María Antonia Sánchez-Vallejo
„DIE LANGE GRIECHISCHE AGONIE
Trotz der Rettungspakete der Euro-Gruppe zeigt die griechische Wirtschaft nach sechs Jahren harter Anpassungen Anzeichen von Entkräftung .“
Nun ja. Korrekt ausgedrückt müßte es heißen: „Nach 6 Jahren sogenannter Rettungspakete, die die Gläubiger Griechenlands vor Verlusten bewahren, ist die griechische Wirtschaft ziemlich am Boden.“
Was die „Anpassungen“ betrifft, so wird überhaupt nichts „angepaßt“ – was eigentlich an was? – sondern der griechischen Ökonomie in einem fort Mittel entzogen, was zum Schrumpfen der Wirtschaftsleistung führt. Mit „Anpassung“, einem Vokabel, das aus dem segensreichen Wirken des IWF während der vergangenen Jahrzehnte herrührt, wird sehr plump so getan, als gäbe es ein richtiges Maß an Armut, bei dem dann die Gewinne der Unternehmer und Banken wieder in Schwung kommen. Diese Lüge blamiert sich an Griechenland sehr gründlich.
Es wäre allerdings auch nicht richtig, die Rettungspakete und die mit ihnen einhergehenden Kürzungen von Gehältern und Pensionen sowie Preis- und Steuererhöhungen allein für den trostlosen Zustand Griechenlands verantwortlich zu machen. Sein Kredit, der mit diesen Maßnahmen vom Rest der Eurozonen-Länder gestützt wird, ist Griechenland ja schon vorher abhanden gekommen. Daß es nicht gelingt, ihn wiederherzustellen, ist ein Ärgernis für die EU und den IWF und führt inzwischen auch zu deutlichen Spannungen zwischen diesen beiden Institutionen.
Zurück zur Analyse des El País, dem die EU eine heilige Kuh ist.
„Trotz der Rettungsleine, die die Euro-Gruppe Griechenland diesen Dienstag hingeworfen hat, zusammen mit dem Versprechen der Umschuldung, die mit dem Datum 2018 gut dem deutschen Wahlkalender angepaßt ist, scheint das Schulterklopfen für Athen lediglich einen Zeitgewinn zu bezwecken.“
Eine Augenauswischerei, auf gut Deutsch. Fragt sich nur, auf wen zielt sie?
„Die Wirtschaftskrise, verbreitet sich im siebten Jahr der Rezession nach einer kurzen Aufschwung zwischen 2014 und 2015 wie ein Ölfleck;“
Ein schönes Bild. Man muß der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß der erwähnte Aufschwung eine reine Showaktion für die europäische Öffentlichkeit und das griechische Wählervolk war, um die Nea Demokratia als Konkursverwalter im Sattel zu halten.
„– sie betrifft inzwischen nicht nur die Arbeiterklasse, sondern verbreitete sich durch Arbeitslosigkeit und den Verlust von Subventionen und Sozialleistungen auch auf die qualifizierten Berufe, die Vertreter einer Mittelklasse und Oberschicht, die zunehmend durch neue steuerliche Anpassungen und die dringend gebotene Liberalisierung des Arbeitsmarktes gesellschaftlich abstürzt.“
Was die „dringend gebotene Liberalisierung des Arbeitsmarktes“ angeht – auf gut deutsch: jeder soll für jeden Hungerlohn arbeiten gehen müssen, dem Ideal nach – so wurde sie mitsamt den „Hilfspaketen“ und „Rettungsleinen“ von der Troika verordnet, also das Gebot hat Subjekte und ist nicht eine vom Himmel gefallene Notwendigkeit.
Die gleichzeitig brutale und dumme Vorstellung, die dergleichen zugrundeliegt, ist die, daß man die Arbeitskraft nur gründlich genug verbilligen muß, um die heiß ersehnten Investoren anzulocken.
Man fragt sich, warum so wenig Investoren nach Afrika eilen? Dort sind die Löhne konkurrenzlos niedrig.
Oder nach Rumänien oder ins Baltikum, dort gäbe es ebenfalls Niedriglöhne innerhalb der EU. Stattdessen wandern von dort Billigarbeiter ab, um dann in anderen EU-Ländern den Preis der Arbeit zu drücken.
Es ist jedenfalls der Preis der Arbeitskraft nicht der einzige Gesichtspunkt bei den Standortentscheidungen des Kapitals.
„Nach vier aufeinander folgenden Monaten von Streiks, in Folge derer sich Tausende von Gerichtsakten aufgetürmt haben, beschlossen die Anwälte, ihren Streik im Juni zu verlängern. Berufsgruppen in Anzug und Krawatte stehen jetzt an der Spitze der Demonstrationen gegen die Reformen der Regierung anstelle derer, die von den traditionellen Gewerkschaften angeführt wurden, die bereits unzählige Generalstreiks ausgerufen haben, nur um ihre Wirkungslosigkeit festzustellen. Griechenland erlebt eine noch nie dagewesene Mobilisierung, die Togen und Hacken vereint; eine allumfassende und allgemeine Unzufriedenheit, klassenübergreifend und über Gewerkschaftserklärungen hinausgehend. Ein Gefühl von extremer Erschöpfung.
Unterdessen wächst der Schuldenberg von 330 Mrd. €, 180% des BIP – und behindert jegliche Erholung. Auf jeden Bewohner Griechenlands,– passive Klassen, Kinder und Babys inbegriffen – kommt eine Schuld von 30.000 € pro Kopf. Diese Schuld bleibt auch dann aufrecht, falls es zu einer Erleichterung des Schuldendienstes kommen sollte.“
Dieser leicht kryptische Satz stellt klar, daß eine Schuldenstreichung für Griechenland auf keinen Fall in Frage kommt, und alle Umschuldungen daher nur Fristverlängerungen beinhalten dürfen.
„Nachdem zwei ernsthafte Bedrohungen in Sachen Grexit in den Jahren 2011 und 2015 in letzter Minute abgewendet wurden, hat das letzte diesbezügliche Treffen der Euro-Gruppe den Geist des dritten wohl gebannt, aber den Mängeln der Realwirtschaft kaum abgeholfen. Es kam lediglich zur Auszahlung einer Tranche des dritten Rettungspakets in der Höhe von 10.3 Mrd. €, die vollständig für Fälligkeiten von 11 Mrd. € im Juni und Juli aufgeht.
Für Dimitris Rapidis, politischer Analyst und Berater von Syriza »verschafft der Abschluss der ersten Überprüfung des (Rettungs-)Programms der Regierung Zeit, ihre beiden obersten Prioritäten voranzubringen: die Förderung von Investitionen und vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen.«“
Man fragt sich, wie die Regierung mit diesen „Prioritäten“ vorankommen will. Weder hat sie irgendwelche Mittel, um selbst aus der Staatskasse Investitionen zu machen oder sie für das private Kapital attraktiv zu machen. Noch ist sie in der Lage, Arbeitsplätze zu schaffen. Im Privatsektor ist das Sache des privaten Kapitals, und im Staatssektor gibt es durch Troika-Auflagen praktisch ein Einstellungsverbot. Man könnte höchstens die vorhandenen Arbeitsplätze in jeweils 2 aufteilen und sowohl dem bisherigen Beamten/Lehrer/Arzt/Rundfunkangestellten als auch den neu Eingestellten jeweils die Hälfte zahlen, es ist aber nicht sicher, ob das von den Betroffenen gut aufgenommen würde. Aber die Regierung ist zuversichtlich:
„Man setzt auf folgende vier Sektoren: »Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Tourismus, mit dem Flaggschiff der Einweihung der TAP [Trans Adriatic Pipeline] in Thessaloniki in ein paar Wochen, die ein positives Signal für die ausländischen Märkte darstellt«, wie er unterstreicht.“
Man muß hier bemerken, daß es sich bei dieser „Einweihung“ um die Verlegung der ersten Rohre handelt. Bis durch durch diese Rohre Gas fließt, dauert noch ein paar Jahre – vorausgesetzt, der entsprechende und viel längere Teil durch die Türkei kommt zustande.
Verlegung der ersten Rohre für eine sehr unsichere Pipeline – das soll die internationalen Finanzmärkte begeistern und das Arbeitsplatzwunder per se darstellen?
Irgendwie werden hier Textbausteiene aus saudummen Ökonomiebüchern genommen und beliebig zusammengestellt, um die Illusion zu verbreiten, die Regierung hätte irgendein anderes Konzept als Konkursverwaltung.
„In einem rapide alternden Land wurden in diesem Monat die Pensionen seit 2010 zum 11. Mal gekürzt – ein Rückgang von fast 50% in sechs Jahren –, obwohl sie für mehr als ein Drittel der griechischen Familien die einzige Einkommensfamilien darstellen, während die Arbeitslosigkeit sich bei 25% verfestigt, da ihre strukturelle Komponente sich ca. auf 20% beläuft, erinnerte der IWF diese Woche. »Das heißt, es wird einige Zeit dauern, bis die Arbeitslosigkeit zurückgeht, nach und nach auf 18% im Jahr 2022, 12% im Jahr 2040 und 6% erst im Jahr 2060.«“
Abgesehen davon, daß der IWF für diese aus den Fingern gesogenen Prognosen überhaupt keine Anhaltspunkte hat, so sagt er doch damit, daß in den nächsten Jahren sowieso keine Verbesserung zu erwarten ist – ganz wurscht, wie sehr die Regierung „Prioritäten“ setzt:
„»Der Beitrag der Arbeit zum Wachstum wird nur 0,3% betragen«, das ist das niederschmetternde Urteil des Fonds. Obwohl Premierminister Alexis Tsipras versichert, daß 2017 das Wachstum nach Griechenland zurückkehren wird,“
Worauf sich wohl dieser fromme Wunsch gründet?
„(so sieht das auch die EU, die ein Wachstum von 2,7% prognostiziert),“
Das ist eine dreiste Lüge, die allen Mitgliedsländern aufgetischt wird, damit sie weiter der Kreditierung Griechenlands zustimmen, obwohl eigentlich klar ist, daß das eine Ende-Nie-Veranstaltung ist.
„steht am Ende dieses langen Fegefeuers ein Pyrrhussieg:“
Bildstörung!
„Lediglich beim öffentlichen Defizit gibt es einige Verbesserungen, “
Das steht in Widerspruch zu einigen Absätzen weiter oben, wo steht, daß es sowohl absolut als auch relativ zum BIP angestiegen ist.
„aber das ist etwas, was die Bürger in der Tasche nicht spüren.“
Alles verkehrt. Das Defizit ist gewachsen und die ganzen aufgenötigten Sparmaßnahmen spüren die Bürger Griechenlands sehr wohl:
„»Die Erhöhung der Beiträge, in einigen Fällen bis zu 70% des Einkommes, trifft die Durchschnittseinkommen schwer, und die Folgen werden schrecklich sein und viele Selbständige auf ein Existenzminimum reduzieren«, sagt Vasilis Kampanis, Präsident des Verbandes der Freien Berufe zu der am 8. Mai beschlossenen unpopulären Reform der Sozialversicherung, – eine weitere Forderung der Gläubiger. Für diese Vereinigung bedeutet »die Erhöhung der Steuerbelastung den Ruin vieler Geschäfte, verstärkte Steuerhinterziehung, Nichtzahlung von Beiträgen, steigende Arbeitslosigkeit und Kapitalflucht. Es wäre sehr wichtig, herauszufinden, wo die Milliarden von Sozialversicherung und Pensionsfonds während 40 Jahren Mißwirtschaft verloren gegangen sind«, sagt Kampanis.“
Oder auch nicht. Wieder auftauchen werden sie wohl kaum, und Gerichtsverfahren gegen die Mißwirtschaftler füllen die leeren Kassen auch nicht auf. Außerdem ist auch hier das Getue lächerlich:
„Nach offiziellen Angaben beläuft sich das Defizit der Sozialversicherungsanstalt (IKA Pensionskasse der Angestellten) auf eine Milliarde; das der Selbständigen auf 540 Millionen und auf 15,35 Mrd. die Rückstände der Beiträge zur Sozialversicherung bis zum Ende des Jahres 2015.“
1,5 Milliarden Defizit in 40 Jahren, das kann an einem ganz normalen Mißverhältnis zwischen Ein- und Auszahlungen liegen, bei 25% Arbeitslosigkeit kein Wunder. Nichts, worum man Lärm machen müßte. Und die 15,35 Milliarden, die nicht eingezahlt werden, zeigen, was die von den Gläubigern geforderte „Reform der Sozialversicherung“ bringt, nämlich nichts.
„Griechenland ist verbrannte Erde, wirtschaftlich am Boden zerstört. Die Industrieproduktion sinkt Jahr für Jahr, während die Abwanderung von Unternehmen vom Balkan weiter ansteigt. Deshalb wird der ferne Horizont einer Umschuldung oder zumindest eine gewisse Nachsicht bezüglich der zu leistenden Raten das Land weder kurz- oder mittelfristig aus dieser Situation befreien (noch weniger, nach Ansicht der Kritiker, mit einem vorgeschriebenen Budgetüberschuß von jährlich 3,5%, einer gleichsam als Schlachtroß angenommenen Grundlage in den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten, eine nicht bewältigbare finanzpolitische Anstrengung für eine völlig ausgelaugte Wirtschaft).
Nur die allmähliche Lockerung der seit Ende Juni vergangenen Jahres in Kraft befindlichen Kapitalverkehrskontrollen, die die Regierung diese Woche ankündigte, und die touristische Saison, die den Rekord 2015 zu übertreffen verspricht, kann in der unmittelbaren Zukunft ein wenig zur Entlastung der Eurozone beitragen angesichts einer Lage, die sie gleichsam an ihre Südostflanke gefesselt hat.“
Hier denkt die Verfasserin des Artikels an die Entlastung der Eurozone, wenn sie Schönwetter-Prognosen abgibt. Für Griechenland selbst, so heißt das, ist überhaupt nix drin.
„Von der griechischen Wirtschaft bleibt kaum mehr als ein Gehäuse. Oder anders gesagt: ein humpelndes Skelett“ (!!) „nach sechs Jahren der Anpassungen, die die großen strukturellen Anomalien des Staates beheben sollten, der echte bodenlose Abgründe der öffentlichen Ausgaben darstellen.“
Eine Serie von Bildstörungen, die daraus herrühren, daß der Zustand eines Staates, der zahlungsunfähig ist, als „Anomalie“ dargestellt werden soll, obwohl er immer mehr zur Normalität innerhalb der EU wird. Die Maßnahmen, die diese angebliche Anomalie beheben sollen, verschärfen sie nur, aber auch das soll nicht so einfach hingeschrieben werden, weil das hieße ja, daß die Situation unlösbar ist – eine bittere Wahrheit, um die sich die Analysten mit allen Mitteln herumdrücken.
„An erster Stelle steht die enorme Größe des öffentlichen Sektors, gemästet durch Korruption und politische Patronage: Im Jahr 2004 gab es 447.000 Beamte, und im Jahr 2010 waren es 768.000; seit dem ersten Hilfspaket wurden rund 250.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen.“
Diese Zahlen bedürfen einer genaueren Analyse. 447.000 Beamte sind in einem 10 Millionen-Land keine hohe Prozentzahl, wenn man bedenkt, daß hier Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Richter und Angestellte des öffentlichen Verkehrs sowie der Staatsverwaltung inbegriffen sind. Hier soll die Vorstellung erweckt werden, das sei ungeheuer viel. Vergleiche mit anderen Ländern fehlen. Laut OECD- und Weltbank-Statistiken hatte Griechenland bis zum Ausbruch der Krise 2008 keineswegs den größten Beamtenapparat im Verhältnis zur erwerbstätigen Bevölkerung, der Prozentsatz war in einigen nordeuropäischen Staaten viel höher.
Der große Anstieg bis 2010 läßt sich daraus erklären, daß vermutlich zum Abfedern der Krise manche Staatsangestellte einen Beamtenstatus erhalten hatten, die vorher keinen besaßen. Es muß sich also nicht unbedingt um Neueinstellungen handeln, sondern nur um eine Umdefinition bereits bestehender Anstellungsverhältnisse. Die absolute Zahl, so wie sie hier dasteht, ist jedenfalls wenig aussagekräftig. Sie soll aber den Leser dazu bringen, mit viel Verständnis für die Überwindung dieses untragbaren Zustandes die Entlassung von 250.000 Personen gutzuheißen, die EU und IWF Griechenland aufgenötigt haben.
Griechenland zahlt nur ein halbes Jahr Arbeitslosenunterstützung und kennt keine Sozialhilfe. Freiberuflicher kriegen auch die Arbeitslosenunterstützung nicht. Bis zu den im Rahmen der Kreditstützung verordneten Reformen war daher die hauptsächliche staatliche Unterstützung die Pension. Das heißt, daß die meisten dieser 250.000 Entlassenen ziemlich ohne Mittel dastanden. Da die Pensionen inzwischen gekürzt wurden, wie weiter oben erwähnt, so begreift man, warum es an allen Ecken des Landes Suppenküchen gibt und die Anzahl der Obdachlosen und Selbstmorde enorm angestiegen ist.
Außerdem hat Griechenland ein sehr großes stehendes Heer. Möglicherweise macht das Offizierskorps einen Teil der Beamtenschaft aus. Interessanterweise ist dieser Umstand nie Thema bei den Verhandlungen mit der Troika. Beim Heer wird kein Sparstift angesetzt. Man kann über die Gründe nur spekulieren. Einspruch der USA, die Griechenland auf jeden Fall in der NATO und sich daher das Heer gewogen halten wollen? Einsprüche derjenigen EU-Staaten, die Griechenland seit einem Jahrzehnt mit Waffen und Ausrüstung beliefern und nicht wollen, daß diese Geschäfte ans grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden? Oder will man sich das Militär als Garant der Regierbarkeit Griechenlands halten? Können sich EU-Politiker unter bestimmten Umständen eine Neuauflage des Obristen-Regimes unter EU-Anleitung vorstellen?
„Ebenso wird mit Zähnen und Klauen die Steuerhinterziehung bekämpft, dieses schwarze Loch in der Staatskasse, das sich einem Bericht der Europäischen Kommission 2011 zufolge zu Beginn der Krise auf 60 Mrd. Euro in unbezahlten Steuern belief.“
Wie kommt die Europäische Kommission auf diese Summe? Was wurde da alles zusammengezählt? Wieder wird hier mit Zahlen um sich geworfen, um zu zeigen, was da alles im Argen liegt. Es wird nämlich vorgespiegelt, diese 60 Milliarden brauchten ja nur abkassiert zu werden, der Staat hat ein Recht darauf, die Leute müssen sie nur herausrücken. Ob diese Steuern überhaupt vorgeschrieben wurden oder die Organe der EU nur meinen, sie hätten vorgeschrieben gehört, und ob die Betroffenen das Geld überhaupt haben, interessiert hier niemanden. Die Verfasserin schlägt die Hände zusammen und schreibt: 60 Mrd., ach Gottedoch!
„Schließlich bemüht sich Athen um die Abspeckung des defizitären und überlasteten Pensionsystems, über das jahrelang Geld in unzählige Fonds und Sozialkassen abgeflossen ist … Um hier eine Lösung zu erzielen, wurde im Zuge der Reform der Sozialversicherung eine einheitliche Mindestpension von 384 € eingeführt und der stufenweise Abbau der ergänzenden Solidaritätsfonds für niedrigere Renten und der Innungskassen bis zum Jahre 2018 beschlossen.
Als Gegenleistung für die am stärksten betroffenen Personengruppen wird, »die Regierung einen sozialen Solidaritätsfonds schaffen, die den Budgetüberschuss der Jahre 2015 und 2016 zu Gunsten der am stärksten gefährdeten Gruppen in Form einer finanziellen Unterstützung an solche Haushalte verteilt, die mit Steuern oder Darlehen im Rückstand sind, oder an Haushalte mit begrenztem Zugang zu grundlegenden Gütern wie Strom, Wasser oder Energie«, erklärt Rapidis.“
Vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein Budget-Plus, was dem bisher Verlauteten nach unwahrscheinlich ist. Was unterm Strich übrig bleibt, ist, das ganze Familien von einer monatlichen Pension von 384 € leben müssen, um das „überlastete“ Pensionssystem zu entlasten.
„Die Realwirtschaft, die das Land von einem Tag zum anderen bringt, hinkt oder ist zumindest mit dem Überleben beschäftigt. »Nach der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland Ende Juni 2015 verdoppelte sich die Zahl der griechischen Unternehmen in Bulgarien, von 5.500 bis 11.500, parallel mit der Eröffnung von 60.000 Firmenbankkonten. Die Verlagerung des Firmensitzes fand aufgrund des wesentlich günstigeren Steuerklimas statt, weil die Körperschaftssteuer dort mit 10% fast 20 % niedriger ist als in Griechenland, auch die Löhne sind niedriger«, erzählte im Januar Panos Kutsigos, Präsident der der griechisch-bulgarischen Handelskammer. Viele dieser ausgelagerten Unternehmen kommen aus dem Norden Griechenlands. Diese Region liegt sowieso durch jahrhundertelange Vernachlässigung im Argen, mit einer Arbeitslosenquote von mehr als 20% über dem nationalen Durchschnitt, um die 40% und bis zu 70% bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren.
Die Flüchtlingskrise hat sich zur wirtschaftlichen gesellt, nicht nur durch die Kosten, die dem Staat als Gastland durch Bereitstellung von kostenloser Gesundheitsversorgung für alle Flüchtlinge erwachsen sind, oder für die Ausbildung, um den Schulbesuch von Migranten ab September 2015 in allen Ausbildungsschritten zu gewährleisten. Der Migrationsdruck hat auch direkte wirtschaftliche Kosten: Die Sperre der Bahngleise in der Nähe des Lagers Idomeni hat laut dem Wirtschaftsblatt Naftemporiki Verluste von 7.000 bis 10.000 Euro (täglich?) wegen gestrandeter Güter verursacht. Die Blockade, die fast drei Monate gedauert hat, hat auch die Aktivität des Hafens von Piräus eingeschränkt, der inzwischen der chinesischen Firma Cosco gehört, und die Umleitung des Warenverkehrs über Bulgarien hat den Transport verteuert und Verzögerungen zur Folge gehabt. Man erkennt hier die wichtige Rolle der Geostrategie, positiv (der chinesische Appetit zur Kontrolle der Handelsströme, die TAP Pipeline-Route) wie negativ.“
Mit diesem Gut-Schlecht versucht die Autorin dem Umstand, daß Griechenland zumindest noch Transitland für Waren und Energie ist oder sein wird, zu einer möglichen Erfolgsstory umzuinterpretieren – dabei ist es doch nur das Eingeständnis, daß Kapitalakkumulation dort praktisch nicht mehr stattfindet.
„Die Fortdauer der oben genannten strukturellen Ungleichgewichte hat diejenigen belastet, die immer dafür herhalten müssen, die Kleinverdiener. “
Eine exquisite Art, den Sachverhalt auszudrücken. Nachdem wir erfahren haben, daß von der griechischen Ökonomie kaum mehr etwas übrig ist und die Arbeitslosigkeit über 20% beträgt und sich daran nichts ändern wird, erhält diese unerfreuliche Lage den schönen Titel eines „strukturellen Ungleichgewichts“. Mit „un-“ wird behauptet, es gäbe so etwas wie einen tollen Idealzustand, den man durch Veränderung von „Gewicht“ herstellen kann.
„Denn um von der Euro-Gruppe weißen Rauch zu erhalten, musste Griechenland die Schraube noch stärker in Richtung Sparprogramme drehen. Die in Form eines doppelten Paketes in getrennten Abstimmungen am 8. und 22. Mai genehmigten Anpassungen erhöhen die Steuern auf alle erdenklichen Waren, Tourismus und Immobilien. Der Spitzen-Mehrwertsteuersatz wird zwischen dem 1. Juni und dem 1. Januar nächsten Jahres um ein Prozent von 23% auf 24% steigen; auch die Steuern auf Treibstoff und Heizöl, Kaffee, Alkohol, Tabak, Luxusgüter, Festnetztelefondienste, Glücksspiel und Pay-TV werden erhöht.
Für die vierköpfige Familie Adiamandis, mit einer bescheidenen Eigentumswohnung und eingefrorenen Zukunftsplänen, bedeuten die Steuererhöhungen eine weitere Belastung ihrer ohnehin bereits prekären Existenz. »Wir leben von 757 € pro Monat von meiner Arbeit als Buchhalter in einer Firma, die nicht mehr lange bestehen wird. Durch die Erhöhung der Enfia (Grundsteuer) und der Mehrwertsteuer schätze ich, dass unsere Kaufkraft um rund 30% reduziert wird, so können wir nicht einmal von einer Urlaubswoche irgendwo am Land träumen. Allein der Einkaufskorb wird uns von nun an mindestens 25% mehr kosten«, sagt der studierte Ökonom Jorgos Adiamandis.
Die derart herbeigeführte Reduktion der Kaufkraft hat in den letzten Jahren zu einem 40%igen Rückgang des Inlandskonsums, und infolgedessen zu einer andauernden Deflation geführt. Deshalb kann die Familie Adiamandis nicht an irgendwelche Zusatzausgaben denken, wie an Kurse oder Postgraduate-Ausbildungen für ihre beiden studierenden Kinder, die deshalb auswandern wollen. Von den 180.000 bis 200.000 Absolventen und Ärzten, die das Land verlassen haben, sind nur 15,9% nach Griechenland zurückgekehrt, nach Daten des Europarats, was alle Aussichten für die Erholung des Landes vernichtet.
Die ungewisse Zukunft ist eine andere Sackgasse der Krise. Mehrere Indikatoren zeigen, daß diese Gesellschaft sozusagen auf lange Zeit so etwas wie eingefroren ist, wogegen keinerlei Initiativen helfen können.“
Dieser Satz ist fast unmöglich zu übersetzen. Im Original wird das Bild der Zeitlupe bemüht, um zu zeigen, daß jede Sichtweise der griechischen Gesellschaft hoffnungslos ist, aber es wird so getan, als sei dieser Zustand bloß ein Übergang (– wohin?)
„Die Geburtenrate ist seit Ausbruch der Krise um 10%, von 1,3 bis 1,1 Kindern pro Frau gesunken, angesichts der Kürzung der Sozialleistungen und der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes wegen Schwangerschaft. 93% der griechischen Jugendlichen (zwischen 16 und 30 Jahren) »fühlen sich vom wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen«, nach einer vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebenen Umfrage … und dieses Gefühl der Ausgrenzung bewegt 43% von ihnen, ihren Lebensunterhalt im Ausland zu suchen. Nur Zypern, mit 51%, übertrifft Griechenland bezüglich der Abwanderung. Wenn junge Menschen die Zukunft Griechenlands sind, so scheint Griechenland keine Zukunft zu haben.
In nur sieben Jahren hat Griechenland eine seismische Erschütterung, eine existenzielle Veränderung erfahren. Von einem landwirtschaftlich geprägten und armen – »aber seelisch intakten« (mit den Worten des Schriftstellers Petros Markaris) – Griechenland vor noch ein paar Jahrzehnten, zu einer Wirtschaft des XXI Jahrhunderts, funktional und profitabel. »Was wir erleben, ist eine groß angelegte kulturelle Revolution, so extravagant diese Einschätzung auf den ersten Blick scheinen mag. Das Ergebnis wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Entweder wird es eine positive Entwicklung geben, weil sich die Wirtschaft erholt und die Menschen ihre tiefen und schmerzhaften Wunden heilen werden, oder eine negative, einen gescheiterten Staat, einen europäischen Paria oder ein zerstörtes Land«, schließt der Analytiker Rapidis.“
Sehr viel Unsinn in einem Absatz: Das Ideal der funktionalen und profitablen Wirtschaft wird hochgehalten, obwohl weit und breit nichts davon zu sehen ist. Nicht nur in Griechenland, übrigens.
Oder ist damit nur gemeint, daß jede Wirtschaft, in der irgendjemand Profite macht, funktional ist – ganz gleich, wie der Rest der Gesellschaft dasteht? Ist damit das volkswirtschaftliche Dogma angesprochen, nach dem der nicht zahlungsfähige Teil der Menschheit gar nicht existiert, weil er als Nicht-Konsument gar nicht im VWL-Buch aufscheint?
Man merkt auch, wofür so Analytiker wie der Herr Rapidis gefüttert und vor die Mikrofone gebeten werden: um jede Niederlage in einen möglichen Sieg umzuinterpretieren, und alle dazu aufzurufen, das Unmögliche zu vollbringen. Die Quadratur des Kreises sozusagen.
„Es gibt einige positive Entwicklungen, aber sie sind auf Athen und Thessaloniki begrenzt und stehen völlig außerhalb der traditionellen Sektoren, die die produktive Basis Griechenlands ausmachen. In den letzten Jahren sind Start-up-Nester wie Openfund entstanden,“ (ein Unternehmen zur Finanzierung und Beratung von Unternehmensgründungen!) „das 200 Unternehmen betreut, oder The Cube Athens“ (ebenfalls eine Beraterfirma, die auch Büroräume für neu gegründete Unternehmen zur Verfügung stellt,) „entstanden. Die Kleinbetriebe hingegen kümmern vor sich hin, die 85% der Beschäftigten im Privatsektor bei sich vereinigen, mit einer Ausnahme: die unzähligen Imbißstuben, die in der Hitze oder Kälte der Krise entstanden sind, und wo man schnell und sehr billig gut essen kann. 2014 und 2015 wies Griechenland einen starken Anstieg im Index von GEDI (Globales Institut für Unternehmen und Entwicklung ) auf, mit welchem das Ökosystem von Unternehmen der New Economy bewertet wird: E-Commerce, ITT (Telekommunikation), F&E (Forschung und Entwicklung). Auf der Schattenseite der wirtschaftlichen Landschaft stimmt der marode Kohlesektor im Norden seinen Schwanengesang an: (die nächste Bildstörung!) Während er vor zwei Jahrzehnten 70% der Elektrizität des Landes generierte, sind es inzwischen nur mehr 40%.“
Das kann natürlich auch etwas mit der EU-Politik zu tun haben, die die Kohle zurückdrängen will. Der Sektor wird also marode gemacht. Außerdem heißt das, daß die Schießung der Kohlengruben Griechenland dazu nötigen würde, 40 % seines Elektrizitätsbedarfes anderweitig zu generieren oder zu importieren.
Der Artikel schließt – sehr angemessen und sehr angestrengt poetisch – wieder mit einem ganz absurden Bild:
Diese Landschaft wird gleichsam nach der Schlacht nach und nach schwarz übergossen, sie ist voll mit ruinenhaften Diagrammen.
Kategorie: Geld & Kredit
Marktwirtschaft: der Tausch als Quelle der Bereicherung
DAS HANDELSKAPITAL
Ein Blogtext kann natürlich keineswegs all das abdecken, was zur Rolle des Handelskapitals heute zu sagen wäre. Er soll lediglich eine Anregung dazu sein, diese Rolle zu überdenken und gegebenenfalls einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
Das Handelskapital ist heute nicht mehr der bloße Handlanger der Realisierung des Mehrwerts, als der es im „Kapital“ dargestellt wird. Es ist nicht mehr das produktive Kapital, das bestimmt, welchen Teil des Profits es dem Handelskapital überläßt, damit dieses den „Salto mortale“ der Ware bewerkstelligt und den Kreislauf des Kapitals schließt, um einen neuen Produktionszyklus anleiern zu können.
Das Handelskapital ist heute – in einträchtiger Zusammenarbeit mit dem Finanzkapital – zum Herren über die Produktion geworden. Das Handelskapital entscheidet, ob es den Produzenten überhaupt einen Teil des Mehrwerts überläßt oder denselben gleich restlos mit dem Finanzkapital unter sich aufteilt.
Das Handelskapital entscheidet mit dem Finanzkapital, welche Produktion sich überhaupt noch rentiert. Es entscheidet über das Zusperren von Firmen, indem es deren Gewinnmarge gegen Null drückt und Produktionen damit zerstört. Dann macht es sich auf um Ersatz-Produktionen rund um den Globus, um damit weiterhin die Bedürfnisse der Konsumenten befriedigen zu können. Das Handelskapital entscheidet heute damit über die Standorte.
Das Handelskapital war entscheidend in der Eingliederung der ex-sozialistischen Staaten in den Weltmarkt. Es zerstörte den inneren Markt dieser Staaten, und nötigte ihnen den Import als einzige Form der Aufrechterhaltung der Warenzirkulation auf. Auch das wieder in trauter Eintracht mit dem Finanzkapital, das für Konvertibilität und Zahlungsfähigkeit durch Kredit sorgte.
Das Handelskapital war ebenso ein entscheidender Faktor in der „EU-Integration“: Es sorgte für die Zerstörung der nicht-wettbewerbsfähigen Produktion innerhalb der EU, verstärkt nach der Einführung des Euro.
Das Handelskapital war somit der Exekutor der negativen Handelsbilanzen innerhalb und außerhalb der EU und damit auch der Motor der Verschuldung. Dabei wurde es vom Finanzkapital beflissen assistiert: Das Handelskapital überschwemmte die diversen Märkte mit Importwaren, das Finanzkapital sorgte durch Kreditierung von Konsumenten, Gemeinden und Staaten für die entsprechende Zahlungsfähigkeit, mit der es diese Gegenden überhaupt erst als Markt brauchbar machte.
Das Handelskapital bemächtigte sich diverser Grundbedürfnisse der Menschen, wie Lebensmittel und Kleidung. Diese werden aufgrund der Entscheidungen des Handelskapitals bedient, das sehr eigenmächtig entscheidet, in welcher Form diese Bedürfnisse überhaupt befriedigt werden dürfen. Die Lebensmittelketten entscheiden darüber, welche Produkte in verschiedenen Gegenden auf den Markt kommen, und für welche Lebensmittel es seine Vermittlerdienste zur Verfügung stellt. Über die Konkurrenz des Preises werden einheimische Produkte aus dem Handel verdrängt und Produkte aus entlegenen Weltgegenden in den Geschäften der Handelsketten zu Dumpingpreisen angeboten.
Über den Internethandel werden die kleinen Händler aus dem Weg geräumt. Das Geschäftsleben vor Ort stirbt. Die Geschäfte, die die Bedürfnisse vor Ort befriedigt haben, müssen das Handtuch werfen.
Damit gehen eine Menge Jobs verloren, die aufgrund der schon vorher über die Bühne gegangenen Entwicklungen in Fabriken und Landwirtschaft wichtig waren. Die lokale Zahlungsfähigkeit sinkt also weiter, und die betroffene Region kann nur durch Kreditierung seitens des Finanzkapitals als Markt aufrechterhalten werden. Oder aber, was auch sehr wichtig ist, durch die Überweisungen der Arbeitsemigranten, die sich in den Metropolen für Dumpinglöhne verdingen und damit das Lohnniveau dort senken, was auch wieder Auswirkungen auf die dortige Zahlungsfähigkeit hat.
Die Entwicklung geht von West nach Ost, es wird sich erst weisen, inwiefern die ex-sozialistischen Staaten aufgrund der unzuverlässigen Postzustellung diesem Trend widerstehen können.
Große Produzenten, wie Inditex, setzen diesem Trend ein eigenes Vertriebsnetz entgegen. Sie richten eine Art von dezentral-vertikaler Produktion ein, wo auch von Sub-Firmen mit Sklavenarbeit produziert werden kann, aber den Vertrieb übernehmen sie selbst, um sich dem Würgegriff des Handelskapitals zu entziehen und ihre Gewinne selbst einstreifen zu können.
Marx schreibt im Kapital, Band I, daß die Ware A auf den Markt geht und auf die Ware B trifft, der gibt sie ihren Wert. Dann kommen andere Waren hinzu, und so kommt ein gewisses Preisniveau zustande. Das allgemeine Äquivalent, das alle Waren gleichermaßen mißt, muß von außen kommen, weil die einzelnen Marktteilnehmer nicht die Macht haben, dieses einander aufzunötigen. Ist es einmal hergestellt, so unterwirft es alle Waren seinem Maßstab.
Heute ist es so, daß die Ware A auf dem allgemeinen Äquivalent, dem tatsächlich von der imperialistischen Macht EU verordnetem Geld namens Euro, auf den Markt rutscht und allen anderen sagt: Ich bin Repräsentant von Wert, meßt euch an mir! – und die Waren B, C und D, sofern sie diesem Maßstab nicht entsprechen, aus dem Markt wirft.
Rückgang der Produktion, Rückgang von Zahlungsfähigkeit, Schaffung von überflüssiger Bevölkerung – wohin führt das, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten? Wird aus Europa eine Variante von Afrika?
Österreichische Premiere
EIN BUNDESLAND GEHT PLEITE
1. Die Anleihen und ihre Käufer
Die Hypo Alpe Adria begab (von ?) bis 2008 Anleihen in der Höhe von mindestens 11 Milliarden Euro, um ihre Expansion auf dem Balkan und auch diverse Projekte in Österreich selbst zu finanzieren. Die genaue Höhe der Anleihensumme ist trotz des seit Jahren tagenden Untersuchungsausschusses zur Hypo Alpe Adria nicht ganz klar.
Erstens, weil diese Anleihen halboffiziell über Jersey und Liechtenstein und nicht auf Börsen ausgegeben wurden, weil das die Kosten für die Emission erhöht hätte. Dadurch existiert eine Dunkelziffer in Bezug auf die Gläubiger.
Zweitens, weil diese Anleihen inzwischen auf Ramsch-Status gelandet sind, die Gläubiger, sofern offiziell, aber den Nennwert oder Marktwert von 2007 fordern.
Schließlich, drittens, weil nicht alle Gläubiger sich offziell melden: Es hätte auf ihren Kredit keinen guten Einfluß, wenn sie die Existenz solcher Papiere in ihren Portfolios einbekennen. „Es kursieren Investoren-Listen“, so heißt es im österreichischen Wirtschaftsblatt. Soviel weiß man jedenfalls, daß zu den Gläubigern viele österreichische Banken und Finanzinstitute gehören, und auch sonst alles versammelt ist, was Rang und Namen hat:
„Unter Berufung auf Daten des Bloomberg-Finanzinformationssystems haben die “Presse” und die ORF-“ZiB” aus Listen von Investoren zitiert. Jene Anteile, die von Banken und Fondsgesellschaften in Anleihefonds genommen werden, sind in dem System aufgelistet. Die Datensammlung dazu ist umfangreich, laut Zeitung findet sich darauf jedenfalls die Creme der nationalen und internationalen Banken- und Fondslandschaft.“ (Wirtschaftsblatt, 19.2. 2014)
2. Die Landeshaftung
Diese Anleihen waren, da der Kapitalstock der Bank klein war und sie eine Bank des Landes Kärnten war, durch Landeshaftungen besichert. Diese Landeshaftungen, die auch andere Bundesländer für Banken eingingen, waren ein Erbe des staatlichen Banksektors in Österreich und ein Ausdruck des Kapitalmangels des österreichischen Banksektors. Mit Hilfe dieser Landeshaftungen unternahm das österreichische Finanzkapital seine Eroberung der postsozialistischen Staaten. Die Landeshaftung Kärntens war also kein „Ausrutscher“ oder Sonderfall, sondern entsprach einer üblichen Praxis in Österreich.
Seit 2009, als die Hypo AA notverstaatlicht wurde, werden diese Anleihen vor sich hergeschoben. Der Rechtsstreit mit der Bayrischen Landesbank, die bei der Hypo AA 2007 als Mehrheitseigentümer eingestiegen war, zog sich bis zum Vorjahr bezüglich der Frage, welche Bank der anderen nach der Verstaatlichung etwas schuldig war. Die Frage der Anleihen berührte das aber nur am Rande.
2014 wurde noch abgewiegelt:
„»Diese Bank hat keine Liquiditätsprobleme, und es ist eine ziemlich kleine Bank und nicht von europäischer Relevanz«, sagte der österreichische Notenbankchef Ewald Nowotny in einem Reuters-Interview.“ (Wirtschaftsblatt, 19.2. 2014)
Der österreichische Nationalbankchef sah es also als vergleichsweise kleines Problem an, Anleihen in dieser Höhe einfach verfallen zu lassen.
So einfach ist das aber dann auch nicht. Die Gläubiger haben sich zu Kläger-Gruppen zusammengeschlossen und die von der Hypo-Nachfolgebank HETA bzw. von Kärnten angebotenen Vergleiche ausgeschlagen, die zwischen 10 und 25% der Nominalsumme abgedeckt hätten. Sogar Argentinien bot seinerzeit mehr bei den unter Néstor Kirchner abgeschlossenen Vergleichen, nämlich rund 33%.
Die „Angebote“ waren deswegen so unverschämt niedrig, weil eine Belastung des österreichischen Staatskredites vor allem im Jahr 2017, wenn das Gros dieser Anleihen zur Tilgung ansteht, diesen beträchtlich schwächen könnte. Zweitens aber auch deswegen, weil die österreichischen Verantwortlichen überzeugt waren, daß die Gläubiger jedes Angebot annehmen müßten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen. Sie hielten Kärnten für nicht pfändbar.
3. Die Klage und die möglichen Folgen
„Die Creme der nationalen und internationalen Banken- und Fondslandschaft“ hat sich anders entschlossen und Kärnten geklagt, seine Garantien einzulösen. Sie können es sich nämlich nicht leisten, die Anleihen in ihren Portfolios zum Ramschwert abgelöst zu kriegen. Das würde erstens viele diese Gläubiger selbst in die Pleite treiben, und zweitens auch auf ähnliche Anleihen dieser Art, die auch andere Geldinstitute der EU begeben haben, eine sehr negative Wirkung entfalten. Die Verschuldung zwischen den Banken würde reihenweise Pleiten produzieren und Wertpapiere entwerten.
Die Klage eines Bundeslandes ist absolutes juristisches Neuland. Der Vorteil für die Gläubiger ist, daß die Anleihen pro forma ihren Wert behalten, solange sich der Rechtsstreit zieht, und keine Abschreibung vorgenommen werden muß.
An Kärnten könnte Ähnliches durchexerziert werden wie an Griechenland: massenhafte Entlassung von Landesbeamten, Privatisierung von Energie und Infrastruktur, Krankenhäuser ohne Medikamente, Suppenküchen für die am Härtesten Betroffenen, und der Bund müßte dann vermehrt für die Armutsverwaltung des Bundeslandes einspringen.
Wie man bereits an Griechenland sieht, führt dergleichen Schuldendienst und Pfändung zum wirtschaftlichen Ruin und stellt selbst die Wahrung der staatlichen Verwaltung und Ausübung der Staatsgewalt in Frage.
Wer würde in Kärnten die Polizei bezahlen, wenn alle Einnahmen gepfändet würden? Wer das Gesundheitswesen und die Sozialausgaben, wer die Lehrer und die Beheizung der Schulen?
Eine weitere Frage wäre, welche Gerichte für diese Verfahren zuständig sind. Was wurde bei den Anleihenemissionen als Gerichtsstand vereinbart? Ein österreichischer Standort oder ein britischer oder Liechtenstein? Nach welchem Recht würde geurteilt?
Parallelen zu Argentinien und zu Island drängen sich auf, aber hier handelt es sich um Inner-EU-Recht, was auch noch einmal etwas Neues wäre.
Eine solche Welle von Klagen, was hätte das für Auswirkungen auf Österreich und auf die EU? Eine Art Kampf jeder gegen jeden könnte losgehen.
Das spanische Bundesland Valencia ist mindestens so pleite wie Kärnten. Seine Anleihen werden mit staatlichen Garantien besichert. Wenn wieder eine Tranche von Tilgungen fällig wird, könnte Spaniens Staatskredit wieder einmal zu wackeln anfangen.
Die Garantien Österreichs für den Kredit Griechenlands, Irlands und Portugals könnten in Frage gestellt werden – wie kann Österreich für den Kredit anderer EU-Staaten garantieren, wenn es nicht einmal sein eigenes Bundesland vor der Pleite retten kann?
Ob die EZB hier wieder einmal die Kartoffeln aus dem Feuer holen kann, ohne ihren Ruf endgültig zu ramponieren?