Pressespiegel El País, 27.6.: Einheit in Gefahr?

DER WAGNER-AUFSTAND VERSCHÄRFT DIE SPALTUNG DER RUSSISCHEN STREITKRÄFTE

Das Wagner-Logo, ein Totenkopf an der Spitze eines roten Zielfernrohrs, erfreute sich auf den russischen Straßen bis zum Aufstand der Söldnerkompanie am vergangenen Wochenende großer Beliebtheit. So unterschiedliche Menschen wie der Manager eines billigen Hostels in Moskau, ein junger Mann in einem noblen Fitnessstudio und ein verkrüppelter Mann auf der Straße einte in diesem unklaren Krieg das Symbol von Jevgenij Prigozhin, dem neuen russischen Alpha-Mann, der seine eigenen Wahrheiten verkündet und kein gutes Haar an den Siegesbotschaften des Verteidigungsministeriums läßt.
Eine neue Form der Dissidenz, die auf ihrem Weg in die russische Hauptstadt den Beifall des Volkes und die Passivität der Streitkräfte fand. »Unser Ziel war es, diejenigen vor Gericht zu stellen, die während der militärischen Sonderoperation Fehler gemacht haben«, sagte Prigozhin am Montag durch eine Audioaufnahme, aus der hervorgeht, dass er noch am Leben ist.
Sein Überleben – politisch und physisch – stellt nun eine neue Bedrohung für das Regime dar, aber Putin kann nicht ohne seine Söldner auskommen.
Einen Tag, nachdem Russland durch Wagner in seinen Grundfesten erschüttert worden war, waren die Anstecknadeln und T-Shirts dieser Truppe wieder in den Geschäften erhältlich.

»Die Experten sind sich einig, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Alexej Djumin – Putins ehemaliger Leibwächter und derzeitiger Gouverneur von Tula – neuer Verteidigungsminister und General Sergej Surowikin Chef des Generalstabs wird«, meinte Sergej Markow am Montag. Er ist ein ehemaliger Putin-Berater, der zum inneren Kreis des Präsidenten gehört.“

Warum dann „ehemalig“?
Vielleicht ist er doch nicht so eingeweiht, wie der Verfasser des Artikels meint.

„Der derzeitige Minister Sergej Schoigu befindet sich in einer so schwachen Position, dass die russischen Kriegsbefürworter selbst anprangerten, dass das Video, in dem er drei Tage nach dem Aufstand auftauchte, bereits früher aufgenommen worden sei.
»Aber ihre Entlassungen werden nicht sofort erfolgen, damit es nicht so aussieht, als ob Schoigu und Gerassimow – der derzeitige Chef des Generalstabs – auf Wunsch des Rebellen entlassen wurden«, fügt Markow hinzu.

Nach den ersten Rückschlägen im Herbst 2022, als die Ukraine Teile von Charkow und Cherson zurückeroberte, kam es zu Machtkämpfen innerhalb der russischen Streitkräfte.“

Es waren allerdings weder die ersten Rückschläge – man denke an die teilweise sehr hohen russischen Verluste bei Kiew und den Rückzug von dort – noch die ersten Meinungsverschiedenheiten in der Armee Rußlands. Man erinnere sich an Dvornikov und seine Abberufung.

„Surowikin wurde unter dem Beifall von Prigozhin und dem tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrow, der mit seiner Prätorianergarde, den Kadyrowtsy, ebenfalls Protagonist dieses Krieges war, zum alleinigen Befehlshaber der Offensive befördert. Doch die Freude währte nur kurz: Schoigu ernannte im Januar Gerassimow zum Chef seiner Streitkräfte und Surowikin wurde in die zweite Reihe gestellt.
Der gescheiterte Aufstand offenbarte auch die Zweifel vieler kreml-naher Persönlichkeiten. Der tschetschenische Präsident brauchte mehr als einen halben Tag, um sich öffentlich für Putin auszusprechen, während die Direktorin des Medienunternehmens Russia Today, Margarita Simonján, bis vor kurzem eine glühende Anhängerin von Wagner, am Montag erklärte, sie habe nichts von der ganzen Sache mitbekommen, weil »sie befand sich auf einem Schiff auf der Wolga.«“,

– wo es anscheinend kein Netz gibt? Auf dem größten Fluß Rußlands?

„Die Strategie des Kremls angesichts des Aufstands von Prigozhin bestand darin, an die Einigkeit um den Präsidenten zu appellieren. Die Abgeordneten (der Duma) forderten bereits von Montag an blinde Unterstützung für Putin, und andere Sektoren schlossen sich dieser Botschaft an. »In schwierigen Zeiten hat uns die Loyalität des russischen Volkes gegenüber seinen Führern immer geholfen«, las der Sprecher von Last.FM ohne jede Leidenschaft, »auf Wunsch der Musikabteilung.«“

Recht neckisch, wenn man weiß, daß die Wagner-Truppe oft auch als „Musiker“ bezeichnet wird.

„Hierbei handelt es sich übrigens um einen Radiosender, der rund um die Uhr in Taxis im ganzen Land zu hören ist.

Ohne Wagner geht es nicht

Prigozhins Paramilitärs waren als bloßes „Kanonenfutter“ für an Selbstmord grenzende Offensivaktionen bezeichnet worden,“

– allerdings kam diese Einschätzung nur bei den erbitterten Kämpfen in Bachmut vor, nicht in anderen Einsatzgebieten –

„doch die Debatte um ihre Existenz zeigte am Montag, dass der Unternehmer immer noch diese Karte ausspielen kann.“

Der Satz ist unklar. Welche Karte? Immerhin hatten die Wagner-Truppen Bachmut eingenommen, sich also nicht dabei aufgerieben. Es war schon seit einiger Zeit klar, daß es Probleme geben würde.

„Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma (…) Andrej Kartapolow, verteidigte die Existenz Wagners, obwohl er einen Gesetzentwurf zur Regulierung von Söldnerfirmen vorlegte.“

Warum „obwohl“? Der Gesetzesentwurf war wohl überfällig, um der Wagner-Truppe einen legalen Rahmen zu geben.

„»Josif Vissarionovich Stalin sagte, dass Kinder nicht für ihre Eltern verantwortlich sind. Derjenige, der den Aufstand ausgelöst hat, muss reagieren (…) Wagner ist die am besten ausgebildete Einheit in Russland und sogar die Streitkräfte erkennen das an. »Man kann sich kein besseres Geschenk für die NATO und die Ukrainer vorstellen, als sie zu entwaffnen«, behauptete Kartapolow an diesem Montag und begründete damit, dass sein neues Gesetz »noch genau studiert und möglicherweise modifiziert werden muß«, was seine Annahme bis zum Herbst verzögern könnte. Ein bemerkenswertes Bemühen um Gesetzeskonformität angesichts der Tatsache, dass diese Art von Unternehmen seit geraumer Zeit, also schon vor Wagners Gründung, gesetzlich verboten war.

Angesichts dieser Lage plädiert das Verteidigungsministerium für die Entwaffnung der Söldner. Weitere einflussreiche Persönlichkeiten der russischen Politik erwärmen sich ebenfalls für siese Option. Der bereits in sowjetischen Zeiten aktive Militär und Abgeordnete Viktor Alksnis, bekannt als »der schwarze Oberst«, erinnerte die Parlamentarier daran, dass sie kürzlich ein Gesetz verabschiedet hatten, das Kritik an der Wagner-Truppe mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft.“

In der Tat bemerkenswert für eine illegale Vereinigung, von der ein guter Teil abgeurteilte Schwerbrecher sind.

„»Es kann nicht zwei (drei, vier usw.) Armeen in einem Staat geben! Alle militärischen Auftragnehmer und andere bewaffnete Formationen müssen verboten und entwaffnet werden!« Er schrieb auf Telegram und erinnerte dort an eine weitere Bedrohung: »Ich frage mich, was Präsident Putin jetzt mit Kadyrows tschetschenischer Armee machen wird, die über mehr als 70.000 Bajonette verfügt.«“

Ein Teil dieser 70.000 Kämpfer machte sich angeblich nach Rostov auf, um der Spuk ein Ende zu bereiten.
Das kann einer der Gründe sein, warum Prigozhin schnell einlenkte, weil Kadyrows Armee ist im In- und Ausland gefürchtet.
Zur allgemeinen Erleichterung, weil ein Zusammenstoß dieser beiden Formationen hätte in Rußland wirklich eine fatale Wirkung.

Ein weiterer einflussreicher Putin-Berater, sein Bevollmächtigter im Donbass und anderen besetzten Gebieten zwischen 2014 und 2020 – eine römische Richterposition, die der Kreml für seine inoffiziellen Unterführer eingerichtet hat –, Wladislaw Surkow, forderte ebenfalls die Entwaffnung der Wagnerianer. »In Russland ist es unmöglich, ein privates Atomkraftwerk zu haben. Aber eine private Sturmtruppe? Wieso das? »Diese Privatarmeen sind in Russland nur in Zeiten der Unruhen und des Bürgerkriegs von 1920 entstanden«, sagte er in einem Interview mit dem Politikwissenschaftler Alexei Tschesnakow.
Wer einmal als einer von Putins möglichen Nachfolgern galt, gab in dem Interview jedoch zu, dass Wagner“ (seinerzeit, 2014 ff.) „im Donbass eingesetzt wurde, um die Anheizung dieses Krieges durch den Kreml zu verbergen: »Warum brauchen wir diese Leute jetzt, wo wir offen am Kampf um die Ukraine teilnehmen?«“

Surkow meint anscheinend, die Wagner-Truppen seien inzwischen obsolet. Na ja. Wenn das so war, warum wurden sie dann in Bachmut – erfolgreich – eingesetzt? War das vielleicht ein Versuch, sich ihrer zu entledigen?
Wenn ja, so ist dieser Versuch gründlich gescheitert.

„Die Bilder von Zivilisten, die Prigozhins Truppen in Rostow am Don hochleben ließen, haben bei der russischen Elite Angst ausgelöst, der nun bewußt wird, wie sehr sich der Chef der Wagners in den letzten Monaten durch seine Kritik an Schoigu beliebt gemacht hat. Die gefürchtete russische Internet-Kontrollinstanz Roskomnadzor sperrte sofort den Zugang zu seinen Mitteilungen auf Vkontakte (VK) und dem russischen Facebook, während die wichtigsten Online-Verkaufsplattformen Ozon und Wildberries die Fan-Produkte von Wagner während des Aufstands versteckten und versprachen, »sie in naher Zukunft vollständig vom Markt verschwinden zu lassen«.
Die Angst davor, Wagner zu unterstützen, hielt kaum länger an als sein gescheiterter Vormarsch auf Moskau.
Wildberries bot an diesem Montag 11.565 Produkte der „Musiker“ an. Zu den beliebtesten Artikeln gehörten Autoschlüsselanhänger, Aufnäher, Macheten und Mützen. Viele davon sind bereits ausverkauft und haben Lieferzeiten von mehr als einer Woche.

»Wagner, die Musiker, den die ganze Welt kennt«, lautete das Motto einer Fahne, die ein Model zwischen Flammen hochhielt. Im Hintergrund ein Paramilitär, bewaffnet mit einer Geige, einem Gewehr und einem Raketenwerfer. Eine Vision der Söldner, die Prigozhin idealisiert hat – derselbe, der die verstümmelten Leichen von Dutzenden der von ihm in Bachmut eingesetzten Ex-Gefangenen zur Schau gestellt hat, um Shoigu dafür zu kritisieren, dass er ihm keine Munition gegeben hat.
Mit seiner Kritik hat Prigozhin in den letzten Monaten Sympathien bei den Russen erworben. Laut einer Umfrage des unabhängigen Soziologiezentrums Levada stand der Geschäftsmann im Mai erstmals auf dem Podium der am höchsten bewerteten Persönlichkeiten. Die Umfrage ergab, dass ihm 4% der Bürger vertrauten, verglichen mit 11% für Shoigu.“

???
Schoigu ist offensichtlich weitaus populärer, sofern man dieser Umfrage überhaupt vertrauen kann.

„Gegen den Wagner-Chef spricht die Vergangenheit seiner Helden. Das letzte Verbrechen der freigekommenen Häftlinge ereignete sich am selben Tag wie ihr Aufstand: Am 23. Juni betranken sich drei ehemalige Söldner in der Stadt Kurgan“

– im südlichen Ural, was machen sie dort?

„und eröffneten das Feuer auf ein Gebiet mit Ferienhäusern. Diesmal ohne Opfer, im Gegensatz zu anderen ähnlichen Vorfällen in den letzten Monaten.“

2 Gedanken zu “Pressespiegel El País, 27.6.: Einheit in Gefahr?

  1. Wagner-Medienkanäle gesperrt

    Die russische Medienbehörde Roskomnadzor hat Medienkanäle blockiert, die mit Wagnerchef Jewgeni Prigoschin in Verbindung stehen. Das berichtete die russische Zeitung Kommersant am Freitag.

    Die russischen Behörden haben die Wagner-Gruppe nach der gescheiterten Meuterei nicht verboten, aber im Rahmen eines Abkommens wurde ihren Kämpfern die Möglichkeit gegeben, in die regulären Streitkräfte Russlands integriert zu werden, sich ihrem Anführer im belarussischen Exil anzuschließen oder nach Hause zurückzukehren.“

    (Standard, 30.6.)

  2. Seltsame Vorgänge am Vorabend des Wagner-Aufstands:

    „In der Nacht des 24. Juni zogen sich die tschetschenischen Einheiten plötzlich zurück und begannen, Marjinka zu verlassen.“

    Deswegen ist der Ort bis heute teilweise in ukrainischer Hand, obwohl er vorher kurz vor der restlosen Eroberung stand.

    „Andere Divisionen der russischen Besatzer haben bisher keine ähnlichen Absichten gezeigt. »Heute (d.h., am 24. in der Nacht zogen sich die tschetschenischen Einheiten, die in Marjinka gegen uns kämpften, plötzlich zurück und begannen, die Stadt zu verlassen«, sagte Jaroslaw Tschepurnyj, Pressesprecher der 79. Sondereinsatzbrigade, in einer Informationssendung.
    Ihm zufolge bemerkte dies die Luftaufklärung der Streitkräfte der Ukraine, und diese eröffneten das Feuer, wodurch ein feindlicher Schützenpanzer ausgeschaltet wurde. Andere Formationen der Besatzer »lassen keine Absicht zum Abzug erkennen«.“

    (Ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN – 24.6.)

    Man kann dem erstens entnehmen, daß die Kadyrow und die tschetschenischen Sondertruppen von dem Kadyrow-Putsch informiert waren. Ob das mit Prigozhin oder mit dem Militärkommando abgesprochen war, bleibt im Dunkeln.
    Möglicherweise wurden sie abgezogen, um die Wagner-Truppe in Schach zu halten.

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