Großmachtpolitik gegen harmlosen Handel und Wandel?

IST RUSSLAND IMPERIALISTISCH?

Und wie! – behaupten die einen und können sich gar nicht beruhigen über den unerhörten Bruch des Völkerrechts, der mit der Einverleibung der Krim stattgefunden haben soll.
Auf keinen Fall! – meinen die anderen. Rußland verteidigt nur seine Interessen und weist die wirklichen Imperialisten in ihre Schranken.

Begriffsklärung

Der Duden definiert Imperialismus als „Bestreben einer Großmacht, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich immer weiter auszudehnen“.
Damit wäre das Phänomen auf Großmächte beschränkt. Aber erstens, ab wann ist ein Staat eine Großmacht? und zweitens: wie ist das überhaupt mit dem „politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich“ eines Staates? Ist der nicht jedem Staat zu klein? Ist es ein Privileg von Großmächten, diesen immer weiter ausdehnen zu wollen? Sind Kleinstaaten davor gefeit? Ab wieviel Einwohnern oder Quadratkilometern beginnt der Sündenfall?

Imperialismus kleinformatig
Nehmen wir doch einen Staat wie Österreich. Österreich hat seit der Wende einiges unternommen, um seinen „politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich“ über seine Grenzen hinaus auszudehnen.

So war es sehr aktiv in der Zerschlagung Jugoslawiens. Es benützte seine Medien, um alle Versuche, den Zerfall des Landes aufzuhalten, als Terror und Unterdrückung durch „die Serben“ zu brandmarken. Die österreichische Regierung, aber auch die in Opposition befindlichen Grünen unterstützten mit allen – durchaus auch materiellen – Mitteln die Unabhängigkeitsbestrebungen Kroatiens. Es war federführend in der Anerkennungspolitik der austrittswilligen Teilrepubliken. Das offizielle Österreich jubelte der NATO bei ihren Bombardements 1999 zu. Zu diesem Anlaß entdeckte die österreichische Politik den Freiheitsdrang der Albaner. (Später wurden die albanischen Flüchtlinge wieder abgeschoben.)
Mittels der österreichischen Banken erschloß sich Österreich die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die Bank, deren Pleite seit Jahren so viel Wirbel verursacht, war eine Speerspitze dieser nationalen Ambition.
Österreich beteiligt sich seit Jahrzehnten an den UNO-Missionen in Bosnien und dem Kosovo. Es unterhält, obgleich offiziell neutral, eine spezielle Eingreiftruppe für den Balkan. In Bosnien stellt die österreichische Diplomaten-Garde inzwischen schon den zweiten Hohen Repräsentanten in Bosnien.

Die Offensive der österreichischen Banken in die vormals sozialistischen Staaten tat ein weiteres, den „politischen … und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich“ weit über die Grenzen Österreichs hinaus auszudehnen.

Am besten zeigt sich dieses Bestreben an Ungarn.
Kaum war Ungarn am Rande der Zahlungsunfähigkeit und eine Regierung kam an die Macht, die den Verfall der Ökonomie und Gesellschaft irgendwie in den Griff bekommen wollte, so ging das Geschrei in Österreich los: „Unsere“ Banken werden zur Kasse gebeten, Skandal! „Unsere“ Unternehmen müssen Sondersteuern zahlen! „Unsere“ Landwirte werden enteignet!
Es war allen Politikern, Medienfritzen und braven Patrioten klar, daß Österreichs Interessen in Ungarn eigentlich sakrosankt zu sein hätten und jeder Versuch der Regierung eines anderen Staates, den Einfluß Österreichs zurückzudrängen, ein Affront und eine Unerhörtheit sei.

Diese Arten der Einflußnahme gelten aber denen, die jetzt gegen den Imperialismus Rußlands zu Felde ziehen, keineswegs als „Imperialismus“. Nein, das ist mehr oder weniger „Entwicklungshilfe“, mittels derer die Nachbarstaaten mit der Marktwirtschaft beglückt werden.

Imperialismus der nachrangigen Gewalten
Das „Bestreben …, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich … auszudehnen“, findet sich auch bei denjenigen Staaten, die die Bühne des Weltmarktes und der Staatenkonkurrenz im Zuge der Entkolonialisierung betreten haben.
Diverse Staaten Lateinamerikas und Afrikas haben bis heute offene Grenzfragen mit ihren Nachbarstaaten. Das hat im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte schon zu einer Reihe von Kriegen geführt, bei denen mißliebige Regierungen vertrieben und andere, den aggressiven Nachbarn genehme eingesetzt wurden. Grenzen wurden verschoben, wichtige Häfen oder Bergbaugebiete waren Ziel des begehrlichen Blickes der dortigen Souveräne. Man erinnere sich an den Falkland-Krieg. Bis heute streiten sich Argentinien und Chile um Teile der Antarktis.

Nach der Wende 1989 erwachten in diversen ehemals sozialistischen Staaten alle möglichen als „Nationalismus“ und „Revanchismus“ gebrandmarkte Begierden, den „politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich … auszudehnen“, um so mehr bei solchen Staaten, denen gerade Teile ihres vormaligen Staatsgebietes abhanden gekommen waren.
Ungarn sieht seine ehemaligen Gebiete als Einflußgebiete, die es leider nicht annektieren kann, aber wo es unbedingt mitreden will – nicht erst seit Orbán. Polen mischte sich eine Zeitlang sehr kräftig in Weißrußland und der Ukraine ein. Usbekistan und Kirgisien sind sich überhaupt nicht grün über das Fergana-Tal, das beide gerne exklusiv beherrschen würden. Armenien gibt Berg-Karabach nicht an Aserbaidschan zurück. Usw. usf.

Für die braven Staatsbürger, die die „Völkerfamilie“ gerne als eine durchs Völkerrecht geregelte friedliche Ansammlung von „zivilisierten“ Gesellschaften sehen wollen, wo „Gewalt kein Mittel der Politik sein darf“, sind alle diese Vorkommnisse Verstöße gegen ihre schönen Prinzipien, gegen die gerne die wirklichen Welt- und Großmächte als Hüter der Weltordnung angerufen werden.
Dieser staatsbürgerliche Idealismus, der immer gerne Prinzipien gegen die Wirklichkeit in Anschlag bringt und Abweichungen bejammert, hat sich als eigenes Staatssystem einst eine Zeitlang etabliert.

Der Imperialismus der sozialistischen Staaten
wollte nie einer sein. Sie hielten sich an die andere Definition, den der Duden auch bereit hält. Laut der „marxistischen Wirtschaftstheorie“ ist nämlich „Imperialismus“ die „zwangsläufig eintretende Endstufe des Kapitalismus mit konzentrierten Industrie- und Bankmonopolen“.

Was Staaten machen, ist also gar nicht das Thema dieser hier etwas verkürzt wiedergegebenen Theorie, die – dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt – nicht von Marx, sondern von Lenin stammt. Nach dieser Definition sind es nur Banken und Industrie, die „Imperialismus“ betreiben. Staaten sind unschuldige Macht-Hülsen, denen so etwas von selbst nie einfallen würde. Wenn sie es trotzdem tun, so nur deshalb, weil sie von „Monopolen“ dazu getrieben werden. Wo es also keine Banken und profitgierigen Unternehmer gibt, kann es also laut dieser Definition gar keinen „Imperialismus“ geben.

Die Sowjetunion betrieb von allem Anfang an Imperialismus in der ersten Definition: Sie bemühte sich, „ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich immer weiter auszudehnen“. Der Idee der Weltrevolution begab sie sich bereits 1922, nicht erst unter Stalin. Mit der Festlegung des „Sozialismus in einem Land“ strebte sie Anerkennung als Staat im Konzert der Nationen an. Sie definierte damit die kommunistischen Parteien anderer Länder zu Instrumenten der Außenpolitik der Sowjetunion.
Falls es dennoch zu Revolutionen in anderen Ländern kam, wie in Jugoslawien oder China, so führte das früher oder später zum Bruch mit der SU. Diese Staaten beharrten auf einem eigenen Weg und wurden selber imperialistisch, wie Jugoslawien mit der Blockfreien-Bewegung oder China mit seinem eigenen Weg der Unterstützung derer, die sich gegen das „Großmachtstreben“ der SU verwehrten.

Die SU bemühte sich, weltweit Verbündete zu schaffen, die der SU und nicht den USA und deren europäischen Verbündeten verpflichtet waren. Für die Außenpolitik bzw. den Imperialismus der SU war es gleichgültig, wie diese Staaten im Inneren verfaßt waren. Sie unterstützten im Interesse ihrer Bündnispolitik auch Mörderregimes wie dasjenige Saddam Husseins im Irak oder dasjenige Mengistus in Äthiopien. Ebenso unterstützte China im Versuch, seinen Einfluß über die Landesgrenzen hinaus auszudehnen, unter anderem die Roten Khmer in Kambodscha. Bis heute hält es aus geostrategischen bzw. imperialistischen Absichten heraus seine schützende Hand über Nordkorea.
Die Anhänger der SU jedoch beharrten darauf, daß die SU eine „Weltfriedensmacht“ und keineswegs aggressiv sei. Die verdeckten Interventionen – Lieferungen von Waffen und Militärberatern – wurden verschwiegen, die weniger verdeckten des CIA angeprangert. Die Parteilichkeit für „gute“ Staaten machte sie blind für die imperialistischen Handlungen ebendieser Staaten.

Diese Imperialismus-Definition geht ähnlich vor wie die aller guten Demokraten und Staats-Anhänger: Staaten sind an und für sich super-friedliche und gutwillige Institutionen, nur wenn Profit-Interessen bei der Einflußnahme auf andere Souveräne vorliegen, so wurde „Imperialismus“ verortet.

Imperialismus heute
Der Fall des Eisernen Vorhangs hat den Imperialismus entfesselt. Die Konkurrenz um die Eroberung von Einflußsphären ging jetzt so richtig los. Die USA als verbliebene Weltmacht Nr. 1 intervenierte rund um den Globus, um sich genehme Vasallen zu schaffen. Die EU versucht, im Windschatten der NATO zu expandieren, so gut sie kann. Die anderen Großmächte versuchen, durch Zusammenarbeit ihre Einflußsphären zu sichern und zu erweitern. Das betrifft nicht nur die Aufrüstung, sondern auch die Bündnis- und Währungspolitik. Rußlands Zollunion-Projekt oder der Versuch Chinas, ihre Währung zu einem Weltgeld zu machen, gehören genauso in die Rubrik „Imperialismus“ wie der Versuch der EU, die Ukraine mittels eines Assoziations-Abkommens in sich zu binden.

All das wird unter den Tisch gekehrt, wenn Rußland die Annexion der Krim als „Imperialismus“ vorgeworfen wird, während der von außen alimentierte Sturz einer gewählten Regierung in der Ukraine als „Volkswille“ und „Selbstbestimmung“ definiert wird.

Fazit
Rußland ist natürlich imperialistisch – genau so, wie die USA, die EU, deren Mitgliedsstaaten und der Rest der Welt es auch sind: Weil nämlich Staaten ohne Imperialismus nicht zu haben sind.

Die Besprechung der Weltpolitik

DEMOKRATISCHER PERSONENKULT 2014
„Wählen, was Putin will“ (Die Zeit, 16.3.) – „Putin, der auf Währungsreserven sitzt, die zu den größten der Welt gehören“ (Tiroler Tageszeitung, 17.3.) – „Wie hart muss der Westen Putin bestrafen?“ (Bild, 17.3.)
„Verzocken Janukowitsch und Asarow die Ukraine?“ (Berliner Tageszeitung, 29.11. 2013) – „Janukowitsch möchte das Handelsabkommen unterzeichnen“ (Huffington Post, 12.12. 2013)
„Präsident Obama schlug die Russen mit Sanktionen“ (New York Daily News, 6.3.) – „Obama stärkt Jazenjuk den Rücken“(ORF, 12.3.) – „Obama muss sich als Krisenmanager bewähren“ (Standard, 3.3.)
„Merkel ringt Putin in Krim-Krise Zugeständnis ab“ (n-tv 16.6.) – „Merkel bekräftigt Drohung mit EU-Wirtschaftssanktionen“ (FAZ, 13.3) – usw.
Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ drängen sich auf:
„Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“
Wenn man dergleichen Meldungen ernst nehmen würde, so entsteht der Schein, es wären wirklich nur ein paar Supermänner und -frauen, die die Welt regieren, der Rest sind Statisten, oder bloße Befehlsempfänger.
Damit wird ein demokratisches Ideal verbreitet und gepflegt: daß sich die werte Bevölkerung brav in regelmäßigen Abständen die Personen aussucht, die dann Land und Leute beherrschen und benützen, und sich nach der Bestellung ihrer Herren widerstandslos für alle Ziele der Politik einspannen läßt.
Mit dieser Art der Berichterstattung soll dem Leser/Hörer auch nahegelegt werden, sich vorzustellen, man müßte nur eine böse oder unnötige Figur wegräumen, entweder durch Krieg und Enthauptung, wie Saddam Hussein, oder durch einfaches Einsetzen eines geeigneten Technokraten, wie Monti oder Papadimos, oder durch eine sogenannte Revolution von der Straße, wie Mubarak oder eben jetzt Janukowitsch – und alles würde gut. Trotz der gegenteiligen Beispiele aus Irak, Ägypten usw. wird zäh an diesem Personenkult festgehalten: Die Welt wird so dargestellt, als gäbe es auf der einen Seite einen allmächtigen Alleinherrscher, und auf der anderen Seite das passive, gehorsame Volk.
Erstens haben ja sowohl Putin als auch Merkel eine Regierungsmannschaft hinter sich, die ihre Entscheidungen mitträgt und unterstützt. Zweitens haben auch beide große Teile der Bevölkerung ihres Landes auf ihrer Seite. (Das wird von der Presse im Falle Deutschlands wohlwollend quittiert und als Charisma der Kanzlerin positiv verbucht, während es in Rußland verärgert und als „Gefahr für die Demokratie in Rußland“ zur Kenntnis genommen wird.) Es sind also keineswegs einsame Entscheidungen, die diese Machthaber treffen, sondern sie beruhen auf Konsens und werden daher von einer Mehrheit mitgetragen. Die Regierungen Rußlands und Deutschlands sind also handlungsfähig.
Schon ein wenig anders ist die Lage bei Barack Obama. Der Präsident der Weltmacht Nr. 1 kann zwar Pakistan mit einem Drohnenkrieg überziehen und dort regelmäßig Dörfer in Schutt und Asche legen. Aber im eigenen Land schafft er es nicht, eine landesweite Krankenversicherung durchzusetzen, und inzwischen hat sich das Theater etabliert, das jedes Jahr einmal um das Budget und die Verschuldung aufgeführt wird. Die US-Regierung ist mit einem System von Institutionen und einer Opposition konfrontiert, die den Staat zeitweise an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen.
Noch anders ist die Lage in der Ukraine. Die ukrainische Führung hatte gar nicht die Autorität und die Mittel, ein Gewaltmonopol zu errichten. Das Land funktioniert nach einer Art Konkursverwaltung, wo sich die Verwalter aus der Masse bedienen. Es gibt keine Trennung zwischen Staat und Privatsektor, es fand keine Privatisierung statt, der Staat kann seine Rechnungen nicht zahlen, er hat keinen Kredit, und kann sich daher kaum über Verschuldung finanzieren. Nirgends war also das Bild des allmächtigen Herrschers falscher als in der Ukraine. Der „Statthalter“ Rußlands, die Marionette der ukrainischen Oligarchen, die im Parlament nur mittels Duldung der Kommunistischen Partei Mehrheiten zustande und Gesetze durchbringen konnte, wurde von den westlichen Medien zu einem Willkürherrscher aufgebaut, der in der Ukraine nach Belieben schalten und walten kann.
Zunächst wurde Janukowitsch von den Medien als Bösewicht dargestellt, dessen Laune es zu verdanken sei, daß das Assoziationsabkommen nicht zustandekam. Sozusagen aus Jux und Tollerei, oder weil er sich von Putin „unter Druck“ habe setzen lassen, habe er und nur er die Unterschrift „verweigert“. Damit wurde einerseits das Bild vermittelt, es läge nur an ihm und hätte nichts mit irgendeiner Staatsraison zu tun, wie die Entscheidungen der ukrainischen Regierung ausfallen. Zweitens wurde damit so getan, als wäre dieser Vertrag eine wahre Wohltat für die ukrainische Bevölkerung, die ihr durch die Engstirnigkeit oder Selbstsucht eines einzigen Mannes verwehrt wurde.
Als dann Janukowitsch – für die EU-Politiker überraschend – gestürzt wurde, waren kurzzeitig lange Gesichter angesagt. Der mühsam aufgebaute Drehpunkt der eigenen Interessen war weg. Und damit war auch die Vorstellung blamiert, man müsse nur auf den – rechtmäßig gewählten – „Diktator“ genug Druck machen, damit sich dieser den eigenen Ansprüchen beugt.
Die jetzigen beiden Hampelmänner aus der Timoschenko-Truppe unterschreiben zwar bereitwillig alles, was man ihnen vorlegt, inwiefern sie das aber durchsetzen können, ist unklar. Es werden jedenfalls von EU und IWF Fakten gesetzt, um dann später Rechtstitel gegen etwaige andere Politiker in der Hand zu haben.
Es ist durchaus möglich, daß diese harten Bedingungen, die jetzt dieser sogenannten Übergangsregierung („Übergang“ wohin?) diktiert werden, dann auch der Grund werden, warum gar keine Regierung mehr zustandekommt: Sich eine Regierung wählen, die die Preise erhöht und die Gehälter und Pensionen kürzt, – ja natürlich, aber dafür gehören wir jetzt zu Europa?!
In diesem Falle wären die triumphierend vorgelegten und von den Statthaltern der EU unterzeichneten Vertragswerke allerdings Makulatur, und etwaige Kredite des Westens (IWF, EU, private Banken) stünden auf dem Spiel.

Was man aus den Ereignissen in der Ukraine über die moderne Herrschaft lernen kann

DEMOKRATIE 2014 – WEDER VOLK NOCH HERRSCHAFT

Bisher, so war der lose Konsens, nannte man solche Regierungen demokratisch, die durch Wahlen an die Macht gekommen waren. Zugegeben, so Dinge wie eine geringe Wahlbeteiligung wurden zwar von den Medien bedauernd vermerkt, aber irgendwie erhielten die solchermaßen zustande gekommenen Regierungen das Etikett „demokratisch“ verpaßt.

Hier merkte man natürlich als aufmerksamer Leser auch, daß ein und die gleiche Erscheinung anders bewertet wurde, ob sie in einem EU-Mitgliedsland oder einem Nicht-EU-Land stattgefunden hatte. Eine geringe Wahlbegeisterung in der Ukraine oder Rußland wird anders kommentiert als in Ungarn oder Spanien, wo sie zumeist gar nicht thematisiert wird.
In dieser unterschiedlichen Betrachtungsweise zeigt sich ein Bewußtsein dessen, daß entgegen aller Propaganda über die Wichtigkeit und Entsprechung der Natur des Menschen, die freien und geheimen Wahlen innewohnt, sie doch ein bloß formaler Akt sind, während die Stabilität und Marktwirtschafts-Gemäßheit einer politischen Führung sich anderen Faktoren verdankt, die durch diesen Zettel-Zirkus nur bestätigt werden.

Mit anderen Worten: Die Ermächtigung der Herrschaft durch Ankreuzen auf dem Stimmzettel hat nur dann ihre Wirkung, wenn die solchermaßen zu den Urnen strömenden Bürger die Herrschaft von Freiheit des Eigentums und Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz anerkennen und wollen. Sie müssen sich auch dann, wenn sie nicht als Bourgeois, sondern als Proletarier an der kapitalistischen Gesellschaft teilnehmen, bei der Bestellung derer, die über sie bestimmen, als Citoyen betätigen. D.h., sie müssen sich auch dann, wenn sie in dieser Gesellschaft Loser sind, zu der Macht mehrheitlich zumindest wohlwollend verhalten, die ihnen dieses Leben ermöglicht und auch verordnet.

Die Politiker und Meinungsmacher hierzulande wissen, daß Wähler und Nichtwähler gleichermaßen über den Zwangszusammenhang des Geldes, der Konkurrenz und der Lohnarbeit längst in das Staatswesen eingebunden sind und ihre formelle Zustimmung zwar schön, aber nicht unbedingt notwendig ist.
Gegenüber dieser propagandistischen Sicherheit, daß die Wahlen sowieso nur die Richtigen an die Macht bringen können, weil Politiker und Staatsbürger sowieso nur an der Aufrechterhaltung der Marktwirtschaft interessiert sind, gab es anläßlich der griechischen Wahlen 2012 einige Neuerungen bzw. Klarstellungen.
Wenn ein Land in der imperialistischen Konkurrenz schlecht gefahren ist, wenn Handel und Wandel sich zerstörerisch auf die nationale Kapitalakkumulation und die Einbindung der arbeitenden Bevölkerung in dieselbe ausgewirkt haben, so kommt es dennoch einer Regierung nicht zu, daran Korrekturen vorzunehmen. Den Griechen wurde von allen Seiten befohlen, sich eine Regierung zu wählen, die so weiter macht wie bisher, was die Freiheit des Kapitals im Lande betrifft, und sich ansonsten den Vorgaben der EU unterordnet.

Die Ukraine ist ein anderer Fall. Daß in diesem Land keine nennenswerte Kapitalakkumulation stattgefunden hat und daher ein Großteil ihrer Bewohner sich für gar kein Kapital nützlich machen kann, wurde nicht dem bereits fertig eingerichteten Weltmarkt zugeschrieben, auf dem ukrainische Produkte entweder nicht konkurrenzfähig waren, oder aber nicht zugelassen wurden, wenn sie konkurrenzfähig waren. Es wurde einer unwilligen Führung angelastet, die sich viel zu sehr dem Einfluß Rußlands hingibt. Der erste Versuch, eine der EU, den USA und dem westlichen Kapital genehme Regierung in den Sattel zu heben, war die Orange Revolution. Ihr Scheitern war dem Umstand geschuldet, daß auch eine prowestliche Regierung die ökonomische Struktur des Landes nicht verändern konnte. Mangel an Kapital, Mangel an Zahlungsfähigkeit, überflüssige Bevölkerung, die sich im Ausland verdingen muß, Abhängigkeit von russischen Energielieferungen – das Regieren über dieses große Land, das weder eine funktionierende Marktwirtschaft in Gang bringen kann noch eine sozialistische Kommandowirtschaft à la Lukaschenko in die Wege leiten will, ist im Grunde eine ständig fortgesetzte Konkursverschleppung, die mit Geld- und Kreditspritzen sowohl Rußlands als auch der EU bisher immer hinausgeschoben wurde.

Die EU in ihrem maßlosen Anspruch, ihren imperialistischen EInfluß auf die Ukraine auszudehnen, hat jetzt wieder neue Maßstäbe für die Begriffe „Demokratie“ und „demokratische Wahlen“ gesetzt:
Nur eine ihr genehme Herrschaft wird als demokratisch anerkannt. Bei der ist es aber dann gleichgültig, inwiefern sie durch den Wahlzirkus legitimiert ist. Die kann durchaus durch Straßenkämpfe an die Macht geputscht worden sein. Das heißt dann „Revolution“ und ist viel besser als „demokratische Wahl“, solange damit „unsere“ EU-Statthalter an die Macht gekommen sind, die alles machen werden, was wir von ihnen wollen. Die dürfen dann auch Antisemiten sein, Neonazis, gewaltbereit und rassistisch – lauter Dinge, die in der EU bisher mit Verboten und Sanktionen behandelt worden sind.
Diese Klarstellung sollte man einmal zur Kenntnis nehmen, sie weist nämlich weit über die Ukraine hinaus und eröffnet neue Perspektiven für die Krisenbewältigung in der EU.

In Bezug auf die Ukraine wurde zweierlei erreicht: Ein paar Tausend bewaffnete Krawallmacher wurden zum „Volk“ erklärt, dem sich die restlichen 45 Millionen der Ukraine unterordnen sollen. Der gewählte Präsident wurde aus dem Amt gejagt und eine Übergangsregierung eingesetzt, hinter der eingestandenermaßen niemand steht. Sogar die Putschisten nicht, die sich weigern, ihre Waffen abzugeben oder besetzte öffentliche Gebäude zu verlassen. Die Regierung verfügt also über kein Gewaltmonopol und ist somit keine Regierung. Die Bevölkerung der Ukraine steht entweder nicht zu ihrem Staat oder möchte einen großen Teil ihrer Mitbürger am liebsten von jeder Beteiligung ausschließen, wie der Vorschlag der Swoboda zeigt, eine Klasse von Landesbewohnern ohne Staatsbürgerschaft zu schaffen.

Schlüsse und Perspektiven

Der Zusammenhang zwischen Oben und Unten ist also endgültig in die Brüche gegangen, und das unter tatkräftiger Mithilfe der EU-Politiker.
Die Ukraine verfügt über kein Staatsvolk, das sich als einheitlicher Wille auf eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft bezieht.

Die Ukraine verfügt über keine kapitalistische Marktwirtschaft, die über Scheidung in Kapitalbesitzer und Eigentumslose klare Verhältnisse darüber schafft, wer wessen Eigentum vermehren darf.
Die Ukraine verfügt über keine nennenswerten Rohstoffquellen, mit denen etwaige Unternehmer auf dem Weltmarkt reüssieren könnten. Ihr einziger Rohstoff ist Kohle, die aber heute auf keine besondere Nachfrage trifft, zumindest in der Nähe.
Die Staatsgewalt hat daher keine Einnahmequellen, aus denen sie ihren Gewaltapparat finanzieren könnte.

Daß sie über keinen schlagkräftigen Gewaltapparat verfügt, haben die Ereignisse der letzten Monate gezeigt, und deshalb gibt es auch keine Gewalt, der das Land zusammenhalten könnte.
Einmischungen in den bevorstehenden Bürgerkrieg und die Teilung des Landes haben das Potential eines Showdowns der Weltmächte, und daher eines 3. Weltkriegs, der der letzte sein wird.