Der Herbst des arabischen Frühlings

DIE PRAKTISCH-FAKTISCHE WIDERLEGUNG DES GESAMTEN DEMOKRATIE-NONSENS VON 2011
Erinnert sich noch wer? Wie sich bei uns die Medien überschlugen über die Demokratie-Bewegung in Tunesien? Wie der Sturz von Ben Ali – der bisher so sehr niemanden gestört hatte, daß jahrelang nicht einmal sein Name in den Medien auftauchte – gefeiert wurde? „Jasmin-Revolution“ taufte sogar jemand diesen Event.
Dann wurde mit Ghaddafi ein fürchterlicher Diktator gestürzt und gelyncht, und alle klatschten Beifall zum Einzug der Demokratie in Libyen. Schließlich wurde Ägypten auch noch demokratisiert, und der Jubel nahm praktisch kein Ende. Der Sieg Morsis, der kein Wunschkandidat des Westens war, verursachte zwar lange Gesichter in Zeitungsredaktionen, die schon Jubelmeldungen zu anderen Siegern vorbereitet hatten, sollte aber nicht zum Anlaß genommen werden, diesen Prozeß des Sturzes der bösen Diktatoren irgendwie anzuzweifeln. Und man sollte Daumen drücken, daß es Assad auch bald erwischt.
Revolten in Staaten mit befreundeten Regierungen (Jordanien, Bahrain, usw.) wurden schnell niedergeschlagen und das störte die maßgeblichen Meinungsmacher gar nicht.
Dabei hätte bloß so ein Umstand wie der massenhafte Exodus der ägyptischen Gastarbeiter aus Libyen oder die Bootflüchtlinge aus Tunesien darauf aufmerksam machen können, daß die Region noch ganz andere Probleme hat als sie unterdrückende Diktatoren, und daß ein Machtwechsel daran nicht viel ändern kann. Es ist nämlich nichts lächerlicher, als diese Umstürze als „Revolution“ zu bezeichnen: bei einer Revolution wird das Unterste zuoberst gekehrt und vor allem die ökonomischen Verhältnisse umgewälzt. In Ägypten und Tunesien sollte hingegen möglichst alles so bleiben, wie es ist.
Als da wären:
1. ein für das internationale Kapital zu großen Teilen überflüssige Bevölkerung.
2. Regierungen, die dafür zuständig sind, diese Leute niederzuhalten und diejenigen Sektoren, wo noch etwas zu holen ist (Öl, Tourismus) diesem Kapital zur Verfügung zu stellen.
3. Nationalökonomien, die nicht einmal die Lebensmittelversorgung ihrer Bevölkerung hinkriegen, weswegen Importe und Subventionen für Brotgetreide Bilanzen und Budget belasten.
4. und schließlich eine ständig wachsende religiöse Opposition, die mit moralischer Erneuerung die Leute bei der Stange halten will und deswegen auch in einigen Staaten – wie Ägypten – von den laizistischen Regierungen geduldet wurden, weil sie immerhin das Volk mit dem gewohnten Opium einlullen, und auch gewisse sozialstaatliche Funktionen ausüben.
Jetzt, mehr als zwei Jahre später sind die Ergebnisse beeindruckend: In Tunesien politische Morde und eine radikalislamische Guerilla, die die an der Macht befindliche, ebenfalls religiös verfaßte Regierungspartei bekämpft, was durchaus in einen Bürgerkrieg münden könnte. Um so mehr, als die Haupt-Einnahmequelle des Landes, der Tourismus, unter den ganzen Ereignissen sehr gelitten hat.
In Libyen einander bekämpfende Warlords und eine Zentralregierung, die diesen Namen nicht verdient. Wieviele Menschen in Libyen täglich in diesen Machtkämpfen sterben, ist ganz unbekannt, weil sich seit geraumer Zeit niemand mehr dafür interessiert und deshalb auch nicht darüber berichtet wird. (Zu Libyen siehe meine Einschätzung von vor fast 2 Jahren.)
In Ägypten bürgerkriegsähnliche Zustände mit einem Militär, das versucht, durch noch mehr Gewalt die restlichen Aspiranten um die Staatsmacht am Boden zu halten. Begleitet von der vor Verständnis triefenden Berichterstattung der Medien, die vor 2 Jahren noch das Lied der Demokratie und der freien Wahlen gesungen hatten, die zur Grundausstattung jedes normalen Staates zu gehören haben.
Der ohnehin seit mehr als 30 Jahren von verfeindeten Parteien notdürftig zusammengehaltene Libanon droht endgültig auseinanderzufallen, seit die Ordnungsmacht Syrien nur mehr mit sich selbst beschäftigt ist und diverse Rebellengruppen das Land als Nachschubbasis nützen.
Und schließlich in Syrien ein Bürgerkrieg mit Zehntausenden Toten und Millionen Flüchtlingen, eifrig angestachelt von europäischen und US-Politikern und den ihnen nach dem Munde redenden Medien, dessen Ausgang ungewiß ist. Es läßt sich nur feststellen, daß angesichts des Wütens mancher Rebellengruppen viele ihrer Sympathisanten im In- und Ausland von ihnen abgerückt sind und kein Staat dort militärisch intervenieren will.
Man muß sich die Folgen dieser Ereignisse klar machen:
1. Die dortige Bevölkerung verliert zusehends alle Perspektive auf ökonomisches und physisches Überleben und sucht ihr Heil in der Flucht Richtung Europa.
2. Die Zukunft der Ölförderung in Libyen ist unsicher geworden. Katar hat sich die Kontrolle über selbige unter den Nagel gerissen, es ist nur fraglich, wie lange diese Kontrolle gelingt.
3. Der Suezkanal, über den inzwischen ein guter Teil des Warenhandels zwischen Europa und Südostasien läuft, könnte aufgrund von Kämpfen kurz- oder längerfristig gesperrt werden.
4. Es handelt sich hier samt und sonders um Konflikte, die mit einer ausländischen Intervention nicht zu beseitigen sind, wie die Beispiele Iraks und Afghanistans deutlich vor Augen führen. Eine dauerhafte Besatzung dieser Staaten im Nahen Osten, die die streitenden Parteien niederhalten könnte, ist daher ausgeschlossen.
Was wirklich erschreckt, ist die Mutwilligkeit der Medien weltweit, die zwar auf allen Kanälen Entsetzen über all dieses „Blutvergießen“ verbreiten, aber mit ihren ebenso untertänigen wie eintönigen Berichterstattung diese Zustände herbeigeredet haben.

Neues von der Schuldenfront

DER HYPOTHEKARKREDIT ALS VOLKSWIRTSCHAFTLICHER FAKTOR UND GESELLSCHAFTLICHE BÜRDE
Es gibt zwei Länder in der EU, wo mit der Krise eine Immobilienblase geplatzt ist, aus unterschiedlichen Gründen, aber mit ähnlichen Folgen: Spanien und Ungarn.
In Spanien waren es mehrere Faktoren, die den Immobiliensektor zum beherrschenden Sektor der Ökonomie werden ließen: Ein staatliches Investitionsprogramm zum Ausbau der Infrastruktur, das vor keinen Kosten zurückschreckte, ein neues Bodengesetz, das die Umwidmung von agrarischer Nutzfläche in Baugrund dem Belieben der Gemeinden anheimstellte, und schließlich die Einführung des Euro, die den nationalen Zinsfuß senkte und Spanien mit einer Weltwährung versah.
In Ungarn war es gerade das Ausbleiben aller Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung, verbunden mit einer Weichwährung und einem hohen Zinsfuß, das die Genehmigung und sofortige flächendeckende Ausbreitung der Fremdwährungskredite verursachte. Die Politiker aller Parteien waren sich darin einig, daß nur diese Maßnahme die Kreditklemme beheben und den Immobilienmarkt beleben könne. Die Banken und die Bauindustrie konnten ihr Geschäft ausweiten, und die Ungarn konnten sich endlich ihre Konsum- und Eigenheim-Träume erfüllen, die ihnen ihrer Meinung nach zustanden und ihnen gemeinerweise bisher verwehrt gewesen waren.
Die Krise von 2008 brachte beide Gebäude zum Einstürzen. In Spanien dämpfte das Ausbleiben der Nachfrage zunächst die Bautätigkeit, die Arbeitslosigkeit stieg, die Anzahl der nicht bedienten Kredite stieg, den Banken und vor allem Sparkassen brach ein großer Teil ihres Klientels weg, die Kredite versiegten, Immobilien und Baugründe entwerteten sich, und am Ende standen einige nur durch Verstaatlichung abgewendete Bankpleiten, und ein stagnierender Bausektor, der immer größere Teile der Ökonomie mit sich in die Tiefe riß. Die Arbeitslosigkeit betrifft ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung, die nur deshalb nicht schneller steigt, weil immer mehr Arbeitsemigranten aus Lateinamerika ihre Koffer packen und nach Hause zurückkehren. Dabei bleiben weitere unbediente Schulden zurück.
In Ungarn war es die ungünstige Wirtschaftsentwicklung erst im Lande selbst, dann in der Eurozone, die erst den Forint gegenüber dem Euro, dann den Euro gegenüber dem Schweizer Franken sinken ließ, während die meisten dieser FWK in Franken aufgenommen worden waren. In Ungarn werden 25% der Kredite gar nicht bedient, und weitere 30-40% stehen auf der Kippe zur Säumigkeit und werden nur durch Umschuldungen aller Art am Laufen gehalten. Die Schätzungen der Anzahl von Personen, die deshalb von Delogierung bedroht sind, schwanken zwischen 600.000 und 1,2 Millionen.
Für Spanien fehlen genaue Zahlen, weil eine solche Offenlegung der faulen Schulden vermutlich weitere Finanzinstitute kollabieren ließe.
Voriges Jahr hat der EU-Gerichtshof in Luxemburg das spanische Hypothekargesetz als nicht EU-konform bezeichnet und damit alle darauf beruhenden Verträge anfechtbar gemacht. Dieses noch aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts stammende und unter Franco modifizierte Gesetz läßt nämlich den Banken breiten Spielraum bei der Gestaltung der Verzugszinsen. Sobald der Schuldner säumig wird, steigt die Zinsenlast sprungartig an, was sowohl die Bilanzen der Banken verfälscht als auch die Bedienung des Kredits vollends verunmöglicht. Es ist jetzt Sache der spanischen Gerichte und des spanischen Parlaments, auf diesen Spruch zu reagieren. Es wurde bereits ein sogenanntes Anti-Delogierungs-Gesetz erlassen, das aber in den Augen der Betroffenen eine Augenauswischerei ist und den Banken in jedem Punkt recht gibt.
In Spanien hat sich eine Plattform der Hypothekarkredit-Geschädigten gebildet, die Immobilienbesetzungen organisiert, Delogierungen durch Flashmobs verhindert und Protestaktionen vor den Domizilien von Politikern veranstaltet. Es gibt bereits Überlegungen innerhalb der regierenden Volkspartei, diese Vereinigung nach den gültigen Antiterror-Paragraphen zu kriminalisieren. Dergleichen Vorgehen stößt aber auf Bedenken angesichts des zunehmenden Widerstands im Staatsapparat selbst.
Die spanischen Richter zeigen gesteigerte Neigung, bei Streitigkeiten zwischen Geldinstituten und Schuldnern letzteren recht zu geben und damit Verträge zu annullieren. Die spanische Polizeigewerkschaft hat verkündet, diejenigen ihrer Mitglieder zu unterstützen, die sich weigern, Delogierungen durchzuführen. Schließlich hat die Schlosserei-Innung von Pamplona bzw. ganz Navarra verkündet, das Auswechseln von Schlössern bei Delogierungen zu verweigern.
Jetzt hat der EU-Gerichtshof auch in Ungarn einer Klägerin recht gegeben, daß bei den ungarischen FWK-Kreditverträgen etwas nicht gesetzeskonform ist. Eine andere Klage gegen die FWK-Verträge liegt derzeit beim ungarischen Verfassungsgericht. Die Kläger führen in Anschlag, daß sie erstens über das Risiko der Wechselkursschwankungen nicht genügend informiert wurden und in den Verträgen auch nicht genau angeführt ist, in welchem Ausmaß sie als Kreditnehmer die Last von Kursverfall zu tragen haben. Zweitens haben sich die Geldinstitute mit versteckten und verklausulierten Gebühren schadlos gehalten, sodaß die faktisch anfallenden Zinsen weit über den günstigen Franken-Zinsen liegen, mit denen sie ursprünglich zum Abschluß des Kredites gelockt wurden.
Die ungarische Bankenaufsicht PSZAF hat bereits das Verfassungsgericht gewarnt, daß ein negatives Urteil über diese Kreditverträge den Finanzplatz Ungarn gefährden, die Kreditinstitute zum Rückzug bewegen und die ungarische Börse abstürzen lassen würde. Diese Stellungnahme liefert wieder Zündstoff für die Parteienkonkurrenz und rechtsgerichtete Medien, die die Finanzaufsicht als Lakaien Brüssels und Sprachrohr des Finanzkapitals „entlarven“.
Die ungarische Regierung hat ihr Budget strapaziert und auch die Geldinstitute bluten lassen, um die Fremdwährungskredite in Forint-Kredite umzuwandeln. Von diesem „Angebot“, das eigentlich keines war, haben aber nur ungefähr ein Viertel der Kreditnehmer Gebrauch gemacht. Die Vereinigungen von Hypothekengeschädigten, die in Ungarn nicht den Organisationsgrad derer von Spanien haben, werden zunehmends von Mitgliedern der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik aufgesucht, die sich dieses Unzufriedenheitspotential nicht entgehen lassen möchte. Die Regierung, die stillschweigend die bisher jährlich erneuerten Schuldenmoratorien mit den Banken zur Aufschiebung der Delogierungen gekündigt hat, beobachtet diese Entwicklung mit Besorgnis.
Der Ball liegt jetzt in beiden Staaten bei der Justiz, bzw. bei den sich ständigen Zulaufs erfreuenden Vereinen der Hypotheken-Schuldner.

Zeit ist Geld – Geschwindigkeit als Geschäftsmittel

DIE MOBILITÄT UND IHR PREIS

Das Zugunglück in Santiago der Compostela hat den Blick ein wenig darauf gelenkt, was für ein Geschäft die Bedienung der knappen Zeit der heutigen Bürger geworden ist. Auf schnellstem Wege von A nach B zu gelangen, ist ein unhinterfragtes Postulat der heutigen globalisierten Gesellschaft geworden. Daß man zu geschäftlichen Treffen mit dem Flugzeug anreist, sich für Kundenbetreuung in Hochgeschwindigkeitszüge setzt, notfalls durch den Chunnel flitzt, ist zu einer Selbstverständlichkeit des heutigen Geschäftslebens geworden. Aber die Freizeitgestaltung steht dem in nichts nach: Städte- und Shopping-Tourismus übers Wochenende nach Mailand, Paris oder New York, Urlaubsreisen auf irgendwelche Strände, selbstverständlich mit dem Flieger, oder Partying rund um den Globus – heute Paris, nächsten Monat Montevideo, und dann schnell zu einer Hochzeit nach Miami – alles das gehört schon zum guten Ton derer, die es in der Konkurrenz geschafft haben und ihre Position festigen wollen; oder zur Angeberei derer, die partout Mittelklasse sein wollen, und wenns auch nur kreditfinanziert ist.

Und diese ganzen Bedürfnisse wollen bedient werden.

Die spanischen Regierungen – und zwar sowohl die sozialdemokratischen als auch die konservativen – haben sich dieses Bedürfnisses angenommen, um ihre Ökonomie und ihr Wirtschaftswachstum zu befördern. Spanien hat Unsummen in Infrastruktur investiert, um sich dadurch als moderne Nation „Marke Spanien“ zu präsentieren. Es hat heute neben einigen unbenützten Flughäfen, einer unbenützten Straßenbahn und einem Haufen Mautautobahnen, die außerhalb der Sommersaison ebenfalls fast leer sind, das größte Netz an Hochgeschwindigkeitszügen in Europa und das zweitgrößte der Welt (nach China).

Nach einem Artikel aus El País, aus dem alle folgenden Zahlen stammen, hat das spanische Hochgeschwindigkeits-Netz 3.100 km in Betrieb. Seit den Anfängen des Programms zur Errichtung von Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecken – AVE („Vogel“ bzw. Hochgeschwindigkeit Spaniens) – im Jahr 1992, als die erste Linie Madrid-Sevilla anläßlich der Weltausstellung in Betrieb genommen wurde, hat der spanische Staat mehr als 45 Milliarden Euro in das Programm investiert. Das betrifft sowohl den Umbau von Strecken als auch die Unterstützungen der 4 Betriebe, die diese Züge – sowohl Lokomotiven als auch Waggons – herstellen. Darüberhinaus werden auch noch die dennoch sündteuren Tickets für diese Züge subventioniert. Mit einer einzigen Ausnahme – Madrid-Barcelona – sind nämlich sämtliche Strecken bis heute chronisch unterausgelastet und deshalb defizitär. Das heißt, daß nicht einmal der laufende Betrieb die Kosten deckt, geschweige denn können die Investitionen und Kredite zurückgezahlt werden. Das AVE-Netz belastet also den spanischen Staatskredit bis heute.

Die 4 großen Hersteller-Firmen – die spanischen Talgo und CAF, Siemens-Spanien und die schwedische Alstom, dazu einige kleinere Zulieferer – verbuchten 2012 einen Umsatz von 4,8 Milliarden Euro, wovon 2,8 aus Exporterlösen stammen. Außer rollendem Material werden auch Schienen und Signalanlagen produziert. Diese Hochgeschwindigkeits-Industrie hat bisher auch der Krise getrotzt und ist die Branche mit dem zweitgrößten Exportvolumen von Spanien.

All dieser Erfolg beruht, wie die Zahlen zeigen, auf der kräftigen Subventionierung des inneren Marktes und der Strapazierung des spanischen Staatskredits.

In all den Jahren seit dem Beginn des Projektes war Kritik und Widerstand kaum vorhanden. Die beiden spanischen Staatsparteien sahen darin eine unglaubliche Chance für die spanische Nation, die es mit allen Mitteln zu befördern galt.
Die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene Oppositionspartei Izquierda Unida wollte sich dem „Fortschritt“ und der „Modernität“ nicht in den Weg stellen. Sogar die ETA hatte nichts dagegen, da verschiedene Produktionsstandorte für diese Industrie im Baskenland angesiedelt sind und daher die Heimat aufwerten. Es gab lediglich vereinzelte Proteste von Anarchisten und Umweltschützern gegen diesen Rausch der Geschwindigkeit.

Die Aufträge für die spanischen Hersteller wurden als Triumph der Exportindustrie gefeiert. Die Strecke von Mekka nach Medina wird mit spanischem Material gebaut. (Auch die Pilger haben es heutzutage eilig.) In Aussicht stehen Projekte für Brasilien – die Strecke Rio de Janeiro – Sao Paulo, in Kasachstan, von Astana nach Alma-Ata, in Rußland, für die Strecke Moskau – St. Petersburg, und in den USA, von Sacramento nach San Diego.

All das ist jetzt in Gefahr, da eine der Bedingungen für solche Verträge 5 Jahre Unfallfreiheit ist.
Der verunglückte Zug war kein AVE, hatte aber auch eine Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 200 km/h. Daß ein solcher Zug auf einer Strecke verkehrt, die nur teilweise für Hochgeschwindigkeit ausgelegt ist, und in der betreffenden Kurve auch nicht über die nötigen Sicherheitssysteme verfügte, ist sowohl den Gewinnkalkulationen der staatlichen Eisenbahn-Firma RENFE geschuldet wie den Sparmaßnahmen des spanischen Staates. (Im Rettungspaket für Spanien drängte die EU auf Reduzierung der Subventionen für das Eisenbahnnetz.)

Jetzt soll für das ganze Unglück mit 80 Toten der Lokführer verantwortlich gemacht werden. Wie es dazu kommen konnte, daß ein solcher Unfall durch das Versagen einer einzigen Person möglich war, wird mit allen propagandistischen Mitteln ausgeblendet. Gegen den Lokführer wird bereits eine mediale Front errichtet: ein Prahler, ein leichtsinniger Typ, ein Wichtigtuer – ungeachtet seiner bisher makellosen Performance.

Schließlich steht viel auf dem Spiel: Eine Branche, ihr Prestige, ihre Aufträge, und – last but not least – der spanische Staat und sein bereits schwer angeschlagener Kredit.