Zu Italiens Budget-Entwurf

GRUNDEINKOMMEN ALS AUSWEG AUS DER KRISE?

Zu den Wahlversprechen der 5-Sterne-Bewegung gehörte ein Grundeinkommen für Arbeitslose. Mit diesem Versprechen kamen sie vor allem im Mezzogiorno gut an, weil dort Jobs an und für sich rar sind.
Nach ihrem Wahlsieg wurde das schon etwas abgespeckt und sollte sich auf eine Einkaufskarte reduzieren. Das blieb natürlich auch nicht lange im Gespräch, weil mit der kann man ja weder Miete noch Schulden noch die Stromrechnung bezahlen.

An dem, wie diese Sozialhilfe am Ende aussehen soll, wird noch herumgebastelt. Die EU ist auf jeden Fall dagegen, weil dafür angeblich kein Geld da sei, und die EU-Kommission hat den italienischen Budgetentwurf zurückgewiesen.

Was würde so ein Grundeinkommen volkswirtschaftlich gesehen bedeuten?

1. Grundeinkommen – Zahlungsfähigkeit auf Staatskredit

Ein Grundeinkommen würde einen Teil der Bevölkerung, der vom Standpunkt des Kapitals überflüssig ist – redundant population – mit einer wenngleich sehr beschränkten Zahlungsfähigkeit ausstatten. Ein Leben in Saus und Braus wäre also keinesfalls möglich, es ginge hier um das schlichte Überleben.
Ein Moment dieser Grundeinkommensidee ist in Italien sicherlich, damit den verschiedenen Mafia-Gruppen das Wasser abzugraben. Wenn die Bevölkerung Süditaliens mit einer Überlebenschance ausgestattet wäre, so würde damit die Motivation wegfallen, bei der Cosa Nostra oder sonstwo anzuheuern, um die Familie füttern zu können. Ein Grundeinkommen würde also die nationale Sicherheit erhöhen und geringere Kosten für den Sicherheitsapparat zum Ergebnis haben. So könnte eine Überlegung der italienischen Regierung oder zumindest der 5-Sterne-Mitglieder aussehen.

Es ist übrigens für diese Überlegung ganz gleichgültig, ob dieses Grundeinkommen bedingungslos oder an bestimmte Leistungen für die Gemeinschaft geknüpft wäre. Auch vom ökonomischen Standpunkt her ist es gleichgültig: Die Leute hätten eine auf niedrigem Niveau gesicherte Existenz und müssen nicht kriminell werden.
Man vergesse nicht den weiteren erwünschten Effekt dieses Grundeinkommens: Mit dieser beschränkten, aber gesicherten Zahlungsfähigkeit könnten die Betroffenen ihre Miete zahlen, also Immobilienbesitzern Geld in die Kassen spülen. Sie könnten sich ernähren und damit Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie helfen, ihre Waren zu versilbern. Und die könnten sich bekleiden und ihre Stromrechnung zahlen, was den Absatz der Produkte von Energiewirtschaft und Textilindustrie ermöglichen würde.

Sie wären also ein zwar beschränkter, aber immerhin sicherer und zahlungsfähiger Markt für das internationale, in erster Linie europäische Kapital. Das Grundeinkommen hätte eine wohltuende Wirkung in Bezug auf den „Salto Mortale“ der Waren, den Verkauf.

Die wichtige Frage ist jedoch, wie wird ein solches Einkommen finanziert? Es ist der Staat, der dieses Geld auszahlen würde, und nicht ein profitorientiertes Unternehmen.

Der Staat hat genau zwei Liquiditätsquellen: Erstens das, was er aus seiner Gesellschaft herausholt, in Form von Steuern, Abgaben, Gebühren usw. Zweitens, der Kredit.
Es ist klar, daß Leute, die nichts haben, dem Staat auch keine Einnahmen verschaffen können. Es bleibt also nur der Staatskredit für die Schaffung dieses Grundeinkommens.

2. Kredit als Quelle der staatlichen Zahlungsfähigkeit

Beim Kredit des Staates gibt es auch zwei große Gruppen von Krediteuren.

Das eine sind die eigenen Banken. Der Staat verschuldet sich bei seinen Banken und zahlt ihnen dann dafür Zinsen, und die Banken haben dadurch ein sicheres Zinseinkommen. Es wäre zumindest ein geschlossener Kreislauf, auch wenn die Staatsschuld immer mehr anwachsen würde. Solange die Banken dem Staat glauben, daß er weiter zahlen wird, so lange geben sie ihm auch diesen Kredit.

Dieses Schema setzt allerdings eine nationale Währung voraus, in der sich dieser Staat bei seinen eigenen Kreditinstituten verschulden kann. Hier sieht man sehr gut den Unterschied zwischen Italien und Großbritannien, den beiden EU-Mitgliedern mit der in absoluten Zahlen höchsten Staatsschuld: Die Verschuldungsfähigkeit der britischen Regierung ist praktisch unbegrenzt und kein Thema in den Medien. Italien hingegen ist an die Sparpolitik des europäischen Stabilitätspaktes gebunden. Zumindest sehen die anderen Staaten der Eurozone das so.

Die zweite Quelle des Kredits sind nämlich die internationalen Kreditgeber. Dazu gehören Fonds aller Art, Banken, Versicherungen, Stiftungen, die ständig die Welt nach Investitionsmöglichkeiten abgrasen, wobei ein Gesichtspunkt die Rendite ist, der andere die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. Die beiden stehen in umgekehrten Verhältnis zueinander: Je schlechter die Zahlungsfähigkeit eingestuft wird, um so mehr Zinsen muß dieser „schlechte“ Schuldner zahlen.

Mit der Einrichtung der Gemeinschaftswährung verschmolzen diese beiden Kreditquellen bis zu einem gewissen Grad. Der Zins, den ein Staat für seine Anleihen entrichten mußte, glich sich an. Die nationalen Banken gaben sich nicht mehr mit einem geringeren Zinsfuß zufrieden, alle verlangten die gleichen Bedingungen.
Das störte damals niemanden. Die Staaten freuten sich, daß die ganze Welt ihre Anleihen nachfragte, die inzwischen in einer international anerkannten Währung auf allen Weltbörsen gehandelt wurden.
Die einheimischen Banken freuten sich, daß sie höhere Zinsen kriegten.
Die ausländischen Kreditgeber waren auch total scharf auf Anleihen in Euro. Sie machten zwar immer noch kleine Unterschiede zwischen den nationalen Fähnchen, die auf den Anleihen drauf waren, aber kauften auch die Anleihen Griechenlands und Portugals mit großem Eifer, weil dahinter stand ja, so die damalige Ansicht, die Wirtschaftskraft der gesamten EU, und eine bessere Rendite als die der Anleihen Deutschlands. Die Differenz, der sogenannte „spread“, war damals aber vergleichsweise gering und betrug 2-3%.

Diese vermeintliche Win-Win-Situation hielt genau bis 2008 an, als die Kreditgeber auf einmal genauer auf die nationalen Fähnchen achteten und die „spreads“ sich erhöhten. Die Krise brachte auch noch ein eigenes Wertpapier hervor, die Kreditversicherungs-Zettel, die die Zinsen der fragwürdigen Staaten weiter hinauftrieben.
Die einheimischen Banken waren jetzt entweder patriotisch und hilfsbereit, was sie in den Ruin trieb, wie in Griechenland oder Zypern. Andere bewiesen sich als vaterlandslose Gesellen und kündigten dem eigenen Staat den Kredit, wie in Portugal 2011, als die größten Banken sich weigerten, den Staat weiter zu kreditieren. (Es half übrigens den portugiesischen Banken nichts, sie gingen auch pleite und mußten mit EZB-Geldern gestützt werden.)

Aufgrund des internationalen Vertrauensverlustes gab es nur mehr eine Möglichkeit, die Pleitestaaten der Eurozone und damit den Euro selbst zu retten, und das war der kollektive Kredit der Eurozone. So wurden Rettungsfonds eingerichtet und der EZB-Kredit verstärkt in Anspruch genommen.

3. Die EZB und die Rettungsfonds

Die Rettungsfonds wurden gegründet, als aufgrund der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, und dann Irlands und Portugals der Euro auf dem Spiel stand. Sie sehen so aus, daß die zahlungsfähigen Staaten Garantien für die zahlungsunfähigen übernehmen. Das heißt, daß die – damals! – zahlungsfähigen Staaten mit ihrer Kreditmacht Garantien für die Kredite der zahlungsunfähigen übernehmen und damit den Kredit – das in den Euro gesetzte Vertrauen – der gesamten Eurozone strapazieren.

Diese damals ziemlich ad hoc, d.h. anlaßgegeben aus der Taufe gehobenen Garantiekonstruktionen sind nicht erweiterbar. Italien kann das Geld der Rettungsfonds nicht in Anspruch nehmen. Abgesehen davon, daß die dort noch vorhandenen Summen zu gering für die Geldnöte Italiens wären, so ist Italien selbst Garantiemacht. Das heißt, es steht mit seinem Nationalkredit für den Kredit anderer Staaten gerade und kann deshalb selbst diesen Kredit nicht in Anspruch nehmen.

Das heißt, daß bloß die EZB als „lender of last resort“, letzter Kreditgeber, zur Verfügung steht.
In diesem Falle hieße das, daß die EZB Italien das Geld zur Verfügung stellen müßte, das Italien benötigt, um 1. seinen Schuldendienst weiter zu leisten, 2. seine Banken zu stützen, 3. seine Infrastruktur zu sanieren (man erinnere sich an die eingestürzte Brücke in Genua, die erdbebengeschädigten Ortschaften in den Abruzzen und die völlig veralteten Eisenbahnen) und 4. seine Bevölkerung mit Grundeinkommen und Pensionen funktional und ruhig zu halten.

4. Grundeinkommen für alle Überflüssigen geht nicht

Man sieht, Italien benötigt viel Geld, um weiter als Mitglied der EU halbwegs zu funktionieren – als Kapitalstandort, als Markt und als Beitragszahler.
Es ist jetzt sehr kleinlich, wenn die EU sich gerade an der Grundeinkommens-Frage ziert und sagt: Also nein, das geht jetzt wirklich nicht mehr!

Umgekehrt ist eben die Frage: Wie weiter?

Soll die EU ihren Kredit strapazieren, um ihre immer mehr strauchelnden Mitglieder aufrecht zu erhalten? Kann die EU so funktionieren, den Euro aufrecht erhalten?

Heute Italien, morgen Spanien, übermorgen Frankreich? Überall wächst die überflüssige Bevölkerung, inzwischen auch in den Kernstaaten der Eurozone, nicht nur an der Peripherie, dem Hinterhof der EU: Auch wenn die Medien fest hetzen, daß die „Sozialschmarotzer“ alle nicht arbeiten wollen und zur Arbeit gezwungen werden sollten, anstatt sie in der „sozialen Hängematte“ weiter durchzufüttern, auch wenn mit Hartz IV in Deutschland die Leute drangsalisiert werden, so gut es nur geht – die Tatsache bleibt, daß in der ganzen EU immer mehr Leute ohne Einkommen dastehen.

Italien ist da kein Sonderfall.

Was tun mit den Überflüssigen? Indische Zustände einreißen lassen, wo die Leute auf der Straße Hungers oder an Krankheiten sterben?
Lager einrichten, Arbeitshäuser, Privatgefängnisse wie in den USA, wo moderne Sklavenarbeit wieder an Unternehmen vermietet wird, die bei fast 0 Arbeitskosten profitabel produzieren können? Werden sich das alle Betroffenen gefallen lassen?

Es ist begreiflich, daß Italiens Regierung für ein Grundeinkommen oder eine flächendeckende Sozialhilfe optiert. Und es ist, angesichts der oben angeführten Alternativen, auch nicht unsympathisch. Sie möchten ihre Bevölkerung angesichts trostloser Perspektiven zumindest irgendwie am Leben und für etwaige spätere Inanspruchnahme durch das Kapital fit halten. Und wenn sich kein Anwender findet, so sollen die Menschen dennoch nicht krepieren.

Unter den kapitalistischen Bedingungen und dem Euro als Einheitswährung ist dieses Verfahren aber nicht möglich. Es würde sowohl die Gewinnproduktion als auch das Kreditwesen ad absurdum führen. Und zwar deshalb, weil es keine Perspektive gibt, daß diese Menschen je wieder gebraucht würden. Das Grundeinkommen würde einen Dauerzustand bedeuten, und den Kredit, der auf Gewinn zielt, rein auf die Staatsgewalt gründen.

5. Die Anhänger des Grundeinkommens: Staats- und Marktfans

Abgesehen davon, daß die Idee des Grundeinkommens im Kapitalismus nicht machbar ist – ist ein solcher Zustand erstrebenswert?
Einen guten Teil der Bevölkerung zu staatlichen Almosenempfängern zu machen, ist erstens für die Betroffenen unerfreulich. Sie kriegen damit vorgeführt, daß sie unnötig und auf die Gnade der Staatsgewalt angewiesen sind, ohne jede Möglichkeit, dem zu entkommen. Die einzige Möglichkeit ist der Versuch, Nischen-Jobs zu finden, wie Rikschafahrer oder Fahrradbote, zum gleichen Verdienst. Kunsthandwerk verfertigen? Batik und Tiffany-Lampen, auf die keiner neugierig ist?

Es ist absehbar, daß sich ein guter Teil dieser Menschen mit Drogen und Alkohol zutörnen wird.

Beziehungen und Familiengründung, und sei es auch in alternativen Patchwork-Familien und Homo-Ehen, stehen für diese Leute ebenfalls unter keinem guten Stern. Wofür Kinder kriegen und aufziehen? Um Bettler in die Welt zu setzen?

Abgesehen von den trostlosen Aussichten für die Bezieher dieser Sozialhilfe stellen sie eine Klientel des Staates dar, die dieser dann nach Belieben einsetzen kann, weil diese Leute sind völlig abhängig von den staatlichen Zahlungen. Es hängt nur von den Zielen der jeweiligen Regierung ab, wofür sie diese Leute mobilisieren will.
Ab morgen werden Flüchtlinge zusammengesammelt und ins Meer geworfen! Du hast am Soundsovielten dort zu sein und dabei mitzumachen, diese Flüchtlinge zusammenzutreiben!
Was, du willst nicht? Na, dann streichen wir dir sofort das Grundeinkommen!
Roma und sonstige unerwünschte EU-Bürger werden dann und dann zusammengesammelt und in KZs gesperrt.
Was, das gefällt dir nicht? Na, dann schau, wie du ab morgen ohne Grundeinkommen weiterkommst!

Und seien wir ehrlich, Salvini und Co. ist dergleichen durchaus zuzutrauen.

Vielleicht wäre es doch besser, darüber nachzudenken, ob Staat, Privateigentum, Markt und Geld wirklich notwendig sind zum Funktionieren der menschlichen Gesellschaft, anstatt sich dauernd darüber den Kopf zu zerbrechen, wie man diese tollen Einrichtungen retten kann.

Pressespiegel: El País, 24.10.

DIE TÜRKEI NÜTZT DEN FALL KASHOGGI, UM SAUDI-ARABIEN GEGENÜBER AN EINFLUSS ZU GEWINNEN
Andres Mourenza
Eine der Fragen, die angesichts des Falles Kashoggi hinter den Kulissen debattiert werden, ist die der Machtverhältnisse im Nahen Osten, wo die Türkei die Führungsrolle gegenüber anderen Mächten beansprucht, die diese traditionell innegehabt haben, wie dem Iran, Ägypten und vor allem Saudi Arabien. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat ihre Arme für die Dissidenten dieser Länder geöffnet, während bei sich zu Hause innerhalb der letzten 2 Jahre 60 000 Personen unter der Anklage der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen im Gefängnis gelandet sind, darunter 150 Journalisten.
Am 8. Oktober, nach 6 Tagen ohne Nachrichten vom saudischen Journalisten Jamal Kashoggi, und angesichts der Hypothese einer möglichen Ermordung, versammelten sich Mitglieder verschiedener Vereinigungen vor dem Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Sie verlangten rechtliche Schritte. Da waren ägyptische Anwälte, syrische Journalisten, irakische und libysche Aktivisten und auch die jemenitische Nobelpreisträgerin Tawakul Kerman. Für sie alle bedeutete nämlich das Verschwinden Kashoggis nicht nur den Verlust eines Freundes und einer Person gewissen Bekanntheitsgrades, sondern erzeugte auch Ängste, daß die Tentakel derjenigen autoritären Regimes, denen sie entkommen waren, sie auch im Exil erreichen könnten.
„Obwohl die türkische Regierung gegen ihre eigene Opposition mit seit Jahrzehnten nicht gekannter Härte vorgeht, hat sie Dissidenten aus dem Nahen Osten mit einer politischen oder religiosen Profilierung willkommen geheißen“, erklärt Aaron Stein vom Think Tank Atlantic Council.
„Bis in die 90-er Jahre ließen sie (Regimekritiker aus dem Nahen Osten) sich in Paris, London oder den USA nieder, weil diese Staaten eine Politik der Offenen Tür gegenüber Dissidenten in den Tag legten. Aber die seit 2 Jahrzehnten geführten Debatten um die Migration haben es sehr erschwert, sich dort niederzulassen. Es ist inzwischen sogar sehr schwierig, irgendeinen Oppositionellen aus dieser Weltgegend zu einer Konferenz nach London oder Washington einzuladen, aufgrund des verschärften Visa-Regimes“, versichert Mohammed Okda, Politberater aus Ägypten und persönlicher Freund Kashoggis. „Die Türkei hingegen ist in Sachen Aufenthaltsgenehmigung sehr großzügig, und angesichts einer wachsenden arabischen Bevölkerung ist es leichter, sich in einem ohnehin muslimischen Land zu integrieren.“
Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten nimmt die Türkei die uigurische Diaspora auf, die eine verwandte Sprache spricht, trotz des guten Verhältnisses zwischen Ankara und Peking. Ebenso geben sich Oppositionelle aus Zentralasien und dem russischen Kaukasus in der Türkei ein Stelldichein. Im Osten, in Van ist es nicht schwierig, politische oder religiöse Flüchtlinge aus dem Iran zu treffen. Was sich seit dem Regierungsantritt Erdogans verstärkt hat, sind die Beziehungen mit Oppositionellen aus dem arabischen Raum, vor allem nach dem gescheiterten „Arabischen Frühling“, den die Türkei zu nutzen versuchte, um an Einfluß zu gewinnen, indem sie sich als Modell für eine Umgestaltung präsentierte.
„Die alten Kolonialmächte sind mehr an Stabilität interessiert, und deshalb haben sie oft die Autokraten des Nahen Ostens unterstützt. Erdogan hingegen hat sich in dieser Region als Beschützer der Schwachen dargestellt, was ihm in den arabischen Gassen viel Bewunderung eingebracht hat“, fügt Okda hinzu. Seit dem Anfang des „Arabischen Frühlings“ haben sich Vertreter der Muslimbrüder verschiedener Länder in Istanbul die Klinke in die Hand gegeben, und auch mit Regierungsvertretern verhandelt, und als er scheiterte, nahm die Türkei diejenigen auf, die vor Verfolgung flüchteten. Weiters hat die Syrische Nationale Koalition, eine Dachorganisation von Gegnern des Assad-Regimes, ihren Sitz in Istanbul. Andere türkische Städte in Grenznähe zu diesem kriegsgeschüttelten Land haben Anführer diverser Rebellenfraktionen aufgenommen.
Der türkische Islamismus hat andere Wurzeln als derjenige der Muslimbrüder und unterscheidet sich von ähnlichen Strömungen durch Betonung auf dem nationalen Interesse. Vor 2 Jahren erklärte mir der Experte Rusen Çakir, daß die türkischen Islamisten zwar Wert auf die muslimische Umma (Gemeinschaft) legen, aber bitte unter ihrer Führung, im Anklang an das seinerzeitige Osmanische Reich. Diese Idee findet sich auch in den Äußerungen Erdogans. Zuletzt betonte er am 15. Oktober: „Die Türkei ist das einzige Land, das die islamische Welt anführen kann.“
Im Wechsel der Verbündeten (…) hat die Türkei in jüngerer Vergangenheit Partei gegen das Ägypten Marschalls Al Sisis ergriffen, nimmt Anhänger des gestürzten Präsidenten Morsi auf und erlaubt ihren Radioprogrammen, aus Istanbul zu senden. Katar hat es gegen die von Riad angeordnete Blockade verteidigt.
(Darin ist die Unterstützung für Katar sehr verkürzt zusammengefaßt. Die türkische Regierung hat eine Luftbrücke zur Sicherstellung der Versorgung mit Katar errichtet und eigenes Militär hingeschickt, um Saudi-Arabien von einem Einmarsch abzuhalten. Ohne die Türkei hätte Katar das nicht durchgestanden.)
Die Beziehungen zu Saudi-Arabien haben sich seit dem Aufstieg des Kronprinzen Mohammed Bin Salman und dessen aggressiver Außenpolitik verschlechtert. Im Zuge dessen kam es zur engen Verbindung mit Ägypten und den Vereinigten Emiraten, mit denen die Türkei seit geraumer Zeit über Kreuz ist. Dort machte übrigens – ganz zufällig – die 15-köpfige Truppe der vermutlichen Kashoggi-Mörder eine Zwischenlandung bei ihrer Rückkehr nach Riad in 2 Privatflugzeugen.
„Der Nahe Osten hat sich in einen Dschungel verwandelt, in dem jedes Land nach Mitteln zur Gewinnung von Einfluß sucht. Und die Türkei nutzt den Fall Kashoggi, um zu zeigen, daß sie Macht hat und viel bewirken kann“, meint Ilke Toygur, eine türkische Mitarbeiterin des Real Instituto Elcano. Ein Ziel der türkischen Regierung, die an die Medien Details über seine Ermordung durchsickern ließ, ohne sie offiziell zu behaupten, besteht darin, „den Druck auf die USA zu erhöhen, damit Washington Druck auf Saudi Arabien ausübt, um Bin Salman zu schwächen und Riad zur Änderung seiner Außenpolitik zu bewegen.
Während der jüngsten Krise hat Erdogan zweimal mit Salman Bin Abdulaziz, dem Vater von Prinz Mohammed telefoniert, und dadurch erreicht, daß die Angelegenheit jetzt von ihm gehandled wird. Er hat den vorher aggressiven Ton Riads gemildert und den Mord zugegeben. Falls sich die Türkei doch irgendwann mit der Version Saudi-Arabiens zufriedengeben sollte, so würde das bedeuten, daß Erdogan etwas dafür erhalten hat, politisch oder wirtschaftlich.
(Angeblich soll die kürzliche Erholung der türkischen Lira auf Interventionskäufe aus Saudi-Arabien zurückzuführen sein.)