DER VÖLKISCHE CHARAKTER DER SELBSTBESTIMMUNG
Aus Anlaß der Unabhängigkeitsbestrebungen und Volksabstimmungen Kataloniens und des irakischen Kurdistan zeigen sich der nationalistische Charakter vieler „emanzipativer“ oder demokratischer Ideen.
Der wichtigste ist der der „Selbstbestimmung“. Unter dem Titel des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ wurde die Landkarte Europas nach dem ersten Weltkrieg neu gestaltet. Während den Regierunden der neuen Staaten beschieden wurde, daß sie jetzt „selbst“ bestimmen könnten, was auf ihrem Territorium geschieht, war auf der anderen Seite genau genau vorgegeben, innerhalb welcher außenpolitischen und ökonomischen Bahnen sich diese neue Einheit zu bewegen habe.
Ähnlich wurde nach dem Ende des 2. großen Waffenganges die Landkarte des ganzen Globus im Zuge der Entkolonialisierung neu gezeichnet, und neue Staaten geschaffen, mit „eigenen“ Regierungen, also echten und richtigen Herrschaften. Deren Unabhängigkeit reichte genau so weit wie der Preis der Rohstoffe, die sie auf dem Weltmarkt verkaufen konnten, oder die Kredite, die sie zur Einrichtung ihrer neuen Staatswesen erhielten.
Das ist völlig folgerichtig und keine Ungerechtigkeit und kein Mißstand, wie viele Freunde von Unabhängigkeitsbewegungen beklagen.
„Selbst“ gibt nämlich gar keinen Inhalt vor, sondern nur ein Verfahren, wie geherrscht und gehorcht werden soll. Die Inhalte der solchermaßen geschaffenen Gebilde, ihre Staatsräson, muß von woanders kommen: Aus dem Willen der neuen Eliten, im Konzert der Nationen auf allen Ebenen mitzuspielen und sich dabei auch möglichst zu bereichern, und aus der imperialistischen Konkurrenz der Nationen, die solchen Anliegen Möglichkeiten bietet und Grenzen setzt.
Es ist nur natürlich, daß die Eliten, die die Unabhängigkeit ihrer Ministaaten anstreben, ihren Anhängern Milch und Honig versprechen, während sie möglichst trachten werden, in Zukunft in ihre eigenen Taschen zu wirtschaften. Weder die katalanische Bourgeoisie noch der Barzani-Clan in Kurdistan haben ja vor, Kommunismus einzuführen. In beiden Fällen ist weiter Privateigentum und dessen kommerzielle Verwertung vorgesehen.
Sie versprechen nur, die Einkünfte „im eigenen Land“ zu halten und nicht an irgendwelche fernen Hauptstädte zu versenden. In wessen Händen sie dann bleiben, ist dann Frage des zukünftigen inneren Machtkampfes.
So weit, so schlecht.
Die Frage ist jetzt, warum so viele Linke diese Ambitionen unterstützen, anstatt sie zu bekämpfen.. Die katalanischen Anarchisten unterstützen den „Proces“ in Richtung Abspaltung, genau unter dem Titel „Selbstbestimmung“. Auch andere Linke in Europa geraten in gröbere Verlegenheit, wenn sie zu den Vorgängen in Katalonien und Kurdistan Stellung beziehen wollen. Gegner der Unabhängigkeit Kataloniens werden gerne als Faschisten bezeichnet und mit dem Franco-Totschläger erledigt.
Kritik an Privateigentum und staatlicher Herrschaft ist offenbar „out“, „Nation“ und „Volk“ sind „in“.
Da sind aber die Rechten alleweil glaubwürdiger, die haben nie anderes gefordert. Kein Wunder also, wenn ihnen die Herzen der Staatsbürger zufliegen.
Wer also Volk oder Nation nicht gehörig kritisieren will, der soll vom Faschismus schweigen.
Monat: September 2017
Desintegrationserscheinungen
KATALONIEN
Die katalanische Regionalregierung hat für den 1. Oktober ein Referendum über die Unabhängigkeit, d.h. die Abspaltung von Spanien angesetzt.
Während das seinerzeitige schottische Referendum mit Zustimmung der britischen Regierung durchgeführt wurde, geschieht das katalanische ohne die Erlaubnis der Zentralregierung in Madrid und verstößt damit gegen die gültige spanische Verfassung von 1978.
Die rechtliche und ökonomische Situation
Spanien wollte nach Francos Tod einen Neustart in Sachen Territorialverwaltung und Nationalitäten machen. Das Modell des „Regionalstaates“, für das sich die spanischen regierenden Eliten entschieden, unterscheidet sich vom Bundesstaat oder Föderalstaat zunächst in einem sehr wesentlichen Punkt: Es wird ausdrücklich festgehalten, daß die Zentralregierung aus eigenem Entschluß Hoheitsrechte abtritt. Eine Abstimmung über Unabhängigkeit ist nicht vorgesehen, ebensowenig wie ein Recht auf Austritt. Darin unterscheidet sich die spanische Verfassung von derjenigen der Sowjetunion und Jugoslawiens, in denen das Recht auf Austritt gewährt wurde, aber auch von derjenigen Großbritanniens.
Im Gegenzug für diese Klarstellung, wer letztlich das Sagen hat, werden den spanischen Provinzen in dieser Verfassung sehr viele administrative Zugeständnisse gemacht, unter anderem bezüglich ihrer Finanzierung. Spaniens autonome Provinzen dürfen Anleihen ausgeben. Diejenige, die den meisten Gebrauch davon gemacht hat, ist Katalonien. Mit 77,5 Milliarden Euro ist sie die mit Abstand höchstverschuldete Provinz, die ihre Schuld nur aufgrund eines von der Zentralregierung eingerichteten Liquiditätsfonds bedienen kann.
Was das verfassungswidrige Referendum betrifft, so erhebt sich die Frage, wer eigentlich abstimmen darf? In Katalonien leben viele Personen aus anderen Teilen Spaniens, da es in Katalonien Jobs gibt, die in Andalusien, Murcia, Extremadura und anderen Provinzen eher rar sind. Es ist zweifelhaft, daß diese Leute für die Unabhängigkeit stimmen werden. Außerdem ist es aus ähnlichen, also wirtschaftlichen Gründen von Rumänen, Ukrainern und anderen Osteuropäern, Südamerikanern, Nord- und Schwarzafrikanern, und ähnlichen vom Standpunkt des Unabhängigkeitsstrebens unsicheren Kantonisten bevölkert. Werden die von der Teilnahme ausgeschlossen, obwohl sie dort wohnen? Müssen alle, die abstimmen wollen, einen Katalanen-Nachweis erbringen, ähnlich wie im Film „8 baskische Nachnamen“ bis hin zu den Urgroßeltern? Im Falle der Unabhängigkeit, dürfen die Zuagroasten bleiben oder müssen sie gehen?
Die spanische Regierung wirkt rat- und hilflos. Der spanische König ebenfalls. Fährt er nach Katalonien, so riskiert er, mit Tomaten oder Ähnlichem beworfen zu werden.
Inzwischen soll verstärkt Polizei nach Katalonien verlegt werden. Aber zu welchem Zweck? Prügelnde Polizisten vor illegalen Wahllokalen hätten eine sehr schiefe Optik. Da überhaupt nicht klar ist, wer zu dem Referendum gehen wird, ist auch unklar, was da an Polizei oder Militär benötigt werden würde.
Außerdem ist auch gar nicht klar, ob alle Organe des Staates den Befehlen folgen würden, wenn es wirklich hart auf hart geht. Der Staat ist sich seines Gewaltapparates nicht sicher. Katalonien hat noch dazu eine eigene Polizei – aufeinander losgehende katalanische und spanische Polizisten würden dem Ruf Spaniens als Standort und als Tourismusdestination sehr schaden. Vor einem solchen Szenario hat auch die Bürgermeisterin von Barcelona kalte Füße und versucht sich mit allen Seiten möglichst gutzustellen.
Einfach zuschauen und warten, bis die katalanischen Nationalisten an ihren eigenen Widersprüchen scheitern, kann die Zentralregierung aber auch nicht. Das wäre ein zu deutlicher Souveränitätsverzicht und würde zum Zerfall Spaniens führen. Nicht einmal das illegale Referendum kann Spanien zulassen, weil damit hätte die Regierung das Ignorieren der spanischen Verfassung toleriert.
Nationalismus
Was bewegt eigentlich die katalanischen Politiker, und ihre offenbar zahlreiche Gefolgschaft, einen solchen Schritt anzustreben? Es ist der sehr einfache, sehr untertänige und gleichzeitig sehr aufmüpfige und militante Standpunkt, eine eigene Herrschaft zu wollen und die fremde abzuschütteln. Ähnliches bewegte die Führer der meisten Befreiungsbewegungen der 70-er Jahre. Damals gab es immerhin noch 2 Systeme, zwischen denen man wählen konnte. Heute ist es nur mehr die Marktwirtschaft, aber die soll doch gefälligst von rassereinen Häuptlingen verwaltet und verordnet werden, denen sich der selbstbewußte Bürger, der citoyen, froh und eifrig beugen kann!
Alle Begründungen, warum man weg will von Madrid, sind Scheinbegründungen, weil sie nur Bebilderungen des negativen Urteils über die Fremdherrschaft sind, das schon längst vorher und unabhängig von jeglicher Begründung feststeht. Wenn sich jemand z.B. über die vielen Steuern beschwert, die von Katalonien nach Madrid abgeliefert werden müssen, so lebt das von der Idee, daß jeder nach Madrid abgehende Euro sowieso hinausgeschmissenes Geld ist.
Diese fixe Idee ist ziemlich wasserdicht gegenüber jeder Argumentation in Sachen Vor- und Nachteile, weil sie das Heilige der eigenen Nation gegen jede Einmischung von außen hochhält und sich mit Erbsenzählerei gar nicht abgeben mag.
Man fragt sich, wie in Katalonien wohl die Fronten zwischen den Regionalpolitikern in Sachen pro und contra aussehen und wie viele Leute womöglich geteert und gefedert aus Katalonien vertrieben werden, falls die Unabhängigkeit konkrete Formen annimmt.
Genauso vorstellbar ist natürlich die andere Möglichkeit: daß die Sieger ihre Kollegen mit irgendeinem Amtl oder Gschaftl versehen, um sie damit auf ihre Seite zu ziehen.
Reaktionen von auswärts
Auch Brüssel und anderen Metropolen der EU ist eine gewisse Verlegenheit angesichts der katalanischen Umtriebe anzumerken. Irgendwie blicken alle peinlich berührt weg. Der EU-Kommissionspräsident Juncker wiederholt gebetsmühlenartig regelmäßig, daß ein unabhängiges Katalonien erst wieder um Aufnahme in die EU ansuchen müßte. Das kommt fast einer Ermunterung des Separatismus gleich: macht weiter so! Sehr passend ist darauf auch die Antwort des katalanischen Regierungschefs Puigdemont: Eine EU, die sogar den Beitritt der Türkei erwägt, wird Katalonien auf jeden Fall mit offenen Armen aufnehmen!
Angesichts des Schocks, den der Brexit bei der EU-Spitze ausgelöst hat, ist diese Pseudo-Coolness gegenüber Katalonien etwas seltsam. Sind sich die EU-Granden bewußt, was ein Austritt Kataloniens für die gesamte spanische Staatsschuld auslösen kann? Noch dazu, wo Spanien Garantiemacht der beiden Rettungsfonds ist, und als solche zweifelhaft würde, wenn die Bedienung der eigenen Schuld ins Wanken gerät?
Glauben alle, die EZB wirds schon richten?
Denken sie sich: lieber ein europageiles Katalonien als ein innerlich zerstrittenes Spanien?
Die spanische Regierung ist selber verwundert, wie wenig Rückendeckung sie aus Brüssel und Berlin erhält, obwohl sie es doch an Bravheit und EU-Treue nicht hat fehlen lassen.
Während niemand die Hände zusammenschlägt und sagt: Was fällt euch ein! – wird auch nirgends der Freiheitswille der tüchtigen und fleißigen Katalanen gelobt. Man findet keine verständnistriefenden Artikel in europäischen Medien.
Hinter deutschem Wahlkampf, nordkoreanischen Raketen, USA-Säbelrasseln und regelmäßigen Armutsreports geht die Auflösung Spaniens irgendwie unter.
Und in Spanien selbst? Der baskische Regierungschef Urkullu laviert und will es sich mit keiner Seite verscherzen. Mal sehen, denkt er sich offensichtlich. Vielleicht machen wir auch was in die Richtung, wenn es sich bewährt. Oder aber wir versuchen, uns unsere Nibelungentreue gegenüber Madrid irgendwie belohnen zu lassen.
Und so halten es auch andere spanische Politiker in Opposition und Regionen. Unverbindliches Zeug schwatzen, in alle Richtungen freundliche Gesichter machen und glauben, damit kann man sich dann an irgendeine Macht anschmiegen, die aus der Konfrontation als Sieger hervorgeht.
Oh Zeit, oh Sitten! Vor 100 Jahren war in Barcelona das Zentrum des internationalen Anarchismus.
Heute kräht nach der Vorstellung einer Gesellschaft ohne Staat und Herrschaft kein Hahn mehr …
Was ist eigentlich los in Syrien?
LANGE GESICHTER BEI POLITIKERN UND MEDIEN DER EU
Es ist auffällig, wie das Thema Syrien aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Sozusagen unter ferner liefen wird verkündet, daß Rakka und Deir-El-Zor in Kürze vom IS befreit sein dürften, daß andere islamische Kämpfer mit Hilfe der libanesischen Armee aus dem Grenzgebiet vertrieben worden sind, und daß das Kriegsglück sich ziemlich eindeutig auf der Seite des „Regimes“ und seiner Verbündeten befindet.
Die Politik „Assad muß weg!“, der sich die Politiker diverser EU-Staaten verschrieben haben, ist offensichtlich gescheitert. Der Versuch, um jeden Preis Einfluß in Syrien zu gewinnen, ist zwar noch nicht ganz aufgegeben, aber doch mehr oder weniger aussichtslos.
Die Medien versuchen sich auf die Gegebenheiten einzustellen. Der Verbleib Assads wird säuerlich kommentiert. Z.B. am Beispiel der syrischen Fußballmannschaft, die vermutlich – im Unterschied zur österreichischen – die WM-Qualifikation schaffen könnte:
„Die Mannschaft selbst sieht sich als »Mannschaft aller Syrer«, so betonen sie immer wieder. Fakt aber ist: Das Geld kommt aus Damaskus.“ (Die Zeit, 6.9. 2017)
Na so eine Überraschung! Wer hätte das gedacht! In Deutschland kommt das Geld vermutlich nicht aus der Hauptstadt, sondern die Fußballmannschaft wird aus Gelsenkirchen oder Freiburg im Breisgau finanziert … Oder gar aus dem Ausland?
Es gibt bittere Einsichten:
„Der UN-Beauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, rechnet damit, dass die IS-Hochburgen bis Ende Oktober allesamt gefallen sein werden. Laut Mistura sollte dann der politische Prozess beginnen, der nach einem Jahr zu Wahlen in Syrien führen sollte. Der syrischen Opposition wird von ihren internationalen Gesprächspartnern immer öfter und deutlicher beschieden, dass sie mit dem syrischen Regime unter Bashar al-Assad zusammenarbeiten müssen wird, will sie im Spiel bleiben.“ (Gudrun Harrer, Der Standard, 5.9. 2017)
Die Hisbollah geht gestärkt aus dem Konflikt hervor, was vor allem Israel höchst unangenehm ist. Auch die Golan-Höhen könnten wieder Thema werden, wenn in Syrien die Zentralregierung wieder fest im Sattel sitzt. Aus der Traum, daß die Israel mit Hilfe von Dschihadisten übernehmen könnte, als Kollateral-Nutzen aus dem syrischen Bürger- bzw. Söldnerkrieg. In solchen Fällen wäre die israelische Führung nämlich gar nicht heikel in der Wahl ihrer Verbündeten.
Wie schaut es aus mit der Türkei? Ihre Hoffnung, sich ein Stück aus Syrien herauszubrechen oder gar eine künftige syrische Regierung mitbestimmen zu können, verschwinden langsam am Horizont … Und nicht genug damit: die kurdischen YPG-Milizen werden nach wie vor von den USA unterstützt, sind die treibende Kraft bei der Eroberung von Rakka und können vermutlich auch in Zukunft, in einem befriedeten Syrien, mit weitgehendem Wohlwollen und weitreichender Autonomie seitens des „Regimes“ in Damaskus rechnen.
Abgesehen von den Ölgeschäften, die mit dem IS gemacht wurden, und der Beute aus der Plünderung Syriens bleibt als unterm Strich nicht viel übrig für den Sultan …
Rußland hat zwar einen Haufen Kosten gehabt, an Gerät, Geld und Menschenleben, aber es hat gezeigt, wozu sein Militär fähig ist und daß es eine Macht ist, an der keine andere vorbei kann.
Das ärgert die Politiker der EU und der USA gewaltig, weil es beweist ihre Schwäche als imperialistische Mächte. Chaos und Zerstörung, Mord und Totschlag zu stiften – das gelingt zwar ausgezeichnet. Aber dann eigene Agenten zu inthronisieren, die nach ihrer Pfeife tanzen, das bleibt ein frommer Wunsch. Entweder sie haben keine Macht, wie Aschraf Ghani in Afghanistan, und verursachen kostspielige Dauerbaustellen. Oder sie lassen sich nicht so kommandieren, wie sie es gerne hätten, – wie im Irak und in Ägypten. Oder aber, es kommt gar keine Regierung mehr zustande, wie in Libyen.
Und in Syrien ist nicht einmal der Sturz der alten Ordnung gelungen, alles nur wegen dieser Russen!
Die Entwicklung in Syrien beweist wieder einmal, daß der wahre Feind der westlichen Werte in Moskau sitzt. Der IS, Al Qaida und deren Terrorattentate, die diese westliche Wertegemeinschaft selbst herangezüchtet hat, sind dagegen Kleinigkeiten, so etwas wie Naturkatastrophen: tragisch, aber unabänderlich.
Daran merkt man wieder einmal: Die größte Gefahr für Leib und Leben der EU-Bürger sind nicht Terroristen oder andere Regierungen, sondern die eigene Herrschaft. Die verheizt nämlich eigene wie fremde Untertanen für ihre imperialistischen Ziele und jammert dann, daß sie die Fackel der Menschenrechte nicht überall hintragen kann.