Rollback in Lateinamerika

AUS DER TRAUM?

„Warum endete Südamerikas progressiver Traum so plötzlich?“ fragte vor einigen Tagen der Guardian und bot auch gleich seine Erklärung an: Die alte Korruption holt die neuen Hoffnungsträger ein und macht ihre Bemühungen zunichte:

„Die langsame Zurückdrängung von Südamerikas »rosaroter Welle« bringt die weit verbreitete Korruption ans Tageslicht, die unter dem wirtschaftlichen Erfolg verborgen war, mit dem sich die fortschrittlichen Regierungen der Region eine Zeitlang schmücken konnten. Abgewählt in demokratischen Wahlen in Argentinien, vertrieben durch eine Art Palastrevolution in Brasilien, oder am Rande der sozialen Zusammenbruchs schwankend in Venezuela, – eine Liga von ähnlich tickenden progressiven Präsidenten wurde im Zeitraum von sechs Monaten auseinander gebrochen.“

Es gibt zwar auch noch „progressive“ Regierungschefs, die relativ fest in ihren Sätteln sitzen, wie die Castros in Kuba und Morales in Bolivien, aber im Großen und ganzen gibt der Artikel die Entwicklungen korrekt wieder. Auch die chilenische Regierungschefin Bachelet hat ihren Nimbus verloren, auch dort wurden Korruptions-Vorwürfe laut. Man könnte in diesen Reigen noch die fast vergessenen Putsche gegen Lugo in Paraguay 2008 und Zelaya in Honduras 2009 hinzuzählen, die schon einige Zeit zurückliegen, aber auf eines der zugrunde liegenden Probleme dieser Art von Politikverständnis hinweisen:

1. Was heißt eigentlich „progressiv“?

Was ist das Gemeinsame all dieser Regierungschefs, die als „progressiv“, oft sogar als „links“ eingestuft werden, meistens von ihren Gegnern, die zeigen wollen, daß „links“ endgültig out ist?
Das Gemeinsame ist der Glaube an die Demokratie als Herrschaftsform zu Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen, und an die Marktwirtschaft als einzig mögliche Wirtschaftsform, mit denen sich diese Figuren einen doppelten Widerspruch einhandeln.

Erstens wollen sie einen national erfolgreichen Kapitalismus hinlegen und damit der für ihre Nationalökonomie unvorteilhaften „Arbeitsteilung“ auf dem Weltmarkt entkommen, die sie zu Rohstofflieferanten und Märkten für die Heimatländer des Kapitals eingerichtet hat. Sie wollen also auf dem Weltmarkt gegen ihn die Oberhand behalten. Dieses Projekt wurde auch von antiimperialistisch eingestellten Personen weltweit unterstützt und als inzwischen einzig mögliche Form von Fortschritt und Volksbeglückung beklatscht und hofiert. Sowohl die „progressiven“ Regierungen als auch ihre Anhänger geben damit ihr Einverständnis in die eingerichtete Eigentumsordnung, in Markt, internationalen Handel und die Herrschaft des Geldes, und wollen nur die Spielregeln modifizieren, nach denen diese feinen Einrichtungen weltweit funktionieren.

Es geschieht ihnen also recht, wenn sie jetzt durch die Wirklichkeit eines Besseren belehrt werden.

Zweitens wollten sie diese nationale Kapitalakkumulation gegen ihre einheimische Unternehmerklasse durchsetzen.
Man spricht in Lateinamerika mit gutem Grund von einer Kompradorenbourgeoisie. Diejenigen Eliten, die sich im Laufe der Zeit dort durchgesetzt haben, sind genau diejenigen, die von dieser Rolle als Markt und Rohstofflieferant profitieren. Entweder sie betreiben die Rohstoffquellen, in Bergbau und Landwirtschaft, oder sie vermitteln ihren Export, oder sie bereichern sich am Import der Konsumgüter, die im Land zwar benötigt, aber nicht hergestellt werden. Die Bedienung des inneren Marktes mit vor Ort produzierten Waren ist ihnen kein Anliegen, es läuft ihren Interessen zuwider.

Es ist daher klar, daß die einheimischen Eliten den Kurs der Progressiven von Anfang an hintertrieben haben. Daß sie dabei natürlich auch viel Hilfe aus dem Ausland erhielten und erhalten, ist ebenfalls klar. Schließlich sind sie ja die Garanten dessen, daß die für die USA und EU gedeihliche „Arbeitsteilung“ auf dem Weltmarkt erhalten bleibt.
Das nur an die Adresse derjenigen, die beklagen, die derzeitigen Entwicklungen in Lateinamerika liefen irgendeiner höheren Ordnung oder dem Wohl der Bevölkerung zuwider. Dem Wohle der Bevölkerung dient weder die nationale noch der internationale Vorherrschaft von Geschäft und Gewalt. Und die Idee vom allerseits gedeihlichem Handel und Wandel, der bei etwas gutem Willen doch allen Beteiligten gut täte, ist ein Unfug, der von den Parteigängern des Kapitals verbreitet wird und vor dem sich seine Kritiker hüten sollten.

2. Die internationale politische Dimension des Zurückdrängens

Der Aufschwung diverser lateinamerikanischer Nationalökonomien war dem Aufstieg Chinas – als Macht und als Handelspartner – geschuldet. China zahlte bessere Preise für die Rohstoffe und Agrarprodukte, umging teilweise die Klasse der nationalen Zwischenhändler, vergab Kredite zu günstigeren Konditionen als der IWF und leierte Joint-Ventures auf dem Gebiet der Energieversorgung und der Infrastruktur an. Damit half China dem Kapitalmangel in diesen Ländern ab, ohne die betreffenden Unternehmen dadurch der Oberhoheit der dortigen Regierungen zu entziehen, wie das bei privaten Kapitalinvestitionen ausländischer Firmen sonst der Fall war.
Die Abwicklung all dieser Verbindlichkeiten steht inzwischen an – ob z.B. Argentinien oder Brasilien Verträge aufkündigen will, ob bei China aufgelaufene Schulden einfach nicht mehr gezahlt werden, ähnlich wie bei denen der Ukraine an Rußland, und ob das dem internationalen Währungssystem sehr gut tun wird, wird sich alles erst zeigen.

Die Kehrtwende in Brasilien, sofern sie überhaupt vollzogen wird – die neue Regierung Temer steht derzeit noch, entgegen den Meldungen der Medien, auf sehr wackligen Füßen – hätte sehr weitreichende Folgen.
Was wird aus den Lebensmittellieferungen nach Rußland, mit denen Brasilien nebst anderen lateinamerikanischen Ländern die gesperrten Lebensmittelimporte aus der EU zu ersetzen versuchte, und die aufgrund einer schon vorher getroffenen Übereinkunft nicht in Dollar, sondern direkt über Rubel und Real verrechnet werden? Werden die jetzt wieder auf $ umgestellt, wird Rußland darin einwilligen? Wenn nein, werden sie gestoppt? Was heißt das für Rußland und was für Brasilien?

Was wird überhaupt aus der BRICS-Initiative, wenn ein so wichtiges Land wie Brasilien herausbricht? Was wird aus der BRICS-Entwicklungsbank in Schanghai? Orientiert Brasilien überhaupt seinen ganzen Außenhandel um?
Wenn China aus Brasilien und Argentinien hinausgedrängt wird, springt dann der IWF als Kreditgeber ein? Kann er das überhaupt noch? Oder sind die inneren Spannungen und der Prestigeverlust durch die Ende-Nie-Baustellen im Euro-Raum bereits so fortgeschritten, daß er mit weiteren Löcherstopf-Aktionen seine Funktionalität für das Weltwährungssystem aufs Spiel setzen würde?

Dergleichen Entwicklungen haben das Potential, einen neuen Sturz auf den Weltbörsen auszulösen, da sie die Zahlungsfähigkeit vieler Länder aufs Spiel setzen, die sich bereits teilweise vom Weltgeld $ verabschiedet hatten, und nicht so einfach wieder dorthin zurückkehren können. Auch der Euro als Alternative erscheint nicht mehr sehr perspektivenreich.

3. „Korruption“ als Evergreen des Erklärungsnotstandes, und der wahre Grund: Rohstoffkrise

Diese sehr schwerwiegenden Folgen für die einzelnen Länder, für die Weltwirtschaft und das Weltwährungssystem werden irgendwie gleichermaßen verharmlost und verkehrt dargestellt, wenn der Verfasser im Guardian so locker hinschreibt: „bringt die weit verbreitete Korruption ans Tageslicht, die unter dem wirtschaftlichen Erfolg verborgen war“. Erstens war sie ja nicht verborgen, jeder wußte davon. Es gibt nichts Langweiligeres als die in den Medien so gerne breitgetretenen „Enthüllungen“ über Korruptionsfälle. Zweitens hat sie ja auch niemanden gestört, solange der Kuchen groß genug war, wo die Bestechungsgelder abgeschnipselt wurden.

Und das weist auf den wirklichen Grund der verpufften Reform-Energien oder des Endes der „progressiven“ Illusionen hin. Die solchermaßen hochgejubelten Staaten sind im Grunde Rohstofflieferanten und Märkte für Konsumgüter geblieben, nur hatten die Rohstoffe einen guten Preis und die Konsumgüter waren günstig. Letzteres hängt vom Wechselkurs ab, – wenn sich der ändert, so ändern sich auch die Preise der Importgüter.
Inzwischen ist sowohl der Hunger nach Energieträgern als auch deren Preis stark zurückgegangen. Die schrumpfende Bedarf Chinas und die allgemeine Krise haben überall Produktionsrückgänge zur Folge gehabt. Die Preise für Energieträger sind gefallen, und damit geraten Staaten, die einen guten Teil ihrer Einnahmen daraus beziehen, in Schwierigkeiten. Der ganze Prozeß, der zur Absetzung der brasilianischen Präsidentin geführt hat, nahm seinen Ausgangspunkt bei Ermittlungen im staatlichen Erdölkonzern. In Venezuela schließlich gerät die ganze Devisenbewirtschaftung durcheinander, weil sich die Einnahmen aus dem Ölverkauf so stark reduziert haben.
Im Falle von Rußland hat sich durch die gesunkenen Ölpreise die Zahlungsfähigkeit verringert, sodaß dieses Land auch innerhalb der BRICS als Markt nicht mehr das gleiche Potential hat wie noch vor einigen Jahren. Obendrein hat sich die russische Führung entschlossen, zumindest auf dem Gebiet der Lebensmittelproduktion die Auslandsabhängigkeit zu verringern und den inneren Markt wieder vermehrt mit eigenen Erzeugnissen zu beliefern. Wenn das gelingt, so werden die großen Agrarproduzenten Lateinamerikas weitere Exportausfälle zu verzeichnen haben.

Also von wegen, aus der Traum wegen Korruption und sonstigen menschlichen Schwächen! Genau derjenige Weltmarkt, auf den sie gesetzt haben, hat auf die „Progressiven“ zurückgeschlagen.

Wer zum Schwert greift …

Bad news

TERRORISMUSBEKÄMPFUNG
Anläßlich der Anschläge von Brüssel hört man einiges zu dem Thema: „Wie konnte es dazu kommen?!“ und die Erklärungsangebote sind beunruhigend: Es werden nämlich ausnahmslos Unterlassungen dingfest gemacht. Das, was geschehen ist, ist durch etwas entstanden, was nicht geschehen ist.
Das ist wissenschaftlich betrachtet Unsinn. Die Abwesenheit von etwas kann nie der Grund für etwas anderes sein. Was nicht ist, tut niemandem weh.
Diese Deutungen des Terrors sind aber gar nicht als Erklärungen der Wirklichkeit zu verstehen. Es sind vielmehr zukunftsweisende Absichtserklärungen, mit denen die politischen Akteure kundgeben, was sie zu tun gedenken, und die Medien fordern sie damit auf, das auch wirklich zu tun.
Eine dieser Verlautbarungen ist, die Integration sei gescheitert. Eine zweite lautet, die Überwachung hätte nicht hingehaut und daran anschließend, die Geheimdienste hätte versagt, unter anderem deshalb, weil sie nicht zusammenarbeiten.
„Integration“ „gescheitert“?
Was ist damit gemeint? Was ist eigentlich „Integration“? Ein ordentlicher Arbeitsplatz und damit ein gesichertes Einkommen, so der allgemeine Konsens. Und das hätten die Leute in der Banlieue, in Molenbeek, die Rioters in Großbritannien und die Jugendlichen in Griechenland vermutlich auch gerne. In der krisengeschüttelten EU mit 23 oder mehr Millionen Arbeitslosen, dazu jeder Menge working poor mit Sozialhilfezuschüssen usw. gibt es diese Arbeitsplätze allerdings nicht mehr. Gerade in Belgien, man erinnere sich, gab es 2014 große Proteste gegen die Betriebsschließungen in der Schwerindustrie und die Angriffe auf das Lohn- und Pensionsniveau – übrigens vergeblich. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, der Druck auf die noch Beschäftigten gewachsen.
Die berufliche Perspektivenlosigkeit kettet die jungen Leute an das Elternhaus oder treibt sie in die Kriminalität.
Der Begriff „Integration“ beinhaltet jedoch noch mehr. Er vermittelt den Eindruck, es läge nur an den Betroffenen selbst, sich zu integrieren, sich zu bemühen, Ausbildungen zu machen, miese Jobs anzunehmen, anständig zu bleiben, usw. usf. Bestenfalls werden noch Behörden angewiesen, ihnen dabei unter die Arme zu greifen und Hilfen für diese Integration anzubieten.
Dabei sind weder die Jugendlichen noch die Behörden diejenigen, die über den Arbeitsmarkt gebieten und Arbeitsplätze schaffen. Das kann nur das Kapital, und das hat in seiner inzwischen schrankenlosen Freiheit der Auswahl der Sphären und Standorte beschlossen, daß es einen guten Teil der europäischen Bevölkerung nicht benötigt.
Es ist also die Integration nicht „gescheitert“, sondern die Schaffung von überflüssiger Bevölkerung ist ein Ergebnis der Akkumulation des Kapitals, nicht der Abwesenheit von gutem Willen und Investitionen.
Kontrolle der Bevölkerung mangelhaft?
Hier schlagen sich alle möglichen Vertreter der nationalen Gewaltapparate der EU auf die Brust und seufzen „mea culpa“. Andere wiederum meinen, ihre Hausübungen bereits gemacht zu haben und auf dem richtigen Weg zu sein. Man müßte mehr Telefongespräche abhören, mehr Spitzel anwerben, mehr Verkehrskontrollen veranstalten, mehr Sicherheitskräfte einsetzen usw. Die Staaten sind aufgerufen, ihrerseits zu investieren, den ganzen Sicherheitsapparat aufzustocken, mehr Polizisten mit Waffen patrouillieren zu lassen, die Grenzen besser zu überwachen – Schengen ade! – und die Gesetzeslage dahingehend zu verändern, daß sich die Polizei und Justiz von allen falschen Rücksichten gegenüber den Untertanen möglichst entfesseln. Dabei können sie auf Medien zählen, die diese Aufhebung der bürgerlichen Rechte begrüßen und beklatschen.
Man erinnere sich, daß in Frankreich seit Monaten der Ausnahmezustand herrscht. In dem Land, das seinerzeit die Deklaration der Menschenrechte verabschiedete, können heute Leute ohne richterlichen Befehl verhaftet und Hausdurchsuchungen vorgenommen werden, Versammlungen verboten und Leute recht lange ohne Anklage in Haft gehalten werden. Ähnliche Entwicklungen sind in ganz Europa zu erwarten, ähnlich wie in den USA durch dem Erlaß der Antiterrorgesetze nach 9/11.
Das totalitäre Ideal, den Menschen ins Hirnkastl hineinschauen und dadurch alle strafbaren Handlungen bereits im Vorfeld unterbinden zu können, wird hier wieder einmal gepäppelt. Ein Ideal bleibt es allemal, und den Terror damit zu bekämpfen, ist unmöglich: Staaten, wo ein Teil der Bevölkerung hauptberuflich damit beschäftigt ist, den anderen zu überwachen, können auf Dauer nicht bestehen – die Demokratie, und das war ihr Erfolgsmodell, beruht auf dem Konsens der Bürger, nicht auf ihrer Kontrolle.
Bei all diesen Verfahrensformen und Aussagen, und auch beim lockeren Umgang mit Asylrecht und Flüchtlingen, der schon die UNO als Kritiker auf den Plan gerufen hat, zeigt sich auch noch ein weiteres wichtiges Moment der Demokratie: sie ist eine Staatsform, erfüllt sie ihren Zweck nicht mehr, so wird eben anders Staat gemacht.
Rückerinnerung: DSCHIHAD (25.8. 2014)