Marktwirtschaft: der Tausch als Quelle der Bereicherung

DAS HANDELSKAPITAL
Ein Blogtext kann natürlich keineswegs all das abdecken, was zur Rolle des Handelskapitals heute zu sagen wäre. Er soll lediglich eine Anregung dazu sein, diese Rolle zu überdenken und gegebenenfalls einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
Das Handelskapital ist heute nicht mehr der bloße Handlanger der Realisierung des Mehrwerts, als der es im „Kapital“ dargestellt wird. Es ist nicht mehr das produktive Kapital, das bestimmt, welchen Teil des Profits es dem Handelskapital überläßt, damit dieses den „Salto mortale“ der Ware bewerkstelligt und den Kreislauf des Kapitals schließt, um einen neuen Produktionszyklus anleiern zu können.
Das Handelskapital ist heute – in einträchtiger Zusammenarbeit mit dem Finanzkapital – zum Herren über die Produktion geworden. Das Handelskapital entscheidet, ob es den Produzenten überhaupt einen Teil des Mehrwerts überläßt oder denselben gleich restlos mit dem Finanzkapital unter sich aufteilt.
Das Handelskapital entscheidet mit dem Finanzkapital, welche Produktion sich überhaupt noch rentiert. Es entscheidet über das Zusperren von Firmen, indem es deren Gewinnmarge gegen Null drückt und Produktionen damit zerstört. Dann macht es sich auf um Ersatz-Produktionen rund um den Globus, um damit weiterhin die Bedürfnisse der Konsumenten befriedigen zu können. Das Handelskapital entscheidet heute damit über die Standorte.
Das Handelskapital war entscheidend in der Eingliederung der ex-sozialistischen Staaten in den Weltmarkt. Es zerstörte den inneren Markt dieser Staaten, und nötigte ihnen den Import als einzige Form der Aufrechterhaltung der Warenzirkulation auf. Auch das wieder in trauter Eintracht mit dem Finanzkapital, das für Konvertibilität und Zahlungsfähigkeit durch Kredit sorgte.
Das Handelskapital war ebenso ein entscheidender Faktor in der „EU-Integration“: Es sorgte für die Zerstörung der nicht-wettbewerbsfähigen Produktion innerhalb der EU, verstärkt nach der Einführung des Euro.
Das Handelskapital war somit der Exekutor der negativen Handelsbilanzen innerhalb und außerhalb der EU und damit auch der Motor der Verschuldung. Dabei wurde es vom Finanzkapital beflissen assistiert: Das Handelskapital überschwemmte die diversen Märkte mit Importwaren, das Finanzkapital sorgte durch Kreditierung von Konsumenten, Gemeinden und Staaten für die entsprechende Zahlungsfähigkeit, mit der es diese Gegenden überhaupt erst als Markt brauchbar machte.
Das Handelskapital bemächtigte sich diverser Grundbedürfnisse der Menschen, wie Lebensmittel und Kleidung. Diese werden aufgrund der Entscheidungen des Handelskapitals bedient, das sehr eigenmächtig entscheidet, in welcher Form diese Bedürfnisse überhaupt befriedigt werden dürfen. Die Lebensmittelketten entscheiden darüber, welche Produkte in verschiedenen Gegenden auf den Markt kommen, und für welche Lebensmittel es seine Vermittlerdienste zur Verfügung stellt. Über die Konkurrenz des Preises werden einheimische Produkte aus dem Handel verdrängt und Produkte aus entlegenen Weltgegenden in den Geschäften der Handelsketten zu Dumpingpreisen angeboten.
Über den Internethandel werden die kleinen Händler aus dem Weg geräumt. Das Geschäftsleben vor Ort stirbt. Die Geschäfte, die die Bedürfnisse vor Ort befriedigt haben, müssen das Handtuch werfen.
Damit gehen eine Menge Jobs verloren, die aufgrund der schon vorher über die Bühne gegangenen Entwicklungen in Fabriken und Landwirtschaft wichtig waren. Die lokale Zahlungsfähigkeit sinkt also weiter, und die betroffene Region kann nur durch Kreditierung seitens des Finanzkapitals als Markt aufrechterhalten werden. Oder aber, was auch sehr wichtig ist, durch die Überweisungen der Arbeitsemigranten, die sich in den Metropolen für Dumpinglöhne verdingen und damit das Lohnniveau dort senken, was auch wieder Auswirkungen auf die dortige Zahlungsfähigkeit hat.
Die Entwicklung geht von West nach Ost, es wird sich erst weisen, inwiefern die ex-sozialistischen Staaten aufgrund der unzuverlässigen Postzustellung diesem Trend widerstehen können.
Große Produzenten, wie Inditex, setzen diesem Trend ein eigenes Vertriebsnetz entgegen. Sie richten eine Art von dezentral-vertikaler Produktion ein, wo auch von Sub-Firmen mit Sklavenarbeit produziert werden kann, aber den Vertrieb übernehmen sie selbst, um sich dem Würgegriff des Handelskapitals zu entziehen und ihre Gewinne selbst einstreifen zu können.
Marx schreibt im Kapital, Band I, daß die Ware A auf den Markt geht und auf die Ware B trifft, der gibt sie ihren Wert. Dann kommen andere Waren hinzu, und so kommt ein gewisses Preisniveau zustande. Das allgemeine Äquivalent, das alle Waren gleichermaßen mißt, muß von außen kommen, weil die einzelnen Marktteilnehmer nicht die Macht haben, dieses einander aufzunötigen. Ist es einmal hergestellt, so unterwirft es alle Waren seinem Maßstab.
Heute ist es so, daß die Ware A auf dem allgemeinen Äquivalent, dem tatsächlich von der imperialistischen Macht EU verordnetem Geld namens Euro, auf den Markt rutscht und allen anderen sagt: Ich bin Repräsentant von Wert, meßt euch an mir! – und die Waren B, C und D, sofern sie diesem Maßstab nicht entsprechen, aus dem Markt wirft.
Rückgang der Produktion, Rückgang von Zahlungsfähigkeit, Schaffung von überflüssiger Bevölkerung – wohin führt das, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten? Wird aus Europa eine Variante von Afrika?

Österreichische Premiere

EIN BUNDESLAND GEHT PLEITE
1. Die Anleihen und ihre Käufer
Die Hypo Alpe Adria begab (von ?) bis 2008 Anleihen in der Höhe von mindestens 11 Milliarden Euro, um ihre Expansion auf dem Balkan und auch diverse Projekte in Österreich selbst zu finanzieren. Die genaue Höhe der Anleihensumme ist trotz des seit Jahren tagenden Untersuchungsausschusses zur Hypo Alpe Adria nicht ganz klar.
Erstens, weil diese Anleihen halboffiziell über Jersey und Liechtenstein und nicht auf Börsen ausgegeben wurden, weil das die Kosten für die Emission erhöht hätte. Dadurch existiert eine Dunkelziffer in Bezug auf die Gläubiger.
Zweitens, weil diese Anleihen inzwischen auf Ramsch-Status gelandet sind, die Gläubiger, sofern offiziell, aber den Nennwert oder Marktwert von 2007 fordern.
Schließlich, drittens, weil nicht alle Gläubiger sich offziell melden: Es hätte auf ihren Kredit keinen guten Einfluß, wenn sie die Existenz solcher Papiere in ihren Portfolios einbekennen. „Es kursieren Investoren-Listen“, so heißt es im österreichischen Wirtschaftsblatt. Soviel weiß man jedenfalls, daß zu den Gläubigern viele österreichische Banken und Finanzinstitute gehören, und auch sonst alles versammelt ist, was Rang und Namen hat:
„Unter Berufung auf Daten des Bloomberg-Finanzinformationssystems haben die “Presse” und die ORF-“ZiB” aus Listen von Investoren zitiert. Jene Anteile, die von Banken und Fondsgesellschaften in Anleihefonds genommen werden, sind in dem System aufgelistet. Die Datensammlung dazu ist umfangreich, laut Zeitung findet sich darauf jedenfalls die Creme der nationalen und internationalen Banken- und Fondslandschaft.“ (Wirtschaftsblatt, 19.2. 2014)
2. Die Landeshaftung
Diese Anleihen waren, da der Kapitalstock der Bank klein war und sie eine Bank des Landes Kärnten war, durch Landeshaftungen besichert. Diese Landeshaftungen, die auch andere Bundesländer für Banken eingingen, waren ein Erbe des staatlichen Banksektors in Österreich und ein Ausdruck des Kapitalmangels des österreichischen Banksektors. Mit Hilfe dieser Landeshaftungen unternahm das österreichische Finanzkapital seine Eroberung der postsozialistischen Staaten. Die Landeshaftung Kärntens war also kein „Ausrutscher“ oder Sonderfall, sondern entsprach einer üblichen Praxis in Österreich.
Seit 2009, als die Hypo AA notverstaatlicht wurde, werden diese Anleihen vor sich hergeschoben. Der Rechtsstreit mit der Bayrischen Landesbank, die bei der Hypo AA 2007 als Mehrheitseigentümer eingestiegen war, zog sich bis zum Vorjahr bezüglich der Frage, welche Bank der anderen nach der Verstaatlichung etwas schuldig war. Die Frage der Anleihen berührte das aber nur am Rande.
2014 wurde noch abgewiegelt:
„»Diese Bank hat keine Liquiditätsprobleme, und es ist eine ziemlich kleine Bank und nicht von europäischer Relevanz«, sagte der österreichische Notenbankchef Ewald Nowotny in einem Reuters-Interview.“ (Wirtschaftsblatt, 19.2. 2014)
Der österreichische Nationalbankchef sah es also als vergleichsweise kleines Problem an, Anleihen in dieser Höhe einfach verfallen zu lassen.
So einfach ist das aber dann auch nicht. Die Gläubiger haben sich zu Kläger-Gruppen zusammengeschlossen und die von der Hypo-Nachfolgebank HETA bzw. von Kärnten angebotenen Vergleiche ausgeschlagen, die zwischen 10 und 25% der Nominalsumme abgedeckt hätten. Sogar Argentinien bot seinerzeit mehr bei den unter Néstor Kirchner abgeschlossenen Vergleichen, nämlich rund 33%.
Die „Angebote“ waren deswegen so unverschämt niedrig, weil eine Belastung des österreichischen Staatskredites vor allem im Jahr 2017, wenn das Gros dieser Anleihen zur Tilgung ansteht, diesen beträchtlich schwächen könnte. Zweitens aber auch deswegen, weil die österreichischen Verantwortlichen überzeugt waren, daß die Gläubiger jedes Angebot annehmen müßten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen. Sie hielten Kärnten für nicht pfändbar.
3. Die Klage und die möglichen Folgen
„Die Creme der nationalen und internationalen Banken- und Fondslandschaft“ hat sich anders entschlossen und Kärnten geklagt, seine Garantien einzulösen. Sie können es sich nämlich nicht leisten, die Anleihen in ihren Portfolios zum Ramschwert abgelöst zu kriegen. Das würde erstens viele diese Gläubiger selbst in die Pleite treiben, und zweitens auch auf ähnliche Anleihen dieser Art, die auch andere Geldinstitute der EU begeben haben, eine sehr negative Wirkung entfalten. Die Verschuldung zwischen den Banken würde reihenweise Pleiten produzieren und Wertpapiere entwerten.
Die Klage eines Bundeslandes ist absolutes juristisches Neuland. Der Vorteil für die Gläubiger ist, daß die Anleihen pro forma ihren Wert behalten, solange sich der Rechtsstreit zieht, und keine Abschreibung vorgenommen werden muß.
An Kärnten könnte Ähnliches durchexerziert werden wie an Griechenland: massenhafte Entlassung von Landesbeamten, Privatisierung von Energie und Infrastruktur, Krankenhäuser ohne Medikamente, Suppenküchen für die am Härtesten Betroffenen, und der Bund müßte dann vermehrt für die Armutsverwaltung des Bundeslandes einspringen.
Wie man bereits an Griechenland sieht, führt dergleichen Schuldendienst und Pfändung zum wirtschaftlichen Ruin und stellt selbst die Wahrung der staatlichen Verwaltung und Ausübung der Staatsgewalt in Frage.
Wer würde in Kärnten die Polizei bezahlen, wenn alle Einnahmen gepfändet würden? Wer das Gesundheitswesen und die Sozialausgaben, wer die Lehrer und die Beheizung der Schulen?
Eine weitere Frage wäre, welche Gerichte für diese Verfahren zuständig sind. Was wurde bei den Anleihenemissionen als Gerichtsstand vereinbart? Ein österreichischer Standort oder ein britischer oder Liechtenstein? Nach welchem Recht würde geurteilt?
Parallelen zu Argentinien und zu Island drängen sich auf, aber hier handelt es sich um Inner-EU-Recht, was auch noch einmal etwas Neues wäre.
Eine solche Welle von Klagen, was hätte das für Auswirkungen auf Österreich und auf die EU? Eine Art Kampf jeder gegen jeden könnte losgehen.
Das spanische Bundesland Valencia ist mindestens so pleite wie Kärnten. Seine Anleihen werden mit staatlichen Garantien besichert. Wenn wieder eine Tranche von Tilgungen fällig wird, könnte Spaniens Staatskredit wieder einmal zu wackeln anfangen.
Die Garantien Österreichs für den Kredit Griechenlands, Irlands und Portugals könnten in Frage gestellt werden – wie kann Österreich für den Kredit anderer EU-Staaten garantieren, wenn es nicht einmal sein eigenes Bundesland vor der Pleite retten kann?
Ob die EZB hier wieder einmal die Kartoffeln aus dem Feuer holen kann, ohne ihren Ruf endgültig zu ramponieren?

Pressespiegel: El País, 21.2. 2016

AL ASSAD: ES GIBT 80 STAATEN, DIE DIE TERRORGRUPPEN IN SYRIEN UNTERSTÜTZEN

Interview mit Baschar Al Assad, geführt von dem Sonderkorrespondenten David Alandete in Damaskus

El País: In dieser Woche haben Sie den humanitären Zugang zu sieben belagerten Gebieten erlaubt. Es gibt Schätzungen, daß in diesen Regionen 486.000 Menschen leben, viele von ihnen seit mehr als drei Jahren unter Belagerung. Warum wurde die Gewährung dieser Hilfe in diesen Konflikt so lange verzögert?

Al Assad: In Wirklichkeit wurde das nicht erst kürzlich genehmigt. Das läuft seit dem Beginn der Krise. Wir haben keine Sperre über irgendein Gebiet in Syrien verhängt. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Embargo und einer Armee, die eine bestimmte Umgebung belagert, weil es dort Aufständische gibt, und das ist etwas Natürliches in diesem Fall, was Sicherheit oder militärischen Lage angeht. Aber das Problem in diesen Gebieten ist, dass die bewaffneten Gruppen die Lebensmittel und andere lebenswichtige Güter der Bewohner konfisziert haben und sie entweder an die Aufständischen übergeben oder zu sehr hohen Preisen an die Bevölkerung verkaufen.
Was die Regierung angeht, haben wir nie die Hilfelieferungen in irgendein Gebiet verhindert, nicht einmal derjenigen, die unter der Kontrolle des Islamischen Staates sind, wie die Stadt Rakka im Norden des Landes, die ist jetzt unter seiner Kontrolle ist und vorher unter der der Al-Nusra Front [örtliche Filiale der Al-Qaida] war, seit fast drei Jahren. Wir schicken bis heute in diese Gebiete die Pensionen, die Gehälter der Beamten und Impfstoffe für Kinder.

El País: Das heißt, Sie schicken nach Rakka Lebensmittel und Gehälter?

Al Assad: So ist es. Wenn wir die Gehälter sogar nach Rakka schicken, weil wir als Regierung glauben, daß wir Verantwortung für alle Syrer tragen, wie sollten wir das für andere Gebiete nicht tun? Dies wäre widersprüchlich. Deshalb sagte ich, dass die Lieferung von humanitärer Hilfe nicht erst kürzlich stattgefunden hat. Wir haben von Anfang an nie die Lieferung von Hilfen oder Lebensmitteln verboten.

El País: Und findet diese weiterhin statt?

Al Assad: Natürlich.

El País: Russland und die USA haben letzte Woche eine Waffenruhe angekündigt. Ist die syrische Regierung bereit, die Waffenruhe und die Aussetzung der militärischen Operationen in Syrien zu respektieren?

Al Assad: Selbstverständlich. Außerdem haben wir angekündigt, dass wir dazu bereit sind, aber die Sache hängt nicht bloß von einer Ankündigung ab. Sie hängt davon ab, was wir im Feld erreichen werden. Ich denke auch, daß das Konzept „Waffenruhe“ nicht angebracht ist, weil eine Waffenruhe kann nur zwischen verfeindeten Armeen und Ländern geschlossen werden. Besser wäre es, das Konzept des „Einstellens der Kampfhandlungen“ zu verwenden. Es geht in erster Linie um eine Feuerpause, aber auch um andere ergänzende Faktoren, die wichtiger sind, wie zum Beispiel zu verhindern, daß die Terroristen die Gelegenheit ergreifen, ihre Positionen durch die Feuerpause zu verbessern. Sie hängt auch davon ab, anderen Ländern, insbesondere der Türkei, zu verbieten, Männer, Waffen oder jede Art von logistischer Unterstützung an die Terroristen zu schicken.
Außerdem gibt es einen Beschluß des Sicherheitsrates der UNO (*1) zu dieser Frage, der nicht umgesetzt wurde.
Wenn nicht alle diese Bedingungen für die Einstellung der Kampfhandlungen garantiert sind, wird dies einen negativen Effekt haben und zu mehr Chaos in Syrien, und auch zur de-facto-Teilung des Landes führen. Die Einstellung der Kampfhandlungen könnte also positive Auswirkungen haben, aber nur, wenn die notwendigen Voraussetzungen gegeben sind.

El País: Wird es also Kämpfe geben, trotz der Waffenruhe, zumindest gegen einige bewaffnete Gruppen?

Al Assad: Ja, sicherlich, wie gegen den IS, Al Nusra und andere Organisationen oder terroristische Vereinigungen, die mit Al-Qaida verbundenen sind. Derzeit nennen Syrien und Russland vier Namen: Ahrar al-Sham und Jeish el Islam [Armee des Islam] zusätzlich zu der Al-Nusra-Front und dem IS.

El País: Ihre Truppen haben Aleppo umzingelt, eine Hochburg der Opposition. Wann rechnen Sie damit, die volle Kontrolle über diese Stadt zurückgewinnen?

Al Assad: Eigentlich sind wir bereits im Stadtzentrum und ein Großteil der Stadt ist unter der Kontrolle der Regierung. Die Mehrheit der Bewohner der Vororte sind aus dem Gebiet unter Kontrolle der bewaffneten Aufständischen auf Gebiete unter der Kontrolle der Regierung gezogen. Die Frage ist nicht mehr, die Kontrolle über die Stadt zurückzugewinnen. Tatsächlich geht es darum, die Straßen zwischen der Türkei und den terroristischen Gruppen in blockieren. Das ist derzeit das Ziel der Kämpfe in Aleppo, und es ist uns vor kurzem gelungen, die Haupt-Verbindungsrouten zu blockieren.
Es gibt keine komplette Absperrung zwischen Aleppo und der Türkei, aber es macht die Beziehung zwischen der Türkei und den Terroristen sehr viel schwieriger. Es ist aus diesem Grund, daß die Türkei seit kurzem die Kurden bombardiert.

El País: Was ist als nächstes nach Aleppo dran? Ist die syrische Armee bereit, auf Rakka, die selbsternannte Hauptstadt des IS, vorzustoßen?

Al Assad: Im Prinzip werden wir überallhin vorstoßen, aber im Moment sind wir in Syrien an mehr als zehn Fronten im Einsatz. Wir bewegen uns auf Rakka zu, aber wir sind noch weit davon entfernt. (…) die Zeit hängt von den Ergebnissen der verschiedenen derzeit stattfindenden Kämpfe ab und deshalb lassen sich Zeitpunkte nicht genau definieren.

El País: Russland hat eine intensive Kampagne von Luftangriffen gegen die wichtigsten Positionen der Opposition begonnen. Das stellte einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung dar. So sehen das inzwischen viele so, daß die Initiative jetzt bei Ihnen ist. Meinen Sie, daß dies auch ohne Hilfe von außen erreicht hätten?

Al Assad: Zweifellos war die russische und iranische Unterstützung wesentlich für unsere Armee, um diesen Fortschritt zu erzielen. Aber zu sagen, daß wir nicht in der Lage gewesen wären, diese Erfolge zu erringen, ist hypothetisch. Ich will damit sagen, daß darauf niemand eine eindeutige Antwort geben kann.
Aber auf jeden Fall brauchen wir diese Hilfe, aus einem einfachen Grund: mehr als 80 Länder unterstützen die Terroristen auf unterschiedlichen Art und Weise. Einige direkt mit Geld, logistischer Unterstützung, Waffen oder Kämpfern. Anderen Länder leisten politische Unterstützung in verschiedenen internationalen Foren. Syrien ist ein kleines Land. Wir können kämpfen, aber es gibt eindeutig eine bedingungslose Unterstützung für diese Terroristen und es ist offensichtlich, dass wir in dieser Situation internationale Unterstützung benötigten. (…)

El País: Was die russischen Luftangriffe angeht: Beunruhigen Sie die zivilen Opfer nicht? Am Montag wurde ein Krankenhaus bombardiert und dabei 50 Menschen getötet. Die USA beschuldigen dafür Russland.

Al Assad: Andere Verantwortliche aus den USA sagten, dass man nicht weiß, wer die Tat begangen hat, allerdings kamen diese Aussagen erst später. Diese widersprüchlichen Aussagen sind häufig in den USA, aber niemand hat einen Beweis, wer den Angriff beging und wie. Was die Opfer angeht, so ist dies ein Problem in jedem Krieg. Natürlich bin ich über den Tod jedes unschuldigen Zivilisten in diesem Konflikt sehr traurig, aber das ist eben Krieg. Kriege sind schlecht, es gibt keinen guten Krieg, weil es immer Zivilisten und Unschuldige geben wird, die den Preis zahlen werden.

El País: Wie erklären Sie also Ihrem Volk, den Syrern, daß eine fremde Armee in seinem Gebiet operiert, die zivile Opfer verursacht? Sehen Sie das als etwas Unvermeidliches?

Al Assad: Es gibt keinen Beweis dafür, daß die Russen zivile Ziele angegriffen haben. Sie sind sehr präzise in ihren Angriffen und greifen täglich Basen und Positionen der Terroristen an. Es sind die Amerikaner, die zahlreiche Zivilisten im Norden von Syrien getötet haben. Bisher kam es zu keinem einzigen russischen Zwischenfall mit Zivilisten, da die Russen nicht Zivilisten angreifen und sich bei ihren Angriffen vor allem auf ländliche Gebiete konzentrieren.

El País: Wo wir bei den ausländischen Armeen sind: Wie würden Sie reagieren, wenn die Türkei und Saudi-Arabien ihre Drohungen wahrmachen, Truppen in Ihr Land zu entsenden, unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen?

Al Assad: Wie Sie sagen, handelt es sich um einen Vorwand. Sollten sie das machen, so werden wir mit ihnen genauso verfahren wie mit den Terroristen. Wir werden unser Land verteidigen. Ein solches Vorgehen stellt eine Aggression dar. Sie haben kein Recht, in Syrien zu intervenieren, politisch oder militärisch. Es wäre eine Verletzung des Völkerrechts und für uns als syrische Bürger gäbe es nur die Möglichkeit, zu kämpfen und unser Heimatland zu verteidigen.

El País: Die Türkei hat begonnen, von ihrem Territorium aus syrischen Gebiete zu bombardieren.

Al Assad: In der Tat. Davor schickte die Türkei Terroristen. Sie arbeitet auf das gleiche Ziel hin und erzielt die selben Effekte mit verschiedenen Mitteln. Die Türkei ist in die Ereignissen in Syrien seit Anfang an involviert.

El País: Saudi-Arabien hat versucht, die Opposition auf einer Konferenz in Riad zu vereinen. Einige mit al-Qaida verbandelte Kämpfer nahmen an den Sitzungen teil. Gibt es eine Gruppe der bewaffneten Opposition, die Sie als legitime Partei erkennen würden, mit denen du verhandeln können?

Al Assad: Beziehen Sie sich auf Gruppen, die im Feld im Einsatz sind?

El País: Ja.

Al Assad: Nein. Unter rechtlichen und verfassungsmäígen Gesichtspunkten ist jeder, der Waffen ergreift gegen gegen das Volk und gegen die Regierung, ein Terrorist, in seinem Land, in unserem Land oder in jedem anderen Land der Welt. Wir können nicht sagen, dass diese Menschen Legitimität genießen. Sie können legitim werden, wenn die Waffen niederlegen und am politischen Prozess teilnehmen. Dies ist die einzige Möglichkeit in jedem Land, für den Wiederaufbau oder Änderungen im Gesetz, der Verfassung oder der Regierung. Dies kann mittels eines politischen Prozesses durchgeführt werden und nicht mit vorgehaltener Waffe.

El País: Sie betrachten also alle bewaffneten Kämpfer als Terroristen?

Al Assad: Immer, solange sie nicht bereit sind, sich den politischen Prozess einzubeziehen. Nur dann werden wir kein Problem mit ihnen haben.

El País: Unabhängig von ihrer Absichten, wenn sie ihre Waffen aufgeben und zurückkehren wollen, so können sie es tun?

Al Assad: Wir werden ihnen Amnestie gewähren, und dies hat bereits in den letzten zwei Jahren stattgefunden und sich in letzter Zeit beschleunigt. Viele von ihnen legten ihre Waffen nieder und einige traten in die Reihen der syrischen Armee ein und bekämpfen zur Zeit den IS. Sie werden dabei von der syrischen Armee und den russischen Kampfjets unterstützt.

El País: Wenn Sie also alle diejenigen, die die Waffen gegen die Regierung erhoben haben, als Terroristen betrachten, mit wem verhandeln Sie dann in Genf?

Al Assad: In Genf war eine Mischung geplant. Auf der einen Seite die Terroristen und Extremisten, die in Saudi-Arabien ausgebildet wurden und von denen einige Al-Qaida angehören. Die andere Seite sollten Oppositionelle stellen, die im Exil oder in Syrien leben. Mit Letzteren können wir verhandeln, als patriotische Syrer, die mit ihrem Heimatland verbunden sind, aber keinesfalls werden wir mit Terroristen verhandeln, und deshalb ist die Konferenz gescheitert.

El País: Und die Führer und Aktivisten der Opposition, die bereits vor dem Ausbruch des Konflikts 2011 in Syrien inhaftiert wurden und bis jetzt in Haft sind?

Al Assad: Die wurden alle längst entlassen und bilden heute einen Teil der Opposition.

El País: Alle?!

Al Assad: Jeder kam vor 2010 aus dem Gefängnis, darunter auch einige Terroristen, die bis zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden waren, zum Beispiel auf fünf Jahre. Sie saßen die Haftstraße ab und kamen frei, und als die Krise begann, integrierten sie sich wieder in terroristische Gruppen.

El País: Haben Sie dafür Beweise?

Al Assad: Ja. Einer von ihnen starb vor kurzem, Zahran Alloush. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er in Verbindung mit Al Qaida war. Als die Krise begann, gründete er seine eigene Terrorgruppe.

El País: Nach einigen Schätzungen gibt es 35.000 ausländische Dschihadisten in Syrien, darunter 4.000 aus Europa. Die spanische Regierung erklärt, dass etwa 300 davon einen spanischen Paß besitzen. Was geschieht mit ihnen, wenn sie in die Hände der syrischen Armee fallen?

Al Assad: Die Spanier?

El País: Die ausländischen Dschihadisten im allgemeinen.

Al Assad: Zunächst verfahren wir uns mit ihnen wie mit anderen Terroristen. Aus rechtlicher Sicht gibt es keinen Unterschied aufgrund der Staatsangehörigkeit, aber wenn Sie die Frage der Auslieferung an ihre Heimatländer ansprechen, so wird diese im Rahmen der institutionellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern stattfinden .

El País: In diesem Zusammenhang: Was ist es aus Ihrer Sicht, das so eine große Zahl an Ausländern nach Syrien zieht?

Al Assad: In erster Linie die Unterstützung, die sie erhalten. Sie erhalten echte Unterstützung von außen. Saudi-Arabien ist der wichtigste Financier dieser Terroristen. Sie setzen sie in Flugzeuge und schicken sie in die Türkei und dann nach Syrien. Der andere Faktor der Anziehungskraft liegt im Chaos, denn das ist ein Nährboden für Terroristen. Der dritte Faktor ist die Ideologie, auf Grundlage ihrer Verbindung mit Al-Qaida. Dieses Gebiet hier hat in unserer religiösen Kultur, der des Islam, eine sehr prominenter Lage nach Mekka, Jerusalem und anderen heiligen Stätten.(*2) Sie denken, sie können herkommen und hier ihren Staat einrichten und sich von hier in der Folge territorial ausbreiten. Aber die Idee ist zunächst, dass sie kommen können, um für Allah und den Islam zu kämpfen und zu sterben, das ist für sie der Dschihad.

El País: Wenn die Regierung wieder die Kontrolle über das gesamte Territorium Syriens erlangt, würden Sie dann einen politischen Prozess einleiten? Wären Sie bereit, wieder Wahlen zuzulassen?

Al Assad: Das Normalste wäre die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die alle politischen Strömungen versammelt, die daran teilnehmen wollen. Diese Regierung sollte die Bedingungen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vorbereiten, weil wenn man über die Zukunft Syriens sprechen und sie mit den verschiedenen Parteien diskutieren will, und wie die internen Problem zu lösen wären, so muß eine Verfassung ausgearbeitet werden. Die Verfassung muss unbedingt mittels einer Volksabstimmung bestätigt werden. Und auf die neue Verfassung sollten vorgezogene Wahlen folgen. Wenn die Menschen oder die verschiedenen Parteien, Wahlen abhalten wollen, werden wir sie abhalten. Aber den politischen Teil des Problems zu lösen, hat nichts mit meiner persönlichen Meinung zu tun.

El País: Wo sehen Sie sich in 10 Jahren?

Al Assad: Das Wichtigste ist, wie ich mein Land sehe, weil ich ein Teil meines Landes bin. Deshalb möchte ich nach zehn Jahren sagen können: ich habe Syrien gerettet, aber das bedeutet nicht, dass ich dann noch Präsident sein muß. Ich spreche über meine Vision für diese Zeitspanne. Syrien wird in Ordnung kommen und ich werde die Person sein, die ihr Land gerettet hat. Das ist jetzt mein Job, und das ist meine Pflicht. So sehe ich mich in Bezug auf meine Stellung und für meine Person als syrischen Staatsbürger.

El País: Aber werden Sie in 10 Jahren an der Macht sein?

Al Assad: Das ist nicht mein Ziel. Mich interessiert mein Machterhalt nicht. Wenn das syrische Volk mich an der Macht will, ist, dann werde ich dort sein, und wenn nicht, dann nicht. Wenn ich meinem Land nicht helfen kann, dann müßte ich es sofort verlassen.

El País: Lassen Sie mich ein Teil des Berichts des Menschenrechtsrats der UNO zu Syrien zitieren, der am 3. Februar veröffentlicht wurde: „Einige von der Regierung Verhaftete wurden zu Tode geprügelt oder starben als Folge der durch Folter erlitten Verletzungen.“ Es wird hinzugefügt, daß die Regierung Kriegsverbrechen begangen hat.

Al Assad: Das ist ähnlich wie das, was Katar vor ungefähr einem Jahr in einem gefälschten Bericht mit nicht überprüfbaren Bildern von verletzten Menschen veröffentlicht hat, gestützt auf Informationen aus zweifelhaften Quellen. Diesen Bericht schickte es dann an die UNO. Dies ist Teil der Medienmanipulation gegen Syrien. Das ist das Problem, der Westen und seine Medienkampagne. Ungeprüfte Informationen werden verwendet, um Syrien zu beschuldigen und verantwortlich zu machen und dann Maßnahmen gegen Syrien zu ergreifen.

El País: Die Welt wurde durch das Bild des Buben Aylan Kurdi schockiert, eines syrischen Flüchtlings, die drei Jahre alt war, als er tot an einem Strand in der Türkei gefunden wurde. Was für Gefühle hat dieses Bild bei Ihnen ausgelöst?

Al Assad: Es ist eines der traurigsten Momente des syrischen Konfliktes, daß es Menschen gibt, die ihr Land aus verschiedenen Gründen verlassen. Aber jenseits der empfundenen Gefühle ist das die Frage, die die syrischen Staatsbürger uns als politisch Verantwortliche stellen: was werden wir tun? Welche Schritte wurden unternommen, um den Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, oder gar nicht erst flüchten zu müssen?
Es gibt da zwei Gründe für die Flucht. Der erste, mit dem wir konfrontiert sind, ist natürlich der Terrorismus, weil die Terroristen nicht nur die Bevölkerung bedrohen, sondern den Menschen auch ihre Existenzgrundlage entziehen. Der zweite Grund ist das Embargo, das gegen Syrien durch den Westen, vor allem den USA, verhängt wurde und weitere Schwierigkeiten für das Leben der Menschen hier verursacht hat, vor allem im Gesundheitssektor. Wir müssen uns diese Gründe bewußt machen, um zu verhindern, daß diese Tragödie noch eine weitere lange Zeit andauert.

El País: Sie haben erwähnt, daß einige dieser Flüchtlinge vor dem IS fliehen, aber einige sagen, sie flüchten vor der Regierung oder den militärischen Angriffen, die die syrische Regierung in einigen Regionen durchführt.

Al Assad: Ich könnte Ihnen Tatsachen nennen, die dem widersprechen, was Sie auch während Ihres Aufenthalts in Syrien sehen können: die meisten Menschen aus Regionen unter Kontrolle von Terroristen sind in die Gebiete umgezogen, die unter Kontrolle der Regierung sind. Wenn sie vor der Regierung flüchten, warum dann in Gebiete unter deren Kontrolle? Da stimmt etwas nicht.
Jetzt hingegen, wenn es Kämpfe, Schießereien oder Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Terroristen in bestimmten Gebieten gibt, so ist es natürlich, dass die meisten der Bewohner die Gegend verlassen, aber das bedeutet nicht, daß sie vor der Regierung fliehen. Manche von denen, die auf Gebiete unter der Kontrolle der Regierung flüchten, sind selbst Verwandte von Rebellen.

El País: Nach internationalen Schätzungen sind rund fünf Millionen Menschen aus Syrien geflüchtet. Eine Million haben Europa durchquert. Welche Garantien gibt es für diese Leute, frei und ohne Angst vor Repressalien zurückkehren zu können?

Al Assad: Selbstverständlich können sie zurückkommen, ich meine, sie haben das Recht dazu. Sie sind, sofern es sich nicht um Terroristen oder Mörder handelt, nicht vor der Regierung geflüchtet. Einige von ihnen, vermutlich eine große Anzahl, sind Anhänger der Regierung und flüchten nicht vor ihr, aber wie gesagt, die Lebensbedingungen haben sich in den letzten fünf Jahren beträchtlich verschlechtert. Sie können jedenfalls zurückkehren, ohne daß die Regierung irgendwelche Maßnahmen gegen sie ergreifen würde. Wir wollen, daß die Menschen nach Syrien zurückkehren.

El País: Was kann Ihre Regierung tun, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, der zum Ertrinken so vieler Menschen im Mittelmeer geführt hat?

Al Assad: Wie gesagt, das hängt nicht nur von Syrien, sondern auch vom Rest der Welt ab. Zunächst muss Europa das Embargo gegen das syrische Volk aufheben, denn es ist in Wirklichkeit nicht ein Embargo gegen die syrische Regierung, sondern gegen das syrische Volk. Zweitens sollte die Türkei aufhören, Terroristen nach Syrien zu schicken. Drittens, was uns als Regierung betrifft, so müssen wir unbedingt die Terroristen bekämpfen, und wir müssen die Lebensbedingungen der Bürger mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verbessern, um zu ermöglichen, daß die Syrer zu Hause bleiben. Dies ist der einzige Weg, diese Menschen zurück zu bringen oder davon zu überzeugen, in ihre Heimat zurückzukehren. Ich bin sicher, dass die meisten von ihnen nach Syrien zurückkehren möchten.

El País: Als Sie Ihr Amt antraten, versprachen Sie demokratische Reformen in einer Zeit, die „Damaszener Frühling“ genannt wurde. Einige glauben, wenn diese Reformen schneller umgesetzt worden wären, hätte das viele Menschenleben retten können. Vor allem die Opposition und die USA behaupten: daß, wären Sie zurückgetreten, hätten viele dieser Leben gerettet werden können. Was sagen Sie dazu?

Al Assad: Die Frage ist die: Welches Verhältnis besteht zwischen dem, was Sie hier erwähnen und dem Senden von Geld und Waffen und direkter Unterstützung von Terroristen durch Katar? Wie ist das Verhältnis zwischen dem von Ihnen Erwähnten und der Rolle der Türkei als Unterstützer der Terroristen? Welcher Zusammenhang besteht zur Anwesenheit von IS und al-Nusra in Syrien? Der hier hergestellte Zusammenhang ist also nicht korrekt. Wenn Sie den Premierminister in einem beliebigen Regime ändern möchten, ob in Ihrem Land oder in jedem anderen Land, so müssen Sie das mittels eines politischen Prozesses tun. Nicht mit Waffen. Der Einsatz von Waffen kann nicht der Weg sein, ein Regime zu ändern oder eine Demokratie aufzubauen. Demokratie läßt sich nicht mit vorgehaltener Waffe einrichten, wie die Erfahrung der USA im Irak zeigt. Das Gleiche wie im Jemen. Präsident [Ali Abdullah] Saleh trat wegen der gleichen Vorwürfe zurück. Was ist im Jemen geschehen? Ist es dort vielleicht jetzt besser? Keinesfalls, und es gibt keinen Zusammenhang [zwischen erzwungenen Rücktritten und Demokratisierung]. Wir können Demokratie durch Dialog und gleichzeitig die Anhebung des Niveaus der Gesellschaft in Richtung Demokratie erreichen, um die Demokratie zu errichten. Wahre Demokratie muss auf der Grundlage der Gesellschaft selbst festgelegt werden: inwiefern wir uns gegenseitig akzeptieren. Diese Region ist ein Schmelztiegel, der die verschiedensten ethnischen Gruppen, Sekten und Religionen vereint. Können sich die alle gegenseitig akzeptieren? Wenn es gelingt, dann könnte die Akzeptenz eine politische Dimension erreichen und dann die wahre Demokratie einrichten. Es ist also keine Frage des Präsidenten. Sie haben versucht, das Problem zu personalisieren, nur um zu beweisen, dass es ein einfaches Problem ist und daß alles gut wird, wenn der Präsident sein Amt verlässt. Diese Ansicht entbehrt jeder Grundlage.

El País: Angesichts so vieler verlorener Leben und zerstörter archäologischer Stätten in den vergangenen 5 Jahren: hätten Sie etwas anderes getan?

Al Assad: Generell – wenn wir schon über Prinzipien reden wollen –, so haben wir von Anfang an gesagt, daß wir Terroristen bekämpfen werden und daß wir bereit sind für einen Dialog. Wir führen einen offenen Dialog mit allen, außer mit Terrorgruppen. Gleichzeitig haben wir auch den Terroristen eine Türe geöffnet, ihre Waffen niederzulegen und ins normale Leben zurückzukehren, indem wir eine allgemeine Amnestie angeboten haben. Das ist also der Beginn einer umfassenden Lösung. Jetzt, fünf Jahre später, kann ich nicht sagen, dass dies ein Fehler war, und ich denke, wir werden unsere Grundsätze nicht ändern. Die Durchführung der Maßnahmen muß man den Umständen anpassen, da das von verschiedenen Entscheidungsträgern, Institutionen, Personen und Individualitäten abhängt. Jeder kann Fehler machen, das kann passieren. Also, wenn wir etwas ändern wollen, wenn wir diese Fehler vermeiden könnten, die auf verschiedenen Gebieten begangen worden sind, hätten wir es getan; das ist es, was ich tun würde, wenn ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte.

El País: Aus Ihrer Sicht waren also von Anfang an diese Proteste in Deraa und Damaskus terroristisch und durch ausländische Streitkräfte infiltriert. Wie haben Sie diese ersten Demonstrationen gegen die Regierung erlebt?

Al Assad: Am Anfang war es eine Mischung von Demonstranten. Zunächst bezahlte Katar Demonstranten, um sie dann auf Al Dschasira groß herauszubringen und im weiteren die Weltöffentlichkeit davon überzeugen, daß sich das Volk gegen den Präsidenten erhoben habe. Das Maximum waren 140.000 Demonstranten in ganz Syrien, das ist keine große Menge, und verursachte uns keine Besorgnis. Dann unterwanderten sie die Demonstrationen mit Bewaffneten, die Feuer auf Polizei und Demonstranten eröffneten, um weitere Proteste zu provozieren. Als das auch scheiterte, begannen sie die Terroristen mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Gab es auch Demonstranten, die von lauteren Absichten bewegt waren? Was wollten sie? Sicher gab es solche auch, aber nicht alle waren so. Weder kann man sagen, daß alle ehrbar waren, noch kann man sagen, daß alle Terroristen waren.

El País: Sie besuchten Spanien zweimal. Die Präsidenten José María Aznar und Jose Luis Rodriguez Zapatero haben ebenfalls Syrien während Ihrer Amtszeit besucht. Wie gestalteten sich seither Ihre Beziehungen zu Spanien?

Al Assad: Spanien ist generell gegen eine riskante Lösung in Syrien. Das ist etwas, was wir zu schätzen wissen. Es hat keine militärische Aktion gegen Syrien unterstützt und sogar davor gewarnt, daß dergleichen die Situation weiter komplizieren würde. Nie brachte Spanien zur Sprache, den Präsidenten zu stürzen oder versuchte, sich in unserem inneren Angelegenheiten einzumischen. Die spanischen Politiker sagten, daß jede politische Lösung auf Basis eines politischen Prozesses erfolgen muss. Das ist sehr gut. Gleichzeitig ist Spanien ein Teil der EU und damit auf die Entscheidungen der Union verpflichtet. Wir erwarten, daß Spanien eine Vermittlerrolle spielen und unsere Botschaft weitergeben, und unsere politische Vision des Konflikts in Syrien in der EU verbreiten wird.

El País: Ist Lateinamerika die Region, von der Sie die meiste Unterstützung erhalten?

Al Assad: Generell ist es seltsam und bedauerlich zugleich, daß jene Länder, die am weitesten von Syrien entfernt sind, ein viel realistischeres Bild von dem haben, was in Syrien geschieht, als die Europäer, die uns von der Distanz her näher wären, uns jedoch als ihren Hinterhof betrachten. Ich spreche hier gleichermaßen von der offiziellen Ebene als auch von Bürgern. Die Lateinamerikaner kennen uns viel besser und unterstützen Syrien in allen internationalen Foren und haben ihre Position seit dem Beginn der Krise nie geändert.

El País: Die größte syrische Exilgemeinde befindet sich in Brasilien. Wie ist Ihr Verhältnis zur brasilianischen Regierung?

Al Assad:Die Beziehungen sind normal, genau wie mit Argentinien, Venezuela, Kuba und allen lateinamerikanischen Ländern. Unsere Beziehungen haben sich durch die Krise nicht geändert, sie verstehen die Situation mit jedem Tag besser und gewähren Syrien jede erdenkliche Unterstützung. Darin unterscheiden sie sich sehr von der europäischen Position.
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(*1) Es handelt sich um den Sicherheitsratsbeschluß 2254, der im Dezember 2015 gefaßt wurde.

(*2) Al Assad bezieht sich hier auf den Umstand, daß die erste Dynastie der Kalifen, die der Omayaden, ihren Sitz in Damaskus hatte. Dem Territorium Syriens kommt also eine große Bedeutung in den Anfangszeiten des Islam und seiner Verbreitung zu.

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Wenn die größte spanische Tageszeitung einen Sonderkorrespondenten nach Damaskus schickt und Baschar Al Assad die Gelegenheit gibt, sich in einem langen Interview von seiner Schokoladenseite zu präsentieren und ein befriedetes Syrien als möglichen Hort der Stabilität im Nahen Osten in Aussicht zu stellen, so hat die Redaktion dieser Zeitung etwas vor.

Sie will sich zum Vorreiter eines Schwenks in der Nahostpolitik machen. Zunächst will sie der spanischen Regierung und Außenpolitik ein Hölzl werfen, daß es hier die Möglichkeit einer Profilierung innerhalb der EU gibt. Sie will der Führungsmacht Deutschland ins Zeug flicken und die Ursachenbekämpfung des „Flüchtlingsproblems“ in den Vordergrund rücken.
Das Interview erwähnt auch, scheinbar am Rande, daß die bei uns in den Medien breitgetretene Sichtweise zum Syrienkonflikt nicht nur in Rußland oder China nicht geteilt wird, sondern auch in der ganzen spanischsprachigen Welt.

Rekapitulieren wir einmal, was einem solchen Schwenk gegenübersteht.

Würde man das Feindbild Assad beiseiteschieben und anerkennen, daß er die legitime Regierung Syriens dasteht, die von allen Minderheiten Syriens und praktisch allen säkulär eingestellten Syrern unterstützt wird, so müßte man die syrische Armee und die mit ihr verbündeten kurdischen Milizen gegen den IS, die al-Nusra-Front und andere islamistische Gruppierungen unterstützen.

Das hieße erstens eine völlige Abkehr von der bisherigen Nahostpolitik der USA – und auch der EU.
Es würde eine Brüskierung ihrer Verbündeten Saudi-Arabien und Katar bedeuten.
Es wäre eine Bestätigung der territorialen Integrität Syriens.
Es würde wahrscheinlich zum Zerfall der Türkei führen, was dieses Land als NATO-Partner unbrauchbar machen würde.

Rußlands Außenpolitik wäre triumphal bestätigt und ins Recht gesetzt.

Es würde, wie das Interview zeigt, auch innerhalb der EU weitere Gräben aufreißen, weil die ganze EU- und vor allem die deutsche Außenpolitik blamiert wäre.
Das hätte weitreichende Folgen auch für Beziehungen zwischen EU und USA, und die Ukraine-Politik der beiden westlichen Blöcke,
und damit auch auf TTIP und das System der gegenseitigen Kreditstützung.