Die Ermordung Darja Duginas, Teil 2

DAS ATTENTAT SELBST: SELTSAME ZIELSETZUNG VERSCHIEDENER GEHEIMDIENSTE

Darja Dugina war ein einfaches Ziel für ein Attentat. Niemand nahm an, daß dieser jungen Frau eine gewaltsame Auslöschung drohen könnte. Auch sie selbst nicht. Sie traf daher auch keinerlei Sicherheitsvorkehrungen.

1. Das Setting

Wie die Nachforschungen der „Komsomolskaja Pravda“ (KP) und anderer Zeitungen ergaben, lebte sie in einem Haus mit 33(!) Stockwerken am südwestlichen Stadtrand Moskaus. Diese Gegend war in den letzten Jahrzehnten durch viel Neubautätigkeit vor allem für junge Leute attraktiv geworden, weil sich viele Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen dort angesiedelt hatten.
Das Haus war vom Standpunkt der Bewohner ein richtiges Vogelhaus. In einem fort zogen Leute ein oder aus. Die meisten Leute hatte keine Ahnung, wer ober oder neben ihnen wohnte. Genausowenig interessierte es irgendjemanden, ob der- oder diejenige, die dort aus- und eingingen, auch tatsächlich dort wohnten oder zu einem tatsächlichen Bewohner unterwegs waren.
Es war also praktisch überhaupt nicht überwacht, und auch sehr schwer überwachbar. Niemand nahm an, daß dort jemand aus- und eingehen könnte, der Böses im Schilde führte. Gegen Einbruch waren die Wohnungstüren halbwegs abgesichert, und auch die Garage wurde offenbar noch nie für Raubüberfälle genutzt, sonst hätte das alles anders ausgesehen.
Ähnlich ideal für das Verüben von Attentaten war das Festival im Westen Moskaus, von wo aus Darja Dugina die Reise in den Tod antrat. Jede Menge Leute, aufgrund der Menge praktisch nicht zu kontrollieren, ein überfüllter Parkplatz, auf dem es auch keine oder nicht funktionierende Überwachungskameras gab, und eine eigentlich überraschende Sorglosigkeit der Veranstalter in einem Land, das sich immerhin seit 6 Monaten im Krieg befindet, auch wenn man den offiziell nicht so nennen darf.

2. Die Täter

Die Hauptverdächtige, Natalja Wowk, stammt aus Mariupol. Den Recherchen der KP zufolge hatte sie eine unglückliche Ehe hinter sich, mit einem Mann, der sie beinahe totprügelte. Nach der Trennung von ihm hatte sie das Problem, wie sie in der Ukraine in einer höchst trostlosen wirtschaftlichen Situation ihre beiden Kinder ernähren sollte. Sie schrieb sich daher bei der Nationalgarde ein und wurde Soldatin der ukrainischen Streitkräfte. Die Vermutung liegt nahe, daß sie dort vom SBU, dem ukrainischen Geheimdienst angeworben wurde, für den sie aufgrund ihrer prekären Situation eine willige Mitarbeiterin wurde.
Sie reiste gegen Ende Juli mit ihrer 12-jährigen Tochter aus dem russisch besetzten Teil des Donbass in einem Auto mit ukrainischer Nummer nach Rußland ein. Die Tochter diente sozusagen als Mittel, um jeden Verdacht von sich zu lenken. So entging es den Grenzkontrolloren, daß diese Frau ursprünglich bei der ukrainischen Nationalgarde gedient hatte, angeblich sogar beim Azov-Batallion.
Sie mietete sich dann in dem bewußten Haus mit den 33 Stockwerken in Moskau ein, und zwar so, daß sie von ihrem Fenster aus in ein oder mehrere Fenster der Dugina-Wohnung hineinschauen konnte, möglicherweise unter Zuhilfenahme eines Fernglases. Sie wußte also um deren Lebensgewohnheiten – wann sie heimkam, wann sie das Haus verließ, usw.
In der Tiefgarage besaß sie einen Stellplatz relativ nahe dem von Darja Dugina. Die Tiefgarage ist schlecht beleuchtet, sie verfügte über wenige Überwachungskameras und diese deckten nur einen kleinen Teil des gesamten Raumes ab.
Natalja Wowk verwendete auf dem gleichen Auto, mit dem sie eingereist war – einem Mini-Cooper – während ihres einmontigen Aufenthalts in Moskau ein kasachisches Kennzeichen und reiste am Tag nach dem Attentat mit dem gleichen Auto, diemal mit russischem Kennzeichen und wieder in Begleitung ihrer Tochter über die Grenze nach Estland aus. Am gleichen Tag bot ihr – bereits erwachsener – Sohn in der Ukraine das Auto bereits im Internet zum Verkauf an.

Die Anwesenheit von Natalja Wowk ist durch Videoaufnahmen gut dokumentiert. Es ist klar, daß sie nur der sichtbare Teil einer Organisation zur Abwicklung des Attentats war. Man weiß derzeit nicht, ob sie selbst die Autobombe im Auto ihres Opfers plaziert hat, und ob das in der Tiefgarage oder auf dem Parkplatz des Festivals geschah.
Es ist ziemlich sicher, daß der ukrainische Geheimdiens SBU das Attentat organisiert hat. Wowk hatte auf jeden Fall einige weniger sichtbare Mittäter. Immerhin besaß sie 3 Autokennzeichen mitsamt der nötigen Dokumentation für den Fall einer Kontrolle. Auch die Wohnung wurde vermutlich von jemandem anderen angemietet. Moskau hat sie bereits vor dem Attentat verlassen, um es rechtzeitig über eine EU-Grenze zu schaffen.
Die russischen Behörden halten es auch nicht für ausgeschlossen, daß der SBU mit dem CIA und MI6 zusammengearbeitet hat.

3. Das Opfer

Darja Dugina war 29 Jahre alt. Wie ihr Vater hatte sie Philosophie studiert. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über die Neo-Platoniker. Sie betrieb ein Doktoratsstudium zu einem verwandten Thema. Außerdem sprach sie Französisch.
Sie war seit Jahren aktiv als Rednerin, Journalistin, wurde zu Talkshows eingeladen und hielt Vorträge zu verschiedenen Gegenständen – von der Innenpolitik Frankreichs über griechische Philosophie bis zu Themen, die mit der eurasischen Bewegung zusammenhingen, deren Vorsitzender ihr Vater ist. Sie machte auch kein Geheimnis daraus, daß sie den russischen Einmarsch in die Ukraine unterstützte.
Dennoch, die Wahl fiel wahrscheinlich auf sie, weil sie die Tochter Alexander Dugins war. Es ist auch ziemlich sicher, daß die Zielperson des Attentats er war und der Tod der Tochter als Kollateralschaden in Kauf genommen worden wäre.
Aber Dugin, der ebenfalls dieses Festival besuchte und auch ursprünglich mit seiner Tochter zusammen nach Moskau zurückfahren wollte, entschied sich im letzten Augenblick dazu, mit einem Freund die Heimreise anzutreten, weil er während der Autofahrt noch etwas mit ihm besprechen wollte.

Als die Täter den Zeitzünder aktivierten, wußten sie vermutlich, daß sie nur die Tochter erwischen würden und dachten sich, besser als gar nichts. Immerhin war die Bombe am Auto befestigt. Sie zu entfernen, wäre schwierig und riskant gewesen, und eine zufällige Detonation irgendwo hätte keinerlei erwünschten Effekt gehabt.

4. Warum dieses Attentat?

Ausgehend von der Überzeugung, daß das Attentat eigentlich Alexander Dugin gegolten hat, erhebt sich die Frage, was der SBU und andere Geheimdienste eigentlich mit einem solchen Attentat bezwecken?

Erstens überschätzen sie die Rolle von Ideologen auf die russische und überhaupt jede Gesellschaft. Abgesehen davon, daß diese Leute nicht die Entscheidungsträger sind, so ist Dugin eben nur der Vorsitzende der Eurasischen Bewegung. Diese Bewegung existiert auch ohne ihn, weil die Gründe für das Aufkommen dieser Art von Gedankengut nicht in seiner Person liegen.
Zweitens werden solche Personen wie die Dugins ausgewählt, weil die wirklich wichtigen Akteure in Rußland natürlich gut bewacht sind. An Putin, Schoigu, Medwedjew usw. kommen solche Bombenattentäter nicht heran. Selbst wenn diese Personen einmal ein Bad in der Menge nehmen, sind dort die höchsten Sicherheitsvorkehrungen angesagt.

Die Idee war also, eine bekannte Persönlichkeit umzubringen, um zu zeigen, daß die Unterstützer der russischen Politik ihres Lebens nicht sicher sind.
Sogar wenn das gelingen würde, so hätte das nur eine Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen für solchermaßen gefährdete Personen zur Folge.
Die Wahnvorstellung westlicher Geheimdienste ist jedoch, daß nach einem solchen Mord in Rußland Zittern und Bangen losgeht, und sich alle von dem Diktator abwenden.
Das ist eine völlig verkehrte Vorstellung gegenüber der Bevölkerung Rußlands – oder irgendeines anderen Staates. Das Gegenteil ist nämlich der Fall – wie man es bei islamistisch inspirierten Attentaten in ganz Europa sehen konnte: Ein solches Attentat schweißt die Bevölkerung und ihre Herrschaft zusammen.

Um so mehr, als das Opfer eine junge Frau war, die niemandem etwas zuleide getan hat.

Zusatzinfo: Die Eurasier

Ausführlicheres hier.

Die Ermordung Darja Duginas, Teil 1

DER EURASISCHE GEDANKE

Darja Dugina mußte sterben, weil sie die Tochter eines Mannes war, der als Einflüsterer Putins gilt und diesen zu Großmachtplänen für Rußland inspiriert haben soll.

Abgesehen davon, daß es sowieso eine dümmliche Konstruktion ist, jemanden zum Anstifter von Politik zu erklären, der dann die tatsächlichen Machthaber zu Verführten und ferngesteuerten Ausführenden erklärt, so sei hier einmal kurz vorgestellt, was eigentlich dieses Weltbild Dugins auszeichnet.

Vorläufer: Die Heartland-Theorie Mackinders
Der britische Geograph Halford Mackinder entwickelte in seiner Schrift „Die geographische Kernfrage der Geschichte“ 1904 die Theorie, daß, wer Europa und Asien beherrsche, sich die ganze Welt untertan machen könne. Die Verbindung dieser beiden Kontinente sei sozusagen eine Basis, die nicht mehr übertroffen werden könne.
Diese Theorie wurde zur Zeit des „Great Game“ entwickelt, als das Zarenreich und das British Empire in Zentralasien – und nicht nur dort – ihre Claims absteckten. Damals wurde Afghanistan als Pufferstaat zwischen diesen beiden Großmächten gequetscht, seine Bevölkerung malträtiert.
In dieser Zeit (1899-1907) entstand auch die Haager Landkriegsordnung, die heute die rechtliche Grundlage für Kriegsverbrecherprozesse darstellt. Rußland verlangte nach einem Regelwerk, um die Aufteilung der Welt nach formellen Kriterien abwickeln zu können. Aufgrund des Widerstandes Großbritanniens kam es zu keiner Seekriegsordnung: Das britische Reich wollte sich im Seekrieg überhaupt keine Schranken anlegen lassen.
Mackinders Theorie ist also als eine Art Warnung zu verstehen: Die britischen Eliten müßten alles unternehmen, um diesen Zusammenschluß der beiden Kontinente zu verhindern, weil das würde den Untergang der britischen Weltmacht bedeuten.
Diese Bemühung ist bis heute in der britischen Außenpolitik zu erkennen.

Die historischen Eurasier
Das Buch, das die eurasische Bewegung lostrat, „Exodus nach Osten“, erschien 1921 in Sofia. Darin machten sich russische Emigranten Gedanken darüber, wie es nach der Oktoberrevolution und dem russischen Bürgerkrieg mit Rußland weitergehen sollte. Damals, das muß man bedenken, war die Sowjetmacht noch nicht so lange in Amt und Würden. Viele Emigranten machten sich Hoffnungen auf ihren Sturz und die Rückkehr in die Heimat.
Diese Intellektuellen, von denen viele ukrainischer Abstammung waren, sahen die Möglichkeit einer Erneuerung Rußlands in der Abwendung vom Westen und einer Hinwendung zu den Kulturen Asiens. Die geballte Feindschaft der europäischen Mächte gegenüber den Bolschewiki nahmen sie als Chance wahr, sich von dem schädlichen Einfluß Europas zu befreien. Gerade diejenigen verschiedenen Einflüsse, die die Ukraine geformt hatten – die Steppenvölker, die katholischen und orthodoxen Kirchen und der Islam vom Süden – erschienen ihnen als eine stabile Basis zur Formung eines Staatenbündnisses von großen Dimensionen. Ihr historisches Vorbild war Dschingis Khan.
Gegenüber der traditionellen russischen Geschichtsschreibung, die die mongolische Eroberung als „Joch“ betrachtete, sahen sie die mögliche Symbiose von slawischer Kultur und asiatischen Einflüssen.
Im Laufe der Zeit zerbröselte diese Bewegung – die einen nahmen eine ablehnende, andere eine zustimmende Haltung zur Sowjetmacht ein, aber sie alle hatten keinen Einfluß auf die tatsächliche Politik.
Für antikommunistische, antisowjetische Propaganda und Tätigkeit eigneten sie sich auch nicht, da sie die westliche Zivilisation ablehnten. Deshalb blieben sie in Europa relativ unbekannt, – in der Sowjetunion übrigens auch.

Eurasismus heute
Die Wiederentdeckung bzw. Wiederauferstehung dieses Gedankengutes oder Modells ging langsam vonstatten. Der Eurasismus ist in erster Linie ein Ergebnis der Enttäuschung über den Westen, die Demokratie, die Marktwirtschaft.
Viele Anhänger des Eurasismus, so auch Dugin, waren glühende Antikommunisten, Gegner der Sowjetmacht oder Dissidenten. Den Zerfall der Sowjetunion sahen sie als Chance, Rußland mit westlichem Know-How zu gebührender Größe zu verhelfen.
Es ging immer darum, um Glanz und Glorie der Nation, nicht um so Kleinigkeiten wie Lebensstandard, holländischen Käse oder spanischen Schinken und technischen Fortschritt in Form von Smartphones usw.
Sowohl die zerstörerischen Folgen der Westöffnung für die russische Gesellschaft als auch die Behandlung durch den Westen, der erst auf den weiteren Zerfall Rußlands hoffte und dann, mit Obamas Worten, Rußland auf den Status einer Regionalmacht reduzieren wollte, führten zu Zorn und Abwendung vom Westen unter vielen dieser russischen Patrioten.
Es begann ein zäher Kampf zwischen nach Osten Orientierten und den Anhängern westlicher Kultur und Politik, wobei Erstere das Handicap hatten, daß aus den Tiefen des asiatischen Raums auch das Echo der Marktwirtschaft und westlicher Herrschaftspraktiken erschallten.
So entstand eine sehr widersprüchliche Bewegung von Denkern und Ökonomen, die in den eigenen und fernöstlichen Traditionen nach Rezepten suchten, was man eigentlich der westlichen Dekadenz und Gschaftlmacherei entgegensetzen könnte. Dieses Prozeß ist übrigens noch nicht abgeschlossen, die Eurasier eint nur die Abneigung gegenüber Europa und den USA, was immer man jetzt unter diesen Staaten und Konzepten verstehen will.

Zu den Anhängern des eurasischen Gedankens gehört der Ökonom Glasjew, der durchaus Einfluß hat und der in den späten 80-er Jahren und nach dem Zerfall der Sowjetunion zu den Reformern, den eifrigen Anhängern der Marktwirtschaft gehörte – in großer Einigkeit mit Jegor Gaidar, Tschubais und anderen westorientierten Wirtschaftsfuzis.
Zu der eurasischen Bewegung gehörte lange auch der jetzige Berater von Selenskij, Arestowitsch, der offenbar dort nicht so richtig zum Zug kam und dann ein besseres Angebot der Gegenseite annahm.

Für die Eurasier sind die jetzigen Sanktionen des Westens ein wahrer Segen, weil sie ihre Sicht der Dinge bestätigen und Rußland zum Gang nach Osten nötigen.

Die Eurasier haben viele Verbindungen zur Türkei und den dortigen Anhängern des Turanismus. Alle diese Ideologien haben vom Gehalt her etwas Schwammiges und gleichzeitig Mythisches an sich. Sie ziehen deshalb viele Menschen an, die sich mit unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit von diesen Heilslehren eine Verbesserung ihrer Lage erwarten.
Mit allen Heilslehren und Religionen hat der Eurasismus gemeinsam, daß er für das praktische Handeln nicht viel hergibt. Konkrete politische Schritte oder ökonomische Maßnahmen lassen sich daraus nicht herleiten, die müssen aus anderen Überlegungen folgen. Nachher läßt sich allerdings viel mit solchen Heilslehren rechtfertigen.

Die eurasische Bewegung ist daher nicht Stichwortgeber, sondern Beweihräucherer der tatsächlichen Politik. Als solche sind ihre Anhänger in Rußland heute geschätzt und gefordert. Das betraf auch die Tochter Dugins, die sich dieser Aufgabe mit vollem Herzen verschrieb.

Fortsetzung: Das Attentat

Ausführlicheres hier.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 6.8.: Weitere Schüsse ins Knie

DIE SANKTIONEN WERDEN BESTEHEN BLEIBEN, AUCH WENN DAS ZUR DEINDUSTRIALISIERUNG EUROPAS FÜHREN SOLLTE

„Sanktionen weg – Rohr auf: Was ist der Kern des „Turbinenstreits“, um dessentwillen Europa ohne Gas dasitzt?
Der Experte Churschudow meint: Gazprom will Garantien dafür, dass die Turbine für Nord Stream 2 nicht unter antirussische Sanktionen fällt“

(Gemeint ist vermutlich die für Nord Stream 1, weil Nr. 2 ist ja sowieso vorerst abgesagt.)

„Her mit dem Gas!
Es scheint, dass auf der Ebene der großen Unternehmen einiges schief läuft gibt. Selbst der Austausch einer einfachen Schraube in der komplexesten Mechanik wird auf Hunderten von Vertragsseiten beschrieben, in denen die Rechte und Pflichten der Parteien detailliert geregelt sind.
Man sollte meinen, dergleichen genaue Vorschriften gibt es erst recht bei Turbinen für Gaspipelines.
Es stellte sich heraus, daß das keineswegs so ist.
Bei der Siemens-Turbine für die Gaspipeline Nord Stream geschehen mysteriöse Dinge. Sie stand bereits an der Station in Portovaja“ (Ausgangspunkt der Pipeline an der russisch-finnischen Grenze), „arbeitete zur Freude der Deutschen plangemäßt und reiste dann zu ebenfalls planmäßigen Reparaturen nach Kanada. Da begannen die Turbulenzen.
Dort saß sie zunächst wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen fest. Daraufhin war Gazprom gezwungen, die Gaslieferungen einzustellen. Als Reaktion darauf trafen Drohungen und Anschuldigungen aus Europa ein, dass Russland Gas als Druckwaffe einsetze. Aber irgendwann einigten sich die Deutschen mit den Kanadiern und sie brachten die Turbine trotzdem … nach Deutschland, wo Bundeskanzler Olaf Scholz sie sogar begutachtete und ein Gutachten erstellte: Die Turbine ist einsatzbereit, man kann sie aufstellen und pumpen.“

Scholz, der technische Experte.

„Angeblich wurde wurden die Sanktionen (für die Turbine) aufgehoben, Kanada, Deutschland, die Europäische Union erlaubten es (– es fehlte nur noch der Segen des Papstes) …
Nur Gazprom hat es nicht eilig, die Turbine zu übernehmen.
Wegen all dieser Streitigkeiten erhält Europa weniger Gas. Statt 167 Millionen Kubikmeter pro Tag sieht die deutsche Seite auf ihren Sensoren klägliche 33 Millionen Kubikmeter. Das heißt, die Gaspipeline arbeitet jetzt nur noch mit 20 % ihrer Kapazität.

Eine Frage der Technik
Also, was ist der Grund? Der russische Konzern bezieht sich auf den Buchstaben des Vertragstextes (d.h., des Gesetzes), gegen den die Kanadier zusammen mit den Deutschen bereits verstoßen haben. Und jetzt nicht ganz begreifen, wie sie wieder aus dem Schlamassel herauskommen sollen.
Gazprom begründet sein Vorgehen wie folgt: »In Ermangelung offizieller Klarstellungen der EU und des Vereinigten Königreichs zur Anwendung von Sanktionen ist nicht klar, ob Reparatur und Transport von Gasturbinentriebwerken für die Station Portovaja CS Exportbeschränkungen unterliegen werden oder nicht«, teilte das Unternehmen mit.
Hinter der raffinierten Sprache von Pressemitteilungen und offiziellen Schreiben bleibt immer noch unklar, warum diese Turbine noch nicht in ein Flugzeug verladen wurde, um nach Russland gebracht zu werden und dort endlich mit voller Leistung Gas in die Röhre zu treiben.

Zur Klärung wandte sich KP.RU an den Experten der Öl- und Gasinformationsagentur, den Kandidaten der technischen Wissenschaften Alexander Churschudov:

ACh: Um es ganz einfach auszudrücken: Gazprom will Garantien, schriftliche Zusagen, daß die Turbine nicht unter antirussische Sanktionen fällt.

KP: Technisch könnte die Turbine von Deutschland aus per Fernzugriff deaktiviert werden?

ACh: Ja, es wäre möglich, aber die Folgen sind schwer vorhersehbar. Wenn eine solche Möglichkeit in die Steuerungsautomatisierung gelegt würde, wäre der Reputationsverlust für Siemens enorm. Das Hauptproblem liegt also woanders.

KP: Und zwar wo?

ACh: Im Rahmen des Vertrags mit Siemens hat Russland diese Turbine direkt nach Kanada zu der Siemens-Tochtergesellschaft geliefert. Dazu kam eine Fehlerliste mit 15 Positionen. In Kanada sollte sie repariert werden und russische Spezialisten wurden hinzugezogen, um die Reparaturarbeiten zu überprüfen. Unsere Experten sollten dort ihr Einverständnis geben und gemeinsam mit den Kanadiern die Turbine direkt nach Russland verschiffen.
Aber die kanadischen Behörden machten keine Ausnahmen von den Sanktionen.“

Sie betrachteten also die Rückführung der Turbine als E x p o r t.
Das ist ebenso eine reife Interpretationsleistung wie die der litauischen Behörden, die den Warentransit nach Kaliningrad als Export betrachteten.
Man sieht, die Sanktionen lassen sich durchaus schöpferisch auslegen, wenn es einer Regierung gerade so lustig ist.

„Und die kanadische Siemens-Tochter konnte das im Vertrag vorgeschriebene Verfahren nicht einhalten. Daraufhin schickte sie die Turbine nach Deutschland – das ist nämlich nicht durch Sanktionen verboten.
Was soll unsere Seite“ (also Gazprom) „jetzt machen? Die Übernahme nach Deutschland erfolgte vertragswidrig. Es steht klar geschrieben: »Sie ist dort (von Gazprom) zu übernehmen, wo sie repariert wurde.« Was nützt es, wenn wir uns an Deutschland wenden? Die deutsche Siemens beantwortet unsere Fragen nicht – nicht sie war es, sondern eine Tochtergesellschaft, die die Revision und Reparatur durchführte.
Jetzt will Deutschland die Turbine loswerden.
Nehmen wir an, sie kommt nach Russland, wir installieren sie, aber sie funktioniert nicht. Was wäre dann zu tun? Es gibt niemanden, bei dem man sich beschweren könnte. Weil die im Vertrag vorgeschriebene Reihenfolge der Übernahme und Rückführung verletzt wurde.
Sowohl aus technischer als auch aus rechtlicher Sicht ist es also korrekt, ohne die vorgeschriebene Abnahme keine Zustimmung zur Überstellung nach Russland zu geben.

Streit in Europa
Gazprom will Garantien, erklärt Stanislav Mitrochovitsch, ein führender Experte beim Nationalen Fonds für Energiesicherheit und der Finanzuniversität der Russischen Regierung.

KP: Was möchte der Westen erreichen?

StM: Der Streit um die Gazprom-Turbine ist eines der Rädchen im großen Spiel gegen Russland. Die westliche Welt versucht weltweit, Russland in einem Wirtschaftskrieg zu besiegen, und niemand verbirgt dies. Was die Situation mit der Turbine selbst betrifft, so gibt es in Europa eine grundlegende Spaltung. Deutschland sagt, dass Russland diese Turbine jetzt akzeptieren und die Nord Stream mit einer höheren Kapazität starten muss, als die, mit der es sie derzeit betreibt. Aber gleichzeitig gibt es innerhalb Europas Stimmen aus Polen, aus den baltischen Staaten, die vorschlagen, den Kauf von russischem Gas zu verbieten und es in das neue Sanktionspaket aufzunehmen. Es gibt also Zwietracht in Europa.

KP: Wie werden diejenigen leben, die komplett auf russisches Gas verzichten wollen?

StM: Sie hoffen, dass es möglich sein wird, von ihren Nachbarn zu kaufen, sie hoffen, daß sie LNG (verflüssigtes Erdgas, Anm. d. Red.) erhalten können, sie hoffen auf Hilfe der Europäischen Kommission … Sie hoffen auf alles.

KP: Vielleicht sind es nur schöne Worte?

StM: Das ist auch so. Zu behaupten, dass sie kein russisches Gas kaufen wollen, ist nicht dasselbe, wie tatsächlich ganz darauf zu verzichten.
Aber es klingt gut.
Auf jeden Fall wollen sie weiter unser Gas. Das gleiche Polen wird es immer noch aus Deutschland oder anderen Nachbarländern kaufen. Aber wir für unseren Teil hören öffentlich: »Dein Gas wird bald verboten.« Gut, gut, euer Wunsch wird verwirklicht.

Her mit Garantien!
KP: Was versucht Gazprom zu erreichen?

StM: Klare Garantien zu erhalten, dass es in Zukunft keine neuen Sanktionen (bezüglich des Gasimports) geben wird, weder von Amerika noch von sonst jemandem. »Geben Sie uns Garantien, daß wir auf Dauer ohne Sanktionen zusammenarbeiten können!« – so können Sie ihre Position formulieren.

KP: Aber solche Garantien will niemand geben.

StM: Genau. Daher haben wir es unsererseits auch nicht eilig, Europa entgegenzukommen und ihnen bei der Wintervorbereitung zu helfen.

KP: Die These ist mittlerweile weit verbreitet, dass Russland, Gazprom und Putin persönlich Gas als Waffe einsetzen.

StM: Diese Meinung, das ist wichtig, wird von Leuten geäußert, die von Rußland 300 Milliarden Dollar Gold und Devisenreserven gestohlen, schwerste Wirtschaftssanktionen verhängt, ihren Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt, den Handel mit Rußland und den Import russischer Kohle verboten haben (letzteres Verbot tritt am 10. August in Kraft – Anm. der Redaktion). Sie verhängten ein Verbot der Einfuhr von russischem Öl auf dem Seeweg (tritt am 5. Dezember 2022 in Kraft, – Anm. der Redaktion).
Und diese Leute sagen uns, dass Handelsbeschränkungen nicht als politisches Instrument eingesetzt werden sollten?
Es ist sehr naiv, zu erwarten, dass Rußland nicht versuchen würde, seinerseits die vorhandenen Möglichkeiten im Handel als Instrument zu nutzen.

Nord Stream 2 läßt sich nicht mit einem Satz in Betrieb nehmen
KP: Es gäbe einen sofortigen Ausweg aus der Situation mit der Turbine: Den Start von Nord Stream 2. Wäre das möglich?

StM: Aus technologischer Sicht gibt es keine Probleme mit dem Start von Nord Stream 2. Wladimir Putin sagte das sogar zu Gerhard Schröder, der nach Moskau geflogen war. Mit anderen Worten, wir könnten diese Pipeline sogar jetzt einschalten.

KP: Aber es gibt offenbar keine politische Einigung.

StM: Nord Stream 2 ist aus politischer Sicht ein sehr schwieriges Thema. Ich sehe daher derzeit nicht, daß Europa dem zustimmen könnte. Schauen Sie, wie lange sie gebraucht haben, um das Problem mit der gewöhnlichen Turbine für Nord Stream 1 zu lösen: Um Kanada zu überzeugen, mussten sie eine Entscheidung treffen, abstimmen und so weiter. Es dauerte mehrere Wochen. Und das ist, könnte man sagen, angesichts der Problematik um Nord Stream 2 eine Frage von ein paar Cents.

Versöhnlicher Schröder
KP: Warum ist Gerhard Schröder nach Russland geflogen?

StM: Offiziell sagte seine Frau, dass er über Energiefragen und Energiepolitik gesprochen habe.

KP: Als Unterhändler?

StM: Man muß sich darüber im Klaren sein, dass er darüber nur als Privatperson sprechen konnte. Es ist unwahrscheinlich, dass er der Abgesandte von Herrn Scholz war. Obwohl Schröder viel für die Beziehungen zwischen Russland und Europa getan hat (auch die Nord-Stream-Gaspipelines waren seine Idee), ist die Einstellung ihm gegenüber zu Hause äußerst negativ. In der deutschen Presse wird er in einem fort durch den Kakao gezogen.

KP: Kann er überhaupt eine Einigung erreichen?

StM: Ich glaube nicht. Außerdem würde es überraschen, wenn er nicht auf juristischer Ebene zu einer Art Agenten Putins erklärt wird. In der allgemeinen Propaganda wird er schon lange als solcher gehandelt.

Industrie kaputt
KP: Wie wird das alles enden?

StM: Ich denke, je mehr so Sätze wie »Wir brauchen kein russisches Gas«, »Wir werden Russland besiegen und zerstören«, »Wir werden bald das russische Gas aufgeben« (– ich habe mir das nicht ausgedacht, sie sagen das tatsächlich seit März auf allen Regierungsebenen) in Europa ausgesprochen werden, desto mehr wird sich in Russland der Standpunkt durchsetzen, dass es notwendig ist, die Lieferungen nach Europa einzustellen. In diesem Fall wird Europa mit einer vollständigen Reduzierung der Lieferungen konfrontiert sein, und dies wird eine sehr belastende Situation für sie sein.

KP: Und wenn wir das Ventil nicht bis zum Ende drehen?

StM: Selbst wenn es nicht zu einem vollständigen Lieferstopp kommt und die aktuelle Situation anhält (wir liefern um ein Vielfaches weniger Gas als im Vorjahr), wird es für Europa sehr schwierig, seine Industrie zu erhalten. Wegen teurer Energieressourcen wird es immer mehr Betriebe schließen müssen.

KP: Europa steht ein harter Winter bevor.

StM: Es geht nicht um den Winter. Im Winter werden die Schwierigkeiten ihren Höhepunkt erreichen. Aber es geht um viel mehr.
Ich denke, in Europa wird diese Krise die Deindustrialisierung und den wirtschaftlichen Niedergang durch den Verlust eines Teils der Industrie, durch den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu anderen Ländern der Welt zur Folge haben. Die Türkei zum Beispiel wird möglicherweise einen Teil des industriellen Potenzials Europas übernehmen.

KP: Wie wird sich dies auf Russland auswirken?

StM: Wir müssen zunächst darüber nachdenken, wie wir den europäischen Markt ersetzen, wann wir Verträge mit den Chinesen für neue Pipelines abschließen, schließlich, wann wir neue eigene Industrialisierungsprojekte starten werden, und so weiter.