NEGATIVZINSEN
In den guten alten Zeiten, die bis in die graue Vorzeit zurückreichen, – bereits in der Bibel wird das Zinsnehmen gegeißelt – verlieh der Geldbesitzer sein Geld, um damit Gewinn zu machen. Er stand immer schon auf dem Standpunkt, sein Vermögen als Kapital einzusetzen und damit G–G’ zu machen, als dieses Prinzip noch die extreme Ausnahme im wirtschaftlichen Treiben der Menschheit darstellte.
In den Anfangszeiten des Kapitalismus spielte das Geldkapital eine Art Geburtshelfer-Rolle: Erstens, weil es das Prinzip hochhielt, daß Vermögen ein Recht auf mehr Vermögen bedeutet, und es praktisch propagierte. Zweitens aber, weil es bereits Kapital angehäuft hatte und durch Verleihen und die produktive Verwertung dieses Leihkapitals in der Hand des Schuldners die gesamtgesellschaftliche Kapitalakkumulation voranbrachte.
Im durchgesetzten, siegreichen und weltweit agierenden Kapitalverhältnis schließlich übernahm das Finanzkapital die Rolle des Schmiermittels im Kreislauf der Kapitalverwertung und machte den technischen Fortschritt durch Konzentration der Kapitale überhaupt erst möglich.
Und heute?
Heute ist es zum Hüter des Geldes, des Maßes der Werte geworden, das sich in Zusammenarbeit mit den politischen Gewalten immer mehr vom Kreislauf des produktiven Kapitals abkoppelt. Und ein Phänomen hervorbringt, das im Grunde seine ganze bisherige Tätigkeit, quasi die Grundlage seiner Existenz auf den Kopf stellt: die Null- und Negativzinsen.
Nullzinsen
Schon die Nullzinsen sind eine Absurdität: Warum verleiht jemand überhaupt sein Geld, wenn er nichts dafür kriegt? Da könnte er es doch gleich in der Schatztruhe liegenlassen und die gut absperren. Es muß in der Natur des modernen Geldes, vor allem der des Buchgeldes, liegen, daß es eigentlich erst wirklich da ist, existiert, wenn es in die Zirkulation geworfen wird – ansonsten ist es eine bloße Zahl auf einem Server und kommt gar nicht zu einer Vergegenständlichung als Geld.
Umgekehrt verkommt das solchermaßen auftretende Leihkapital zu einem bloßen Zirkulationsmittel, das nur zwischen – ja was eigentlich? – vermittelt. Es ist kein Warentausch, der dadurch ermöglicht wird, daß hier Geld für Ware hingelegt wird. Wenn ein Staat Anleihen zu Nullzinsen ausgibt – und auch los wird, – so ist das eine Transaktion anderer Art, als wie wenn hier Gold, Leinen oder Schuhpasta über den Ladentisch gehen. In die gesellschaftliche Zirkulation im eigentlichen Sinne geht dieses Geld nämlich nicht ein, sondern es wird nur durch diese Transaktion als solches geboren, beglaubigt, und kann dann erst in die Niederungen der Warenzirkulation hinabsteigen.
Die Crux und das Ärgernis ist jedoch, daß dies nicht oder fast nicht geschieht, daß das solchermaßen in die Welt gesetzte Geld nicht in die Welt des Warentausches eingeht, sondern sich weiter in der exquisiten Sphäre des Finanzkapitals, der Notenbanken und der staatlich abgesicherten Kreditgarantien herumtreibt.
Negativzinsen
Noch komplizierter ist die Angelegenheit mit den Negativzinsen. Daß ein Schuldner sich gerne verschuldet, wenn er dafür bezahlt wird, ist nachvollziehbar. Aber was veranlaßt einen Gläubiger dazu, sein Kapital so zu plazieren, daß es dadurch weniger wird?
Die Antwort ist: es handelt sich um spezielle Arten von Gläubigern, die ein Produkt der seit Jahren währenden Weltwirtschaftskrise sind. Diese Krise wird gerne als „Finanzkrise“ bezeichnet, weil sie vom Finanzsektor ausgegangen ist. Dieser Begriff ist jedoch irreführend, weil er dem Irrtum Vorschub leistet, die Krise sei durch diesen Sektor entstanden und ließe sich durch entsprechende regulative Maßnahmen im Finanzgewerbe reparieren.
(Dieser Irrtum ist sehr produktiv und hat inzwischen eine umfangreiche Literatur hervorgebracht, die mit allen möglichen Hausmittelchen im Bauchladen den Kapitalismus reparieren möchte, damit das Geschäftemachen wieder flutscht.)
„20 % der Firmenanleihen, die die EZB kauft, haben Negativzinsen“ (El País, 5.8.)
Die EZB kauft seit einiger Zeit außer Staatsanleihen auch Firmenanleihen und Aktien auf. Sie ist einer dieser Gläubiger, die es in Kauf nehmen, für Leihkapital zu zahlen. Die Voraussetzung dafür ist, daß sie über unbeschränkte Zahlungsfähigkeit verfügen. Neben der EZB machen Ähnliches auch andere Notenbanken, wie die Fed oder die Bank of England. Bei der EZB hat diese Tätigkeit jedoch erstens einen bedeutenderen Umfang und zweitens eine demonstrative Absicht. Sie fordert damit die Firmen auf, sich durch Beschaffung von Fremdkapital fit zu machen für die Kapitalakkumulation. Über die Erleichterung der Kreditbeschaffung will sie die Unternehmen zum Gewinne-Machen anstacheln.
Das neuerlich Absurde an dieser praktischen Aufforderung ist, daß das Machen von Gewinn ja das Eigeninteresse der Firmen ist und es seltsam anmutet, daß sie dazu sozusagen durch Zuckerln animiert werden sollen. Über die tatsächliche, praktische Schwierigkeit, mit der das produktive Kapital konfrontiert ist, kann das Leihkapital jedoch nicht hinweghelfen. Die liegt nämlich im Wegbrechen von Märkten und der schrumpfenden Zahlungsfähigkeit der kleinen Leute begründet. Auch wenn sie die Stückkostenzahl durch Modernisierung senken oder innovative Produkte auf den Markt werfen, sind nicht genug Zielobjekte vorhanden, die ihnen das Klump auch abkaufen.
Es ist deshalb durchaus möglich, daß viele Firmen sich deshalb des Kreditgeschenkes zum bloßen Zweck der Konkursverschleppung bedienen, wovon wir in Zukunft auch noch hören werden.
Es gibt auch andere Gläubiger bzw. Käufer von Papieren mit Negativzinsen. Das sind diejenigen, die darauf hoffen, daß sie über Kursgewinne die Negativzinsen kompensieren. So verhält es sich mit denjenigen, die Papiere in Schweizer Franken oder Dollar oder sonstigen Fremdwährungen kaufen. Die hoffen auf ein weiteres Ansteigen der Fremdwährung gegenüber dem Euro, also Gewinne durch Wechselkursveränderungen. Man kann daraus folgern: die sind nicht allzu sehr überzeugt von der Performance des Euro. Man könnte überspitzt sagen, die gehen eine Wette gegen die europäische Einheitswährung ein. Eine besondere Freude haben die Euro-Hüter mit diesen Leuten nicht.
Dann sind da auch noch Leute, die dem vom EZB-Chef verkündeten Aufkaufsprogramm entnehmen, daß so ein Kauf eine relativ sichere Sache ist. Erstens steigert dieses Programm derzeit die Börsenkurse, sie machen also Gewinne durch Kauf und späteren Verkauf dieser Papiere an der Börse, deren Preis die Negativzinsen kompensiert. Zweitens, sollte dieser Effekt nachlassen oder aufhören, so können sie diese Papiere immer noch an die EZB abstoßen, bevor sie ihnen die Finger verbrennen.
Das Dumme an diesen ganzen Manövern ist auch hier wieder, daß zwar damit der Euro seinen Kurs und Wert halbwegs hält, aber ansonsten die ganze Bewegung innerhalb der bereits erwähnten geschlossenen Gesellschaft von Finanzkapital und Notenbanken verbleibt und keinerlei besonderen Effekt auf die nationale Kapitalakkumulation hat.
Konsumentenkredite
Die Kredite an den kleinen Mann, ob als Hypothekarkredit, Leasing-Vertrag oder Kreditkartenkredit, sind die einzigen Kredite, die auch die Zahlungsfähigkeit der Massen beflügeln. Bei ihnen werden aber kräftig Zinsen draufgeschlagen. Es ist also eine doppelte Lüge, wenn in den Medien verkündet wird, die „Häuslbauer“ täten sich über die Nullzinsen freuen. Erstens freut sich niemand darüber, sich verschulden zu müssen, um ein Dach über dem Kopf zu kriegen. Zweitens aber kommen diese Figuren ja gerade nicht in den Genuß der Nullzinsen, weil sie die einzige Sparte des Kreditgeschäftes sind, an der die Banken sich noch relativ sicher bereichern können.
Es ist also die wirklich absurde Situation eingetreten, daß gerade diejenigen Leute, die von ihrer Arbeitsleistung, also mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben – sei es als Lohnabhängige oder als Selbständige – nicht nur das Gros der Steuerleistung erbringen, sondern die einzigen sind, die den Banken sichere Gewinne einspielen. Das produktive Kapital hingegen erhält Streicheleinheiten in Form von Umsonst-Krediten, um wieder auf Akkumulationskurs zu kommen, und schafft es nicht, weil weiter unten immer weniger auf dem Gehalts- oder Ich-AG-Konto landet.
Und so ist es auch nicht mehr, daß jeder Zwerg Bumsti auf seine schöne Nase hinauf unbegrenzt Kredit erhält, wie das vor 2008 üblich war. Da sind sowohl die Kredithändler vorsichtiger geworden, vor allem, was gewisse Pleiteregionen betrifft, als auch die anvisierten Schuldner, die sich angesichts Verfall der Einkommenssituation oder der Wechselkurse oft sehr plötzlich von ihrer Immobilie oder ihrem Auto trennen mußten, und mit einem Haufen Schulden übrig blieben.
Man fragt sich, wie lange dieses seltsame Kredit-Karussell sich noch weiter drehen wird.
Kategorie: Geld & Kredit
Die Ermächtigung der Herrschaft haut nicht mehr so richtig hin
WAHLEN IN SPANIEN: AUSSER SPESEN NICHTS GEWESEN
Was seinerzeit über die mißglückten Wahlen 2012 in Griechenland geschrieben wurde, gilt auch für Spanien 2016.
Während sich damals mit Neuwahlen die Sache vorübergehend lösen ließ, wenngleich nur mit heftiger medialer Intervention (die kurz darauf eingegangene Financial Times Deutschland und Bild machten heftige Propaganda für die Nea Demokratia von Samaras und gegen Syriza, den Fast-Weltuntergang) schaut es in Spanien nicht so gut aus.
Der erneute Wahlgang ein halbes Jahr später hat wieder mehr oder weniger das gleiche Ergebnis gebracht: 4 Parteien ohne Konzept, die sich dennoch oder gerade deshalb auf keine Koalition einigen können. Während der Wahlkampagnen wurde zwar aller mögliche Schaum geschlagen, Werte hochgehalten und mit sehr substanzlosen Ideen gewedelt, aber herausgekommen ist nichts, was eine stabile Regierung braucht. Weder eine Mehrheit, noch eine Koalition, noch ein Konzept. Man kann sich auf weitere Monate des Dahinwurschtelns einrichten.
Man erinnere sich, daß Belgien einmal mehr als ein Jahr ohne Regierung dagestanden ist und eine Regierungsbildung nur unter weitgehenden Zugeständnissen an die Regionen möglich wurde, was eine sehr aufgeblähte Verwaltung und ein Kompetenzenchaos verursacht hat. Das wurde einem wieder einmal angesichts der Attentate von Brüssel vor Augen geführt. Die belgische Verwaltungsreform ist bis heute nicht abgeschlossen.
In Spanien kommen zu der Unfähigkeit der Mehrheitsbildung noch die Autonomie-Bestrebungen Kataloniens. Die gesamte spanische Staatsräson ist im Zuge der Finanzkrise flöten gegangen. Die „Marca España“ zieht nicht mehr, die Verschuldung der öffentlichen Hand wächst ständig, der Staatshaushalt funktioniert nur aufgrund des Anleihen-Aufkaufprogramms der EZB und es ist – wie schon in Griechenland – ein Zeichen von gröberen Problemen, wenn der Tourismus als Rettungsanker bejubelt und steigende Nächtigungszahlen gemeldet werden, denen jedoch keineswegs steigende Einkünfte entsprechen.
Während es als allgemeines Problem der EU besprochen wird, daß Regionalismen stärker werden und rechte, EU-skeptische Parteien erstarken, zeigt sich an Spanien ein anderes Problem: die Ökonomie hat keine Perspektive, daher wird ihre Verwaltung immer schwieriger. Die industrielle Produktion stagniert, bezüglich Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion ist Spanien zweigeteilt: es beliefert zwar die ganze EU mit Obst und Gemüse, Getreide und Milchprodukte hingegen werden praktisch nur mehr importiert.
In Spanien sind zwei der größten Banken Europas domiziliert, aber der Sparkassensektor ist pleite und wird nur mit staatlichen Mitteln über Wasser gehalten. Der Kreislauf funktioniert also so: Santander und BBVA kaufen die spanischen Staatsanleihen en masse und verkaufen sie der EZB, damit der spanische Staat Bankia, diverse andere zahlungsunfähig gewordene Sparkassen und die Bad Bank Sareb finanzieren und deren gekrachte Hypothekar- und Baukredite vor dem völligen Verfall bewahren kann. Die spanische Ökonomie und der Geldumlauf in Spanien beruht also nur auf dem Hin- und Herschieben von Krediten und ohne Aussicht auf einen Durchbruch, der wieder solides Geschäft garantiert. Die wirklich erfolgreichen spanischen Firmen hingegen, wie z.B. Inditex, machen den größten Teil ihres Umsatzes im Ausland und versteuern ihre Gewinne in Steuerparadiesen – im Falle von Inditex in Irland.
Die Staatsverschuldung Spaniens ist in absoluten Zahlen die 4.-höchste der Eurozone, wobei die Einbeziehung der Schulden der autonomen Provinzen nicht ganz klar ist, wo einige mit Kreditgarantien des Staates gerettet werden mußten, weil sie ihre Anleihen nicht mehr bedienen konnten. Spanien durfte seine diesbezüglichen Statistiken vor einigen Jahren etwas verschönern, um in den Genuß eines eurozonenfinanzierten Bankenrettungsprogramms zu kommen und nicht mit „Rettungsschirm“ und Troika beglückt zu werden, weil das das ganze Rettungsfonds-Programm zum Einsturz gebracht hätte. Spanien ist nämlich Mit-Garant und Einzahler der anderen Rettungspakete – würde es selbst zu einem Sanierungsfall, so würde wahrscheinlich das ganze Garantiesystem krachen, und der Euro auch.
So. Auf dieser äußerst prekären Ökonomie baut jetzt die Parteienkonkurrenz auf. Neue, als frische Kraft bejubelte Parteien wie die als links gehandelten „Podemos“ (Wir können) und die als liberal gehandelte Antikorruptionspartei „Ciudadanos“ (Staatsbürger) verraten ihre Konzeptlosigkeit schon im Parteinamen und langweilen die Wählerschaft seit geraumer Zeit mit dem Versprechen, sie seien ganz was anderes als die „etablierten“ Parteien. Mehr als diesen matten PR-Gag haben sie nicht im Programm, während Konservative und Sozialisten nicht mehr anbieten, als den Laden weiterzubetreiben wie bisher, und das als Erfolgsstory verkaufen wollen. Dabei hat Spanien nach offiziellen Zahlen nach Griechenland die höchste Arbeitslosenrate der EU, ein nach wie vor ungelöstes Problem von nicht gezahlten Hypotheken und vor der Delogierung stehenden Bewohnern in Millionenhöhe, praktisch keine Arbeitslosenversorgung, langsam leer werdende Pensionskassen und einen Haufen Kommunen, die ihre Müllabfuhr und Feuerwehr nicht mehr zahlen können.
Es ist zu erwarten, daß die Angelegenheit bezüglich Regierung so weiter geht wie bisher, die einen und die anderen Parteivorsitzenden sich als Retter des Vaterlandes aufspielen, mit der General-Keule „Korruption“ gewachelt wird und weiterhin keine Regierung zustandekommt.
Das ganze Theater wirkt besonders befeuernd auf Euro-Skeptiker und Separatisten im Schatten des Brexit und der Schwierigkeiten, die es in Großbritannien bei einer Regierungsbildung geben wird, wenn mit dem dortigen Schlamassel des EU-Austritts umgegangen werden muß.
Das alles zeigt nämlich, daß Wahlen ein bloßes Prozedere zur Ermächtigung der Herrschaft sind, deren Prinzipien jedoch nicht über Wahlen zustandekommen, sondern ihnen vorausgesetzt sein müssen. Wenn es da hapert, verkommt der Wahlzirkus zu einer bloßen kostspieligen Farce.
Die Kapitalakkumulation kommt nicht mehr wirklich voran und daher verunmöglicht sich ihre Förderung durch die gewählten Vertreter eines Staates.
Es ist allerdings eine undankbare Aufgabe für eine Regierung, sich zum Konkursverwalter einer Nationalökonomie degradieren zu lassen – wie es die Regierungen von Griechenland und Portugal bereits praktizieren (müssen).
Damit kann man im Wahlkampf keinen Blumentopf gewinnen und keine Regierung hinkriegen.
Pressespiegel: El País, 29.5., kommentiert
María Antonia Sánchez-Vallejo
„DIE LANGE GRIECHISCHE AGONIE
Trotz der Rettungspakete der Euro-Gruppe zeigt die griechische Wirtschaft nach sechs Jahren harter Anpassungen Anzeichen von Entkräftung .“
Nun ja. Korrekt ausgedrückt müßte es heißen: „Nach 6 Jahren sogenannter Rettungspakete, die die Gläubiger Griechenlands vor Verlusten bewahren, ist die griechische Wirtschaft ziemlich am Boden.“
Was die „Anpassungen“ betrifft, so wird überhaupt nichts „angepaßt“ – was eigentlich an was? – sondern der griechischen Ökonomie in einem fort Mittel entzogen, was zum Schrumpfen der Wirtschaftsleistung führt. Mit „Anpassung“, einem Vokabel, das aus dem segensreichen Wirken des IWF während der vergangenen Jahrzehnte herrührt, wird sehr plump so getan, als gäbe es ein richtiges Maß an Armut, bei dem dann die Gewinne der Unternehmer und Banken wieder in Schwung kommen. Diese Lüge blamiert sich an Griechenland sehr gründlich.
Es wäre allerdings auch nicht richtig, die Rettungspakete und die mit ihnen einhergehenden Kürzungen von Gehältern und Pensionen sowie Preis- und Steuererhöhungen allein für den trostlosen Zustand Griechenlands verantwortlich zu machen. Sein Kredit, der mit diesen Maßnahmen vom Rest der Eurozonen-Länder gestützt wird, ist Griechenland ja schon vorher abhanden gekommen. Daß es nicht gelingt, ihn wiederherzustellen, ist ein Ärgernis für die EU und den IWF und führt inzwischen auch zu deutlichen Spannungen zwischen diesen beiden Institutionen.
Zurück zur Analyse des El País, dem die EU eine heilige Kuh ist.
„Trotz der Rettungsleine, die die Euro-Gruppe Griechenland diesen Dienstag hingeworfen hat, zusammen mit dem Versprechen der Umschuldung, die mit dem Datum 2018 gut dem deutschen Wahlkalender angepaßt ist, scheint das Schulterklopfen für Athen lediglich einen Zeitgewinn zu bezwecken.“
Eine Augenauswischerei, auf gut Deutsch. Fragt sich nur, auf wen zielt sie?
„Die Wirtschaftskrise, verbreitet sich im siebten Jahr der Rezession nach einer kurzen Aufschwung zwischen 2014 und 2015 wie ein Ölfleck;“
Ein schönes Bild. Man muß der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß der erwähnte Aufschwung eine reine Showaktion für die europäische Öffentlichkeit und das griechische Wählervolk war, um die Nea Demokratia als Konkursverwalter im Sattel zu halten.
„– sie betrifft inzwischen nicht nur die Arbeiterklasse, sondern verbreitete sich durch Arbeitslosigkeit und den Verlust von Subventionen und Sozialleistungen auch auf die qualifizierten Berufe, die Vertreter einer Mittelklasse und Oberschicht, die zunehmend durch neue steuerliche Anpassungen und die dringend gebotene Liberalisierung des Arbeitsmarktes gesellschaftlich abstürzt.“
Was die „dringend gebotene Liberalisierung des Arbeitsmarktes“ angeht – auf gut deutsch: jeder soll für jeden Hungerlohn arbeiten gehen müssen, dem Ideal nach – so wurde sie mitsamt den „Hilfspaketen“ und „Rettungsleinen“ von der Troika verordnet, also das Gebot hat Subjekte und ist nicht eine vom Himmel gefallene Notwendigkeit.
Die gleichzeitig brutale und dumme Vorstellung, die dergleichen zugrundeliegt, ist die, daß man die Arbeitskraft nur gründlich genug verbilligen muß, um die heiß ersehnten Investoren anzulocken.
Man fragt sich, warum so wenig Investoren nach Afrika eilen? Dort sind die Löhne konkurrenzlos niedrig.
Oder nach Rumänien oder ins Baltikum, dort gäbe es ebenfalls Niedriglöhne innerhalb der EU. Stattdessen wandern von dort Billigarbeiter ab, um dann in anderen EU-Ländern den Preis der Arbeit zu drücken.
Es ist jedenfalls der Preis der Arbeitskraft nicht der einzige Gesichtspunkt bei den Standortentscheidungen des Kapitals.
„Nach vier aufeinander folgenden Monaten von Streiks, in Folge derer sich Tausende von Gerichtsakten aufgetürmt haben, beschlossen die Anwälte, ihren Streik im Juni zu verlängern. Berufsgruppen in Anzug und Krawatte stehen jetzt an der Spitze der Demonstrationen gegen die Reformen der Regierung anstelle derer, die von den traditionellen Gewerkschaften angeführt wurden, die bereits unzählige Generalstreiks ausgerufen haben, nur um ihre Wirkungslosigkeit festzustellen. Griechenland erlebt eine noch nie dagewesene Mobilisierung, die Togen und Hacken vereint; eine allumfassende und allgemeine Unzufriedenheit, klassenübergreifend und über Gewerkschaftserklärungen hinausgehend. Ein Gefühl von extremer Erschöpfung.
Unterdessen wächst der Schuldenberg von 330 Mrd. €, 180% des BIP – und behindert jegliche Erholung. Auf jeden Bewohner Griechenlands,– passive Klassen, Kinder und Babys inbegriffen – kommt eine Schuld von 30.000 € pro Kopf. Diese Schuld bleibt auch dann aufrecht, falls es zu einer Erleichterung des Schuldendienstes kommen sollte.“
Dieser leicht kryptische Satz stellt klar, daß eine Schuldenstreichung für Griechenland auf keinen Fall in Frage kommt, und alle Umschuldungen daher nur Fristverlängerungen beinhalten dürfen.
„Nachdem zwei ernsthafte Bedrohungen in Sachen Grexit in den Jahren 2011 und 2015 in letzter Minute abgewendet wurden, hat das letzte diesbezügliche Treffen der Euro-Gruppe den Geist des dritten wohl gebannt, aber den Mängeln der Realwirtschaft kaum abgeholfen. Es kam lediglich zur Auszahlung einer Tranche des dritten Rettungspakets in der Höhe von 10.3 Mrd. €, die vollständig für Fälligkeiten von 11 Mrd. € im Juni und Juli aufgeht.
Für Dimitris Rapidis, politischer Analyst und Berater von Syriza »verschafft der Abschluss der ersten Überprüfung des (Rettungs-)Programms der Regierung Zeit, ihre beiden obersten Prioritäten voranzubringen: die Förderung von Investitionen und vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen.«“
Man fragt sich, wie die Regierung mit diesen „Prioritäten“ vorankommen will. Weder hat sie irgendwelche Mittel, um selbst aus der Staatskasse Investitionen zu machen oder sie für das private Kapital attraktiv zu machen. Noch ist sie in der Lage, Arbeitsplätze zu schaffen. Im Privatsektor ist das Sache des privaten Kapitals, und im Staatssektor gibt es durch Troika-Auflagen praktisch ein Einstellungsverbot. Man könnte höchstens die vorhandenen Arbeitsplätze in jeweils 2 aufteilen und sowohl dem bisherigen Beamten/Lehrer/Arzt/Rundfunkangestellten als auch den neu Eingestellten jeweils die Hälfte zahlen, es ist aber nicht sicher, ob das von den Betroffenen gut aufgenommen würde. Aber die Regierung ist zuversichtlich:
„Man setzt auf folgende vier Sektoren: »Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Tourismus, mit dem Flaggschiff der Einweihung der TAP [Trans Adriatic Pipeline] in Thessaloniki in ein paar Wochen, die ein positives Signal für die ausländischen Märkte darstellt«, wie er unterstreicht.“
Man muß hier bemerken, daß es sich bei dieser „Einweihung“ um die Verlegung der ersten Rohre handelt. Bis durch durch diese Rohre Gas fließt, dauert noch ein paar Jahre – vorausgesetzt, der entsprechende und viel längere Teil durch die Türkei kommt zustande.
Verlegung der ersten Rohre für eine sehr unsichere Pipeline – das soll die internationalen Finanzmärkte begeistern und das Arbeitsplatzwunder per se darstellen?
Irgendwie werden hier Textbausteiene aus saudummen Ökonomiebüchern genommen und beliebig zusammengestellt, um die Illusion zu verbreiten, die Regierung hätte irgendein anderes Konzept als Konkursverwaltung.
„In einem rapide alternden Land wurden in diesem Monat die Pensionen seit 2010 zum 11. Mal gekürzt – ein Rückgang von fast 50% in sechs Jahren –, obwohl sie für mehr als ein Drittel der griechischen Familien die einzige Einkommensfamilien darstellen, während die Arbeitslosigkeit sich bei 25% verfestigt, da ihre strukturelle Komponente sich ca. auf 20% beläuft, erinnerte der IWF diese Woche. »Das heißt, es wird einige Zeit dauern, bis die Arbeitslosigkeit zurückgeht, nach und nach auf 18% im Jahr 2022, 12% im Jahr 2040 und 6% erst im Jahr 2060.«“
Abgesehen davon, daß der IWF für diese aus den Fingern gesogenen Prognosen überhaupt keine Anhaltspunkte hat, so sagt er doch damit, daß in den nächsten Jahren sowieso keine Verbesserung zu erwarten ist – ganz wurscht, wie sehr die Regierung „Prioritäten“ setzt:
„»Der Beitrag der Arbeit zum Wachstum wird nur 0,3% betragen«, das ist das niederschmetternde Urteil des Fonds. Obwohl Premierminister Alexis Tsipras versichert, daß 2017 das Wachstum nach Griechenland zurückkehren wird,“
Worauf sich wohl dieser fromme Wunsch gründet?
„(so sieht das auch die EU, die ein Wachstum von 2,7% prognostiziert),“
Das ist eine dreiste Lüge, die allen Mitgliedsländern aufgetischt wird, damit sie weiter der Kreditierung Griechenlands zustimmen, obwohl eigentlich klar ist, daß das eine Ende-Nie-Veranstaltung ist.
„steht am Ende dieses langen Fegefeuers ein Pyrrhussieg:“
Bildstörung!
„Lediglich beim öffentlichen Defizit gibt es einige Verbesserungen, “
Das steht in Widerspruch zu einigen Absätzen weiter oben, wo steht, daß es sowohl absolut als auch relativ zum BIP angestiegen ist.
„aber das ist etwas, was die Bürger in der Tasche nicht spüren.“
Alles verkehrt. Das Defizit ist gewachsen und die ganzen aufgenötigten Sparmaßnahmen spüren die Bürger Griechenlands sehr wohl:
„»Die Erhöhung der Beiträge, in einigen Fällen bis zu 70% des Einkommes, trifft die Durchschnittseinkommen schwer, und die Folgen werden schrecklich sein und viele Selbständige auf ein Existenzminimum reduzieren«, sagt Vasilis Kampanis, Präsident des Verbandes der Freien Berufe zu der am 8. Mai beschlossenen unpopulären Reform der Sozialversicherung, – eine weitere Forderung der Gläubiger. Für diese Vereinigung bedeutet »die Erhöhung der Steuerbelastung den Ruin vieler Geschäfte, verstärkte Steuerhinterziehung, Nichtzahlung von Beiträgen, steigende Arbeitslosigkeit und Kapitalflucht. Es wäre sehr wichtig, herauszufinden, wo die Milliarden von Sozialversicherung und Pensionsfonds während 40 Jahren Mißwirtschaft verloren gegangen sind«, sagt Kampanis.“
Oder auch nicht. Wieder auftauchen werden sie wohl kaum, und Gerichtsverfahren gegen die Mißwirtschaftler füllen die leeren Kassen auch nicht auf. Außerdem ist auch hier das Getue lächerlich:
„Nach offiziellen Angaben beläuft sich das Defizit der Sozialversicherungsanstalt (IKA Pensionskasse der Angestellten) auf eine Milliarde; das der Selbständigen auf 540 Millionen und auf 15,35 Mrd. die Rückstände der Beiträge zur Sozialversicherung bis zum Ende des Jahres 2015.“
1,5 Milliarden Defizit in 40 Jahren, das kann an einem ganz normalen Mißverhältnis zwischen Ein- und Auszahlungen liegen, bei 25% Arbeitslosigkeit kein Wunder. Nichts, worum man Lärm machen müßte. Und die 15,35 Milliarden, die nicht eingezahlt werden, zeigen, was die von den Gläubigern geforderte „Reform der Sozialversicherung“ bringt, nämlich nichts.
„Griechenland ist verbrannte Erde, wirtschaftlich am Boden zerstört. Die Industrieproduktion sinkt Jahr für Jahr, während die Abwanderung von Unternehmen vom Balkan weiter ansteigt. Deshalb wird der ferne Horizont einer Umschuldung oder zumindest eine gewisse Nachsicht bezüglich der zu leistenden Raten das Land weder kurz- oder mittelfristig aus dieser Situation befreien (noch weniger, nach Ansicht der Kritiker, mit einem vorgeschriebenen Budgetüberschuß von jährlich 3,5%, einer gleichsam als Schlachtroß angenommenen Grundlage in den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten, eine nicht bewältigbare finanzpolitische Anstrengung für eine völlig ausgelaugte Wirtschaft).
Nur die allmähliche Lockerung der seit Ende Juni vergangenen Jahres in Kraft befindlichen Kapitalverkehrskontrollen, die die Regierung diese Woche ankündigte, und die touristische Saison, die den Rekord 2015 zu übertreffen verspricht, kann in der unmittelbaren Zukunft ein wenig zur Entlastung der Eurozone beitragen angesichts einer Lage, die sie gleichsam an ihre Südostflanke gefesselt hat.“
Hier denkt die Verfasserin des Artikels an die Entlastung der Eurozone, wenn sie Schönwetter-Prognosen abgibt. Für Griechenland selbst, so heißt das, ist überhaupt nix drin.
„Von der griechischen Wirtschaft bleibt kaum mehr als ein Gehäuse. Oder anders gesagt: ein humpelndes Skelett“ (!!) „nach sechs Jahren der Anpassungen, die die großen strukturellen Anomalien des Staates beheben sollten, der echte bodenlose Abgründe der öffentlichen Ausgaben darstellen.“
Eine Serie von Bildstörungen, die daraus herrühren, daß der Zustand eines Staates, der zahlungsunfähig ist, als „Anomalie“ dargestellt werden soll, obwohl er immer mehr zur Normalität innerhalb der EU wird. Die Maßnahmen, die diese angebliche Anomalie beheben sollen, verschärfen sie nur, aber auch das soll nicht so einfach hingeschrieben werden, weil das hieße ja, daß die Situation unlösbar ist – eine bittere Wahrheit, um die sich die Analysten mit allen Mitteln herumdrücken.
„An erster Stelle steht die enorme Größe des öffentlichen Sektors, gemästet durch Korruption und politische Patronage: Im Jahr 2004 gab es 447.000 Beamte, und im Jahr 2010 waren es 768.000; seit dem ersten Hilfspaket wurden rund 250.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen.“
Diese Zahlen bedürfen einer genaueren Analyse. 447.000 Beamte sind in einem 10 Millionen-Land keine hohe Prozentzahl, wenn man bedenkt, daß hier Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Richter und Angestellte des öffentlichen Verkehrs sowie der Staatsverwaltung inbegriffen sind. Hier soll die Vorstellung erweckt werden, das sei ungeheuer viel. Vergleiche mit anderen Ländern fehlen. Laut OECD- und Weltbank-Statistiken hatte Griechenland bis zum Ausbruch der Krise 2008 keineswegs den größten Beamtenapparat im Verhältnis zur erwerbstätigen Bevölkerung, der Prozentsatz war in einigen nordeuropäischen Staaten viel höher.
Der große Anstieg bis 2010 läßt sich daraus erklären, daß vermutlich zum Abfedern der Krise manche Staatsangestellte einen Beamtenstatus erhalten hatten, die vorher keinen besaßen. Es muß sich also nicht unbedingt um Neueinstellungen handeln, sondern nur um eine Umdefinition bereits bestehender Anstellungsverhältnisse. Die absolute Zahl, so wie sie hier dasteht, ist jedenfalls wenig aussagekräftig. Sie soll aber den Leser dazu bringen, mit viel Verständnis für die Überwindung dieses untragbaren Zustandes die Entlassung von 250.000 Personen gutzuheißen, die EU und IWF Griechenland aufgenötigt haben.
Griechenland zahlt nur ein halbes Jahr Arbeitslosenunterstützung und kennt keine Sozialhilfe. Freiberuflicher kriegen auch die Arbeitslosenunterstützung nicht. Bis zu den im Rahmen der Kreditstützung verordneten Reformen war daher die hauptsächliche staatliche Unterstützung die Pension. Das heißt, daß die meisten dieser 250.000 Entlassenen ziemlich ohne Mittel dastanden. Da die Pensionen inzwischen gekürzt wurden, wie weiter oben erwähnt, so begreift man, warum es an allen Ecken des Landes Suppenküchen gibt und die Anzahl der Obdachlosen und Selbstmorde enorm angestiegen ist.
Außerdem hat Griechenland ein sehr großes stehendes Heer. Möglicherweise macht das Offizierskorps einen Teil der Beamtenschaft aus. Interessanterweise ist dieser Umstand nie Thema bei den Verhandlungen mit der Troika. Beim Heer wird kein Sparstift angesetzt. Man kann über die Gründe nur spekulieren. Einspruch der USA, die Griechenland auf jeden Fall in der NATO und sich daher das Heer gewogen halten wollen? Einsprüche derjenigen EU-Staaten, die Griechenland seit einem Jahrzehnt mit Waffen und Ausrüstung beliefern und nicht wollen, daß diese Geschäfte ans grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden? Oder will man sich das Militär als Garant der Regierbarkeit Griechenlands halten? Können sich EU-Politiker unter bestimmten Umständen eine Neuauflage des Obristen-Regimes unter EU-Anleitung vorstellen?
„Ebenso wird mit Zähnen und Klauen die Steuerhinterziehung bekämpft, dieses schwarze Loch in der Staatskasse, das sich einem Bericht der Europäischen Kommission 2011 zufolge zu Beginn der Krise auf 60 Mrd. Euro in unbezahlten Steuern belief.“
Wie kommt die Europäische Kommission auf diese Summe? Was wurde da alles zusammengezählt? Wieder wird hier mit Zahlen um sich geworfen, um zu zeigen, was da alles im Argen liegt. Es wird nämlich vorgespiegelt, diese 60 Milliarden brauchten ja nur abkassiert zu werden, der Staat hat ein Recht darauf, die Leute müssen sie nur herausrücken. Ob diese Steuern überhaupt vorgeschrieben wurden oder die Organe der EU nur meinen, sie hätten vorgeschrieben gehört, und ob die Betroffenen das Geld überhaupt haben, interessiert hier niemanden. Die Verfasserin schlägt die Hände zusammen und schreibt: 60 Mrd., ach Gottedoch!
„Schließlich bemüht sich Athen um die Abspeckung des defizitären und überlasteten Pensionsystems, über das jahrelang Geld in unzählige Fonds und Sozialkassen abgeflossen ist … Um hier eine Lösung zu erzielen, wurde im Zuge der Reform der Sozialversicherung eine einheitliche Mindestpension von 384 € eingeführt und der stufenweise Abbau der ergänzenden Solidaritätsfonds für niedrigere Renten und der Innungskassen bis zum Jahre 2018 beschlossen.
Als Gegenleistung für die am stärksten betroffenen Personengruppen wird, »die Regierung einen sozialen Solidaritätsfonds schaffen, die den Budgetüberschuss der Jahre 2015 und 2016 zu Gunsten der am stärksten gefährdeten Gruppen in Form einer finanziellen Unterstützung an solche Haushalte verteilt, die mit Steuern oder Darlehen im Rückstand sind, oder an Haushalte mit begrenztem Zugang zu grundlegenden Gütern wie Strom, Wasser oder Energie«, erklärt Rapidis.“
Vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein Budget-Plus, was dem bisher Verlauteten nach unwahrscheinlich ist. Was unterm Strich übrig bleibt, ist, das ganze Familien von einer monatlichen Pension von 384 € leben müssen, um das „überlastete“ Pensionssystem zu entlasten.
„Die Realwirtschaft, die das Land von einem Tag zum anderen bringt, hinkt oder ist zumindest mit dem Überleben beschäftigt. »Nach der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland Ende Juni 2015 verdoppelte sich die Zahl der griechischen Unternehmen in Bulgarien, von 5.500 bis 11.500, parallel mit der Eröffnung von 60.000 Firmenbankkonten. Die Verlagerung des Firmensitzes fand aufgrund des wesentlich günstigeren Steuerklimas statt, weil die Körperschaftssteuer dort mit 10% fast 20 % niedriger ist als in Griechenland, auch die Löhne sind niedriger«, erzählte im Januar Panos Kutsigos, Präsident der der griechisch-bulgarischen Handelskammer. Viele dieser ausgelagerten Unternehmen kommen aus dem Norden Griechenlands. Diese Region liegt sowieso durch jahrhundertelange Vernachlässigung im Argen, mit einer Arbeitslosenquote von mehr als 20% über dem nationalen Durchschnitt, um die 40% und bis zu 70% bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren.
Die Flüchtlingskrise hat sich zur wirtschaftlichen gesellt, nicht nur durch die Kosten, die dem Staat als Gastland durch Bereitstellung von kostenloser Gesundheitsversorgung für alle Flüchtlinge erwachsen sind, oder für die Ausbildung, um den Schulbesuch von Migranten ab September 2015 in allen Ausbildungsschritten zu gewährleisten. Der Migrationsdruck hat auch direkte wirtschaftliche Kosten: Die Sperre der Bahngleise in der Nähe des Lagers Idomeni hat laut dem Wirtschaftsblatt Naftemporiki Verluste von 7.000 bis 10.000 Euro (täglich?) wegen gestrandeter Güter verursacht. Die Blockade, die fast drei Monate gedauert hat, hat auch die Aktivität des Hafens von Piräus eingeschränkt, der inzwischen der chinesischen Firma Cosco gehört, und die Umleitung des Warenverkehrs über Bulgarien hat den Transport verteuert und Verzögerungen zur Folge gehabt. Man erkennt hier die wichtige Rolle der Geostrategie, positiv (der chinesische Appetit zur Kontrolle der Handelsströme, die TAP Pipeline-Route) wie negativ.“
Mit diesem Gut-Schlecht versucht die Autorin dem Umstand, daß Griechenland zumindest noch Transitland für Waren und Energie ist oder sein wird, zu einer möglichen Erfolgsstory umzuinterpretieren – dabei ist es doch nur das Eingeständnis, daß Kapitalakkumulation dort praktisch nicht mehr stattfindet.
„Die Fortdauer der oben genannten strukturellen Ungleichgewichte hat diejenigen belastet, die immer dafür herhalten müssen, die Kleinverdiener. “
Eine exquisite Art, den Sachverhalt auszudrücken. Nachdem wir erfahren haben, daß von der griechischen Ökonomie kaum mehr etwas übrig ist und die Arbeitslosigkeit über 20% beträgt und sich daran nichts ändern wird, erhält diese unerfreuliche Lage den schönen Titel eines „strukturellen Ungleichgewichts“. Mit „un-“ wird behauptet, es gäbe so etwas wie einen tollen Idealzustand, den man durch Veränderung von „Gewicht“ herstellen kann.
„Denn um von der Euro-Gruppe weißen Rauch zu erhalten, musste Griechenland die Schraube noch stärker in Richtung Sparprogramme drehen. Die in Form eines doppelten Paketes in getrennten Abstimmungen am 8. und 22. Mai genehmigten Anpassungen erhöhen die Steuern auf alle erdenklichen Waren, Tourismus und Immobilien. Der Spitzen-Mehrwertsteuersatz wird zwischen dem 1. Juni und dem 1. Januar nächsten Jahres um ein Prozent von 23% auf 24% steigen; auch die Steuern auf Treibstoff und Heizöl, Kaffee, Alkohol, Tabak, Luxusgüter, Festnetztelefondienste, Glücksspiel und Pay-TV werden erhöht.
Für die vierköpfige Familie Adiamandis, mit einer bescheidenen Eigentumswohnung und eingefrorenen Zukunftsplänen, bedeuten die Steuererhöhungen eine weitere Belastung ihrer ohnehin bereits prekären Existenz. »Wir leben von 757 € pro Monat von meiner Arbeit als Buchhalter in einer Firma, die nicht mehr lange bestehen wird. Durch die Erhöhung der Enfia (Grundsteuer) und der Mehrwertsteuer schätze ich, dass unsere Kaufkraft um rund 30% reduziert wird, so können wir nicht einmal von einer Urlaubswoche irgendwo am Land träumen. Allein der Einkaufskorb wird uns von nun an mindestens 25% mehr kosten«, sagt der studierte Ökonom Jorgos Adiamandis.
Die derart herbeigeführte Reduktion der Kaufkraft hat in den letzten Jahren zu einem 40%igen Rückgang des Inlandskonsums, und infolgedessen zu einer andauernden Deflation geführt. Deshalb kann die Familie Adiamandis nicht an irgendwelche Zusatzausgaben denken, wie an Kurse oder Postgraduate-Ausbildungen für ihre beiden studierenden Kinder, die deshalb auswandern wollen. Von den 180.000 bis 200.000 Absolventen und Ärzten, die das Land verlassen haben, sind nur 15,9% nach Griechenland zurückgekehrt, nach Daten des Europarats, was alle Aussichten für die Erholung des Landes vernichtet.
Die ungewisse Zukunft ist eine andere Sackgasse der Krise. Mehrere Indikatoren zeigen, daß diese Gesellschaft sozusagen auf lange Zeit so etwas wie eingefroren ist, wogegen keinerlei Initiativen helfen können.“
Dieser Satz ist fast unmöglich zu übersetzen. Im Original wird das Bild der Zeitlupe bemüht, um zu zeigen, daß jede Sichtweise der griechischen Gesellschaft hoffnungslos ist, aber es wird so getan, als sei dieser Zustand bloß ein Übergang (– wohin?)
„Die Geburtenrate ist seit Ausbruch der Krise um 10%, von 1,3 bis 1,1 Kindern pro Frau gesunken, angesichts der Kürzung der Sozialleistungen und der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes wegen Schwangerschaft. 93% der griechischen Jugendlichen (zwischen 16 und 30 Jahren) »fühlen sich vom wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen«, nach einer vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebenen Umfrage … und dieses Gefühl der Ausgrenzung bewegt 43% von ihnen, ihren Lebensunterhalt im Ausland zu suchen. Nur Zypern, mit 51%, übertrifft Griechenland bezüglich der Abwanderung. Wenn junge Menschen die Zukunft Griechenlands sind, so scheint Griechenland keine Zukunft zu haben.
In nur sieben Jahren hat Griechenland eine seismische Erschütterung, eine existenzielle Veränderung erfahren. Von einem landwirtschaftlich geprägten und armen – »aber seelisch intakten« (mit den Worten des Schriftstellers Petros Markaris) – Griechenland vor noch ein paar Jahrzehnten, zu einer Wirtschaft des XXI Jahrhunderts, funktional und profitabel. »Was wir erleben, ist eine groß angelegte kulturelle Revolution, so extravagant diese Einschätzung auf den ersten Blick scheinen mag. Das Ergebnis wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Entweder wird es eine positive Entwicklung geben, weil sich die Wirtschaft erholt und die Menschen ihre tiefen und schmerzhaften Wunden heilen werden, oder eine negative, einen gescheiterten Staat, einen europäischen Paria oder ein zerstörtes Land«, schließt der Analytiker Rapidis.“
Sehr viel Unsinn in einem Absatz: Das Ideal der funktionalen und profitablen Wirtschaft wird hochgehalten, obwohl weit und breit nichts davon zu sehen ist. Nicht nur in Griechenland, übrigens.
Oder ist damit nur gemeint, daß jede Wirtschaft, in der irgendjemand Profite macht, funktional ist – ganz gleich, wie der Rest der Gesellschaft dasteht? Ist damit das volkswirtschaftliche Dogma angesprochen, nach dem der nicht zahlungsfähige Teil der Menschheit gar nicht existiert, weil er als Nicht-Konsument gar nicht im VWL-Buch aufscheint?
Man merkt auch, wofür so Analytiker wie der Herr Rapidis gefüttert und vor die Mikrofone gebeten werden: um jede Niederlage in einen möglichen Sieg umzuinterpretieren, und alle dazu aufzurufen, das Unmögliche zu vollbringen. Die Quadratur des Kreises sozusagen.
„Es gibt einige positive Entwicklungen, aber sie sind auf Athen und Thessaloniki begrenzt und stehen völlig außerhalb der traditionellen Sektoren, die die produktive Basis Griechenlands ausmachen. In den letzten Jahren sind Start-up-Nester wie Openfund entstanden,“ (ein Unternehmen zur Finanzierung und Beratung von Unternehmensgründungen!) „das 200 Unternehmen betreut, oder The Cube Athens“ (ebenfalls eine Beraterfirma, die auch Büroräume für neu gegründete Unternehmen zur Verfügung stellt,) „entstanden. Die Kleinbetriebe hingegen kümmern vor sich hin, die 85% der Beschäftigten im Privatsektor bei sich vereinigen, mit einer Ausnahme: die unzähligen Imbißstuben, die in der Hitze oder Kälte der Krise entstanden sind, und wo man schnell und sehr billig gut essen kann. 2014 und 2015 wies Griechenland einen starken Anstieg im Index von GEDI (Globales Institut für Unternehmen und Entwicklung ) auf, mit welchem das Ökosystem von Unternehmen der New Economy bewertet wird: E-Commerce, ITT (Telekommunikation), F&E (Forschung und Entwicklung). Auf der Schattenseite der wirtschaftlichen Landschaft stimmt der marode Kohlesektor im Norden seinen Schwanengesang an: (die nächste Bildstörung!) Während er vor zwei Jahrzehnten 70% der Elektrizität des Landes generierte, sind es inzwischen nur mehr 40%.“
Das kann natürlich auch etwas mit der EU-Politik zu tun haben, die die Kohle zurückdrängen will. Der Sektor wird also marode gemacht. Außerdem heißt das, daß die Schießung der Kohlengruben Griechenland dazu nötigen würde, 40 % seines Elektrizitätsbedarfes anderweitig zu generieren oder zu importieren.
Der Artikel schließt – sehr angemessen und sehr angestrengt poetisch – wieder mit einem ganz absurden Bild:
Diese Landschaft wird gleichsam nach der Schlacht nach und nach schwarz übergossen, sie ist voll mit ruinenhaften Diagrammen.