien aufgegriffen wurde. Einen PR-Akt zur Bekräftigung der Austeritätspolitik, die Deutschland als einzig gangbaren Weg der Bewältigung der Eurokrise betrachtet und durchgesetzt hat. Eine politökonomische Lüge, eine der vielen, die rund um die Euro-Rettung verzapft worden sind und in Zukunft noch ausgestreut werden.
Nach innen hat sich diese Roßtäuscherei nicht bewährt und die konservative Regierung wurde einige Monate später abgewählt. Das ging nicht ganz glatt vonstatten, weil der damalige Staatspräsident unbedingt diese Regierung als Minderheitsregierung vereidigen wollte, unter Bruch der portugiesischen Verfassung.
Die inzwischen gebildete Mitte-Links-Regierung hat es sich zum Ziel gesetzt, den Sparkurs zu verlassen und die Wirtschaft durch öffentliche Investitionen zu stimulieren, ohne Erfolg. Sie hat aber auch keine großen Möglichkeiten dazu.
1. Die Verschuldung
Die Staatsverschuldung Portugals wird für Ende 2016 auf 136,23 % des BIP geschätzt, Tendenz steigend.
Weder gelingt es Portugal, ein Wirtschaftswachstum hinzukriegen, noch gelingt es, die Staatsschuld zu verringern. Alte Schulden müssen durch neue beglaubigt und laufende Kosten durch weitere Verschuldung gedeckt werden.
Die Schuld der öffentlichen Hand ist darüber hinaus bis heute nicht vollständig erfaßt. Es gibt keine verläßliche Aufstellung über die Schulden der Provinzen und Gemeinden und über deren Bedienung.
Dazu kommen die Schulden der privaten Haushalte – Hypotheken, Kreditkarten, Auto-Leasing – und die Schulden der Unternehmen bei Banken, untereinander und durch Anleihen. Der Crash der Espirito Santo Bank hat ahnen lassen, was sich da bei anderen Unternehmen an Außenständen angesammelt haben könnte. Leute mit gewissem Einblick in das Schuldenkarussell der EU – Notenbanker, Buchprüfer – schätzen, daß der gesamte in Portugal aufgehäufte Schuldenberg denjenigen Griechenlands beträchtlich übertrifft.
2. Der Banksektor
Alle Banken Portugals sind de facto zahlungsunfähig. Sie können nicht durch staatliche Geldspritzen aufgepäppelt werden, weil da würde sich ein Blinder auf einen Lahmen stürzen und der portugiesische Staatskredit wäre endgültig beim Teufel. Fusionierungen würden die Möglichkeit von Crashes nur erhöhen, wie das Beispiel der spanischen Bankia zeigt. Börsengänge sind nicht ratsam, auch hier kann Bankia als Negativbeispiel studiert werden. Sie muß inzwischen auch Entschädigungszahlen für die geprellten Kleinanleger locker machen, da spanische Gerichte entschieden haben, daß bei der Werbekampagne zum Zeichnen der Aktien gelogen wurde, was sich die Balken biegen.
Als erste große Entscheidung der neuen portugiesischen Regierung stand die Frage der Sanierung der Banif Bank an.
Sie wurde an die Bank Santander Totta so verkauft, daß der portugiesische Staat sämtliche unsichere Außenstände übernehmen mußte, was das Budget wieder mit einigen Milliarden Euro belastet hat und die Staatsschuld weiter erhöht. Und das, nachdem die neue Regierung mit dem erklärten Vorsatz angetreten war, kein weiteres Geld für Bankenrettungen zur Verfügung zu stellen, sondern stattdessen Konjunkturprogramme in Angriff zu nehmen.
Dazu kommen weitere Aderlässe rund um die Überreste der gekrachten Espirito Santo Bank, wie der davon abgetrennten „guten“ Bank Novo Banco, für die sich kein Käufer findet.
Falls sich einer findet, wahrscheinlich auch nur zu den gleichen Bedingungen wie bei Banif, daß der Staat nämlich die uneinbringlichen Kredite in der Höhe mehrerer Milliarden Euro übernimmt – die seinerzeit, bei der Aufspaltung in eine „gute“ und eine „schlechte“ Bank noch als einbringlich eingestuft worden waren.
Weitere Banken stehen in der Warteschlange …
„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld.“ (Karl Marx, Das Kapital, 24. Kapitel, S 782)

Pressespiegel El País, 17.8., kommentiert – „Verschuldungsrekord“


SPANIENS ÖFFENTLICHE SCHULD WÄCHST UND ERREICHT IHREN HÖCHSTEN STAND SEIT MEHR ALS EINEM JAHRHUNDERT

Bei den Verwaltungen sammeln sich Passiva im Wert von 100,9 % des BIP, nachdem im Juni weitere 18,549 Milliarden dazugekommen sind.
Die öffentliche Verschuldung stieg im Juni um 18.5 Milliarden, auf insgesamt 1,107 Billionen €, die höchste Schuld der Geschichte in absoluten Zahlen. In Prozent des BIP erreichte sie 100,9 %, eine Rekordzahl, die auch die im März erreichten 100,5 % übertrifft, als erstmals die 100 %-Grenze überschritten wurde. Seit dem Jahr 1909, als sich die Schuld nach historischen Aufzeichnungen auf 102 % belief, wurde kein höherer Stand als der des heurigen Juni erreicht.
Aus dem Wirtschaftsministerium wird darauf hingewiesen, daß diese Verschuldugsspitze auch saisonal bedingt ist, weil im Laufe des Jahres Wellenberge und -täler im Schuldenkalender durch die Ungleichzeitigkeit von Emissionen und Tilgungen entstehen. Die Tilgungsmonate sind Jänner, April, Juli und Oktober.
In Anbetracht dieser Faktoren beharrt das Wirtschaftsministerium darauf, daß das Anwachsen der Schuld sich im Rahmen der 2013 eingeleiteten Verlangsamung hält“ (!) „und bis Jahresende auf die im Stabilisierungsprogramm vorgesehenen 99,1 % sinken wird. Mit anderen Worten, der Prozentsatz sinkt bereits seit dem Vorjahr, vor allem dank der Steigerung des BIP, wodurch die Schuldenlast erleichtert wird.“
Das steht im Widerspruch dazu, daß im März die 100 %-Marke erreicht wurde. Auch sonst merkt man diesem Schönwetterabsatz an, daß hier mit aller Gewalt eine Niederlage in einen Sieg verwandelt werden soll.
Das sehen offenbar auch andere so:

„Zweifel bei der Kommission
Die Europäische Kommission stimmt dem nicht zu und glaubt nicht, daß die Regierung dieses Jahr die Schuldenquote um 3 Hundertstel senken kann. Ihren Berechnungen zufolge wird sie zu Jahresende bei 100,3 % stehen. Selbst in diesem Fall meint das Wirtschaftsministerium, daß die historisch niedrigen Finanzierungskosten die Schuld tragbar machen. Was darauf hinausläuft, daß die Interventionen der EZB auf den Finanzmärkten diese Passiva tragen, da dadurch die Rentabilität der Schuldverschreibungen in bisher unbekannte Minima gedrückt wurde. Bei kurzfristigen Titeln kommt es sogar zu Nullzinsen.
Die öffentliche Schuld Spaniens steigt seit 2009 unaufhaltsam an, um die 80 Milliarden pro Jahr. Damals erreichte sie 52,7 % des BIP, gegenüber den 39,4 des Vorjahres. Von da an ging es steil aufwärts, bis 2013 die 90 %-Marke überschritten wurde. Und heuer im März wurde erstmals die 100 %-Marke durchbrochen. Im April ging die Verschuldungsquote leicht zurück, um im Mai und Juni wieder kräftig anzusteigen.
Die Serie der Aufzeichnungen der spanischen NB beginnt 1994.“ (!) „Offizielle Statistiken von anderen Institutionen gibt es erst seit 1964.“ (!) „Wirtschaftswissenschaftler wie Francisco Comín haben jedoch Rekonstruktionsarbeit bezüglich der Verschuldung der öffentlichen Hand seit 1850 geleistet. Auf dieser Grundlage wird geschätzt, daß 1902 das letzte Jahr war, in dem die Verschuldung die 100 %-Marke überschritt. Bis jetzt.“
Die Gleichgültigkeit der spanischen Eliten gegenüber ihrer Wirtschaft, so wie sie sich in diesem Mangel an statistischen Daten ausdrückt, ist beachtlich. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, scheint die Devise zu sein.
„Im Gang der Geschichte Spaniens gab es 4 Möglichkeiten, die Verschuldung gegenüber dem PIB zu reduzieren. Erstens, mittels Privatisierungen, wie es die Regierungen von Gonzalez und Aznar gemacht haben. Inzwischen gibt es aber nicht mehr viel, was der Staat verkaufen könnte. Zweitens, durch Erhöhung der Privatverschuldung, die das BIP erhöhte und das Gewicht der Schuld verringerte, wie es während der Amtszeit von Aznar und Zapatero geschah.“
Das berühmte spanische „Modell“, sehr gerühmt und von vielen Experten studiert. Inzwischen ist diese Blase geplatzt:
„Derzeit ist jedoch die Privatverschuldung so hoch, daß es keinen Spielraum für diese Option gibt.
Die dritte Möglichkeit besteht darin, Banknoten zu drucken und Inflation zu verursachen, was von Madrid aus nicht mehr geht, da sich die diesbezügliche Macht in Frankfurt befindet, in den Händen der EZB. Die 4 Möglichkeit wäre, die Schuld nicht zu bezahlen, wie es z.B. Philipp II. machte. Eine Praxis, die die Zinsen in die Höhe treibt, sobald man sich wieder verschulden will, und die auch nicht von Spaniens Regierung abhängt, da wir zum Euroklub gehören. Hier gilt die Doktrin Deutschlands, die vom Süden Europas eine steuerliche Konsolidierung und innere Abwertung“ (?) „verlangt, um die Bilanzen ins Gleichgewicht zu bringen und die Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, was dann eine schrittweise Tilgung der Schuld ermöglichen soll. Ein Prozeß, der natürlich viel mühsamer und länger ist.“
Und auch nicht zur Reduktion von Schuld führt, wie die Entwicklung zeigt.
Ganz wohl ist dem Verfasser bei der Aufzählung dieser Formen der Schuldenbewältigung nicht, denn sie zeigen sowohl die Ohnmacht Spaniens als auch die Nutzlosigkeit der Austeritätspolitik vom Standpunkt der Schuldenreduktion.

„Während der letzten 12 Monate hat sich die Summe der Passiva der Öffentlichen Hand um mehr als 50 Mrd. erhöht, was einem jährlichen Anstieg von 4,7 % entspricht. Was die Arten von Schulden angeht, so schuldet die Staatskasse 80,43 Mrd. in kurzfristigen und 823,89 Mrd. in mittel- und langfristigen Anleihen, und 202,96 Mrd. in nichtkommerziellen und anderen Krediten.“
Hierunter fallen wahrscheinlich diverse Stützungskredite der EZB oder der Eurostaaten.
„Nach den Ziffern von Eurostat hat Spanien die zweifelhafte Ehre, den 6. Platz in der EU einzunehmen, was die Schuldenhöhe im Verhältnis zum BIP angeht, nach Griechenland (176,3 %), Italien (135,4 %), Portugal (128,9). Zypern (109,3) und Belgien (109,2 %).“
Worum sich der ganze Artikel nicht herumdrücken kann, ist die völlige Aussichtslosigkeit Spaniens, aus dieser Schuldenfalle wieder herauszukommen, gepaart mit blassen Hoffnungen, daß sich doch wieder Wachstum einstellen möge.

Die neueste Absurdität des Kreditwesens

NEGATIVZINSEN
In den guten alten Zeiten, die bis in die graue Vorzeit zurückreichen, – bereits in der Bibel wird das Zinsnehmen gegeißelt – verlieh der Geldbesitzer sein Geld, um damit Gewinn zu machen. Er stand immer schon auf dem Standpunkt, sein Vermögen als Kapital einzusetzen und damit G–G’ zu machen, als dieses Prinzip noch die extreme Ausnahme im wirtschaftlichen Treiben der Menschheit darstellte.
In den Anfangszeiten des Kapitalismus spielte das Geldkapital eine Art Geburtshelfer-Rolle: Erstens, weil es das Prinzip hochhielt, daß Vermögen ein Recht auf mehr Vermögen bedeutet, und es praktisch propagierte. Zweitens aber, weil es bereits Kapital angehäuft hatte und durch Verleihen und die produktive Verwertung dieses Leihkapitals in der Hand des Schuldners die gesamtgesellschaftliche Kapitalakkumulation voranbrachte.
Im durchgesetzten, siegreichen und weltweit agierenden Kapitalverhältnis schließlich übernahm das Finanzkapital die Rolle des Schmiermittels im Kreislauf der Kapitalverwertung und machte den technischen Fortschritt durch Konzentration der Kapitale überhaupt erst möglich.
Und heute?
Heute ist es zum Hüter des Geldes, des Maßes der Werte geworden, das sich in Zusammenarbeit mit den politischen Gewalten immer mehr vom Kreislauf des produktiven Kapitals abkoppelt. Und ein Phänomen hervorbringt, das im Grunde seine ganze bisherige Tätigkeit, quasi die Grundlage seiner Existenz auf den Kopf stellt: die Null- und Negativzinsen.
Nullzinsen
Schon die Nullzinsen sind eine Absurdität: Warum verleiht jemand überhaupt sein Geld, wenn er nichts dafür kriegt? Da könnte er es doch gleich in der Schatztruhe liegenlassen und die gut absperren. Es muß in der Natur des modernen Geldes, vor allem der des Buchgeldes, liegen, daß es eigentlich erst wirklich da ist, existiert, wenn es in die Zirkulation geworfen wird – ansonsten ist es eine bloße Zahl auf einem Server und kommt gar nicht zu einer Vergegenständlichung als Geld.
Umgekehrt verkommt das solchermaßen auftretende Leihkapital zu einem bloßen Zirkulationsmittel, das nur zwischen – ja was eigentlich? – vermittelt. Es ist kein Warentausch, der dadurch ermöglicht wird, daß hier Geld für Ware hingelegt wird. Wenn ein Staat Anleihen zu Nullzinsen ausgibt – und auch los wird, – so ist das eine Transaktion anderer Art, als wie wenn hier Gold, Leinen oder Schuhpasta über den Ladentisch gehen. In die gesellschaftliche Zirkulation im eigentlichen Sinne geht dieses Geld nämlich nicht ein, sondern es wird nur durch diese Transaktion als solches geboren, beglaubigt, und kann dann erst in die Niederungen der Warenzirkulation hinabsteigen.
Die Crux und das Ärgernis ist jedoch, daß dies nicht oder fast nicht geschieht, daß das solchermaßen in die Welt gesetzte Geld nicht in die Welt des Warentausches eingeht, sondern sich weiter in der exquisiten Sphäre des Finanzkapitals, der Notenbanken und der staatlich abgesicherten Kreditgarantien herumtreibt.
Negativzinsen
Noch komplizierter ist die Angelegenheit mit den Negativzinsen. Daß ein Schuldner sich gerne verschuldet, wenn er dafür bezahlt wird, ist nachvollziehbar. Aber was veranlaßt einen Gläubiger dazu, sein Kapital so zu plazieren, daß es dadurch weniger wird?
Die Antwort ist: es handelt sich um spezielle Arten von Gläubigern, die ein Produkt der seit Jahren währenden Weltwirtschaftskrise sind. Diese Krise wird gerne als „Finanzkrise“ bezeichnet, weil sie vom Finanzsektor ausgegangen ist. Dieser Begriff ist jedoch irreführend, weil er dem Irrtum Vorschub leistet, die Krise sei durch diesen Sektor entstanden und ließe sich durch entsprechende regulative Maßnahmen im Finanzgewerbe reparieren.
(Dieser Irrtum ist sehr produktiv und hat inzwischen eine umfangreiche Literatur hervorgebracht, die mit allen möglichen Hausmittelchen im Bauchladen den Kapitalismus reparieren möchte, damit das Geschäftemachen wieder flutscht.)
„20 % der Firmenanleihen, die die EZB kauft, haben Negativzinsen“ (El País, 5.8.)
Die EZB kauft seit einiger Zeit außer Staatsanleihen auch Firmenanleihen und Aktien auf. Sie ist einer dieser Gläubiger, die es in Kauf nehmen, für Leihkapital zu zahlen. Die Voraussetzung dafür ist, daß sie über unbeschränkte Zahlungsfähigkeit verfügen. Neben der EZB machen Ähnliches auch andere Notenbanken, wie die Fed oder die Bank of England. Bei der EZB hat diese Tätigkeit jedoch erstens einen bedeutenderen Umfang und zweitens eine demonstrative Absicht. Sie fordert damit die Firmen auf, sich durch Beschaffung von Fremdkapital fit zu machen für die Kapitalakkumulation. Über die Erleichterung der Kreditbeschaffung will sie die Unternehmen zum Gewinne-Machen anstacheln.
Das neuerlich Absurde an dieser praktischen Aufforderung ist, daß das Machen von Gewinn ja das Eigeninteresse der Firmen ist und es seltsam anmutet, daß sie dazu sozusagen durch Zuckerln animiert werden sollen. Über die tatsächliche, praktische Schwierigkeit, mit der das produktive Kapital konfrontiert ist, kann das Leihkapital jedoch nicht hinweghelfen. Die liegt nämlich im Wegbrechen von Märkten und der schrumpfenden Zahlungsfähigkeit der kleinen Leute begründet. Auch wenn sie die Stückkostenzahl durch Modernisierung senken oder innovative Produkte auf den Markt werfen, sind nicht genug Zielobjekte vorhanden, die ihnen das Klump auch abkaufen.
Es ist deshalb durchaus möglich, daß viele Firmen sich deshalb des Kreditgeschenkes zum bloßen Zweck der Konkursverschleppung bedienen, wovon wir in Zukunft auch noch hören werden.
Es gibt auch andere Gläubiger bzw. Käufer von Papieren mit Negativzinsen. Das sind diejenigen, die darauf hoffen, daß sie über Kursgewinne die Negativzinsen kompensieren. So verhält es sich mit denjenigen, die Papiere in Schweizer Franken oder Dollar oder sonstigen Fremdwährungen kaufen. Die hoffen auf ein weiteres Ansteigen der Fremdwährung gegenüber dem Euro, also Gewinne durch Wechselkursveränderungen. Man kann daraus folgern: die sind nicht allzu sehr überzeugt von der Performance des Euro. Man könnte überspitzt sagen, die gehen eine Wette gegen die europäische Einheitswährung ein. Eine besondere Freude haben die Euro-Hüter mit diesen Leuten nicht.
Dann sind da auch noch Leute, die dem vom EZB-Chef verkündeten Aufkaufsprogramm entnehmen, daß so ein Kauf eine relativ sichere Sache ist. Erstens steigert dieses Programm derzeit die Börsenkurse, sie machen also Gewinne durch Kauf und späteren Verkauf dieser Papiere an der Börse, deren Preis die Negativzinsen kompensiert. Zweitens, sollte dieser Effekt nachlassen oder aufhören, so können sie diese Papiere immer noch an die EZB abstoßen, bevor sie ihnen die Finger verbrennen.
Das Dumme an diesen ganzen Manövern ist auch hier wieder, daß zwar damit der Euro seinen Kurs und Wert halbwegs hält, aber ansonsten die ganze Bewegung innerhalb der bereits erwähnten geschlossenen Gesellschaft von Finanzkapital und Notenbanken verbleibt und keinerlei besonderen Effekt auf die nationale Kapitalakkumulation hat.
Konsumentenkredite
Die Kredite an den kleinen Mann, ob als Hypothekarkredit, Leasing-Vertrag oder Kreditkartenkredit, sind die einzigen Kredite, die auch die Zahlungsfähigkeit der Massen beflügeln. Bei ihnen werden aber kräftig Zinsen draufgeschlagen. Es ist also eine doppelte Lüge, wenn in den Medien verkündet wird, die „Häuslbauer“ täten sich über die Nullzinsen freuen. Erstens freut sich niemand darüber, sich verschulden zu müssen, um ein Dach über dem Kopf zu kriegen. Zweitens aber kommen diese Figuren ja gerade nicht in den Genuß der Nullzinsen, weil sie die einzige Sparte des Kreditgeschäftes sind, an der die Banken sich noch relativ sicher bereichern können.
Es ist also die wirklich absurde Situation eingetreten, daß gerade diejenigen Leute, die von ihrer Arbeitsleistung, also mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben – sei es als Lohnabhängige oder als Selbständige – nicht nur das Gros der Steuerleistung erbringen, sondern die einzigen sind, die den Banken sichere Gewinne einspielen. Das produktive Kapital hingegen erhält Streicheleinheiten in Form von Umsonst-Krediten, um wieder auf Akkumulationskurs zu kommen, und schafft es nicht, weil weiter unten immer weniger auf dem Gehalts- oder Ich-AG-Konto landet.
Und so ist es auch nicht mehr, daß jeder Zwerg Bumsti auf seine schöne Nase hinauf unbegrenzt Kredit erhält, wie das vor 2008 üblich war. Da sind sowohl die Kredithändler vorsichtiger geworden, vor allem, was gewisse Pleiteregionen betrifft, als auch die anvisierten Schuldner, die sich angesichts Verfall der Einkommenssituation oder der Wechselkurse oft sehr plötzlich von ihrer Immobilie oder ihrem Auto trennen mußten, und mit einem Haufen Schulden übrig blieben.
Man fragt sich, wie lange dieses seltsame Kredit-Karussell sich noch weiter drehen wird.