Rückzug aus Afrika

ÜBER KOLONIALISMUS UND UNABHÄNGIGKEIT

„Europa zieht seine letzten Truppen aus der Sahelzone ab und überlässt Russland das Feld“

– so lautet heute eine Überschrift in El País und so ein Satz sollte zu denken geben.

Warum waren überhaupt europäische Truppen in der Sahelzone?

1. Kolonien

Es ist heutzutage in linken Kreisen üblich, als Kritik das Wort „Kolonialismus“ zu verwenden, wenn das imperialistische Gehabe der Alten und Neuen Welt bezeichnet werden soll, der Interventionismus und die Kriege, die diese Nationen anzetteln, betreuen und sich einmischen.
Weite Teile Afrikas waren ja auch einmal Kolonie. Portugiesen, Engländer, Holländer, Franzosen, Belgier, Deutsche und Italiener keilten sich um die dortigen Rohstoffe, massakrierten die Bewohner Afrikas, beteiligten sich in verschiedenen Formen am Sklavenhandel und taten auch andere unschöne Dinge, die hierzulande unbekannt oder vergessen sind, an die sich aber die Nachfahren der damaligen Betroffenen in Afrika sehr gut erinnern.

Der Kolonialismus war jedoch erstens für die Mutterländer ein kostspieliges Geschäft. Sie mußten ständig mit militärischer Präsenz vor Ort tätig sein, eine Verwaltung unterhalten, um den Abtransport von Rohstoffen, Agrarprodukten und Menschen zu überwachen. Das war – zumindest seit dem 18. Jahrhundert – eine staatliche Vorleistung für die aufstrebende Industrie in den Mutterländern, die diese Stoffe brauchten, um ihren Konkurrenten auf dem Weltmarkt Paroli bieten zu können und gleichzeitig Absatzmärkte für ihre Waren zu haben.
Es sind übrigens beide Seiten wichtig, die Rohstoffe genauso wie die Märkte. Großbritannien war deswegen so lange führend, weil es sich mit seinen Kolonien und Kanonenbooten auch Märkte erschlossen hatte, über die es seinen Warenreichtum ausgießen konnte.

Man soll aber auch die Kosten nicht unterschätzen. Großbritannien finanzierte seine Herrschaft über Indien größtenteils aus dem Opiumhandel mit China. Die letzte europäische Kolonialmacht, Portugal, mußte ihre Kolonien aufgeben, weil sie sich einfach nicht mehr leisten konnte.

Die besondere Nützlichkeit der Kolonien war die ausschließliche Verfügung des Mutterlandes über dieselben. Es gab ihm die Möglichkeit, die anderen rivalisierenden imperialistischen Mächte von seinen Territorien auszuschließen.

2. Hinterhöfe

Rund um den II. Weltkrieg störte sich die aufstrebende Weltmacht USA an dieser Form der exklusiven Nutzung. Nicht, daß den USA der Kolonialismus fremd gewesen wäre. Puerto Rico, Hawaï, die Philippinen, die Panamakanalzone und viele Inseln im Atlantik und Pazifik waren oder sind nach wie vor US-„Territorien“, wie sie verschämt benannt werden. Heute haben sie aber vor allem strategische Bedeutung.
Die USA setzten gegenüber ihren Verbündeten durch, ihre exklusiven Zonen aufzugeben. Die treibende Macht hinter der „Entkolonialisierung“ waren die USA – die Befreiungsbewegungen der III: Welt konnten sich meist nur dank diesem Rückhalt schließlich durchsetzen – sofern sie den USA genehm waren.
Das neue System sah die Entlassung in die Unabhängigkeit vor. Mit etwas Unterstützung aus den Mutterländern sollten sich diese Staaten selbst regieren und selber dafür sorgen, daß sie weiterhin als Rohstofflieferanten und Märkte zur Verfügung stehen – allerdings nach freier Wahl ihrer Patrone.

Die Konkurrenz um die neue Beherrschung Afrikas (und auch anderer Teile der Welt) ging los. Genehme Politiker wurden installiert, nicht genehme beseitigt. Die alten Kolonialmächte versuchten die Hand auf ihren ehemaligen Kolonien zu halten und in die vormals exklusiven Territorien ihrer Rivalen einzudringen.

3. Afrika im Kalten Krieg

Als vermeintlicher Rettungsanker dieser vom Regen in die Traufe geratenen afrikanischen Gebiete erwies sich die Sowjetunion, die Guerillabewegungen unterstützte, Staudämme und Kraftwerke baute und sich als antikoloniale Macht präsentierte. Der Pferdefuß dieser sowjetischen Unterstützung war erstens, daß sie die Feindschaft der europäischen Mächte und der USA als Weltpolizist zur Folge hatte und diesen Staaten deshalb erhöhte Verteidigungskosten aufbürdete.

Das zweite, weitaus Entscheidendere war jedoch, daß die Unterstützung der SU nur insofern interessant war, als sie diesen Staaten, die in der westlichen Ideologie „Entwicklungsländer“ genannt wurden, eine bessere Startposition für den Weltmarkt verschaffen sollte. Die dortigen Regierungen bedienten sich der sowjetischen Hilfe, um dann neue Produkte anbieten zu können, zu besseren Bedingungen für die einheimische Staatskasse, aber doch, um sich am internationalen Warenaustausch beteiligen zu können und sich in Richtung ihrer Vorbilder – der europäischen Staaten, ihrer ehemaligen Unterdrücker – zu entwickeln.
Die Kolonisierten wollten zu den Kolonisatoren aufschließen – unter diesem Ideal wurden Brunnen gebohrt und Kredite vergeben, Kriege geführt und Militär- und Entwicklungshilfe über die afrikanischen Staaten ausgeschüttet.

4. Afrika nach dem Kalten Krieg

Mit dem Abdanken der Sowjetunion und dem Ende des ganzen RGW-Austausches hörten sich jede Menge Hilfen und Unterstützungen auf.
Als erstes der prosowjetischen Regimes kollabierte im Mai 1991 dasjenige Mengistus in Äthiopien, das neben der SU vor allem von der DDR unterstützt worden war.
Aber noch einige Monate vorher mußte der Herrscher Somalias, Siad Barre, seinen Hut nehmen und das Land verlassen. Er hatte sich aufgrund von Territorialstreitigkeiten mit Äthiopien von der SU ab- und den USA zugewendet. Nach dem Ende der SU und dem absehbaren Sturz Mengistus strichen jedoch die USA die Zuwendungen an Somalia, weil sie Barre nicht mehr brauchten.

Ähnlich ging es in anderen Teilen Afrikas zu. Die einst prosowjetischen Regierungen wurden entweder gestürzt oder zusehends repressiver, um sich an der Macht zu halten. Manche Staaten, wie Somalia oder Ruanda, kollabierten überhaupt, manche zerfielen, wie der Sudan, und die Verteilungskämpfe wurden härter, sodaß vielerorts Bürgerkriege ausbrachen. Die werden in den hiesigen Medien mit Traditionen und Stammesbindungen erklärt, und das alles schreit nach einem: Betreuung! „Wir“ müssen dort hin, um für Ordnung zu sorgen!

So kam es zu verschiedensten Interventionen kürzerer oder längerer Dauer, durch die USA und im letzten Jahrzehnt verstärkt durch EU-Staaten, die sich Afrika als Hinterhof zugerichtet haben und mit den Folgen dieser Zurichtung in Form von islamischem Terrorismus und Flüchtlingswellen unzufrieden sind:
„Frankreich führt seit 50 Jahren permanent Krieg“

Aus Deutschland tönt hochoffiziell: „Dort, wo Menschenrechte bedroht sind und die Rechtsstaatlichkeit keineswegs gesichert ist, fehlt das Fundament für Investitionen, Arbeitsplätze und Ausbildung.“ Da müssen daher unbedingt deutsche Soldaten hin.

Sogar das neutrale Österreich hat sich in Afrika schon wichtig gemacht:
„Bundesheer in Mali“

Großbritannien hat noch über das Commonwealth einen allerdings sehr schwindenden Einfluß in Afrika. Das mag einer der Gründe sein, warum es sich mit solchem Eifer am Sturz Ghaddafis beteiligt hat – um zu zeigen, daß es doch noch eine Hand auf dem Kontinent hat.

Manchmal gelingt es, die nationalen Ambitionen der Nachbarstaaten zu benützen, um unangenehme Regierungen zu stürzen, wie in Gambia 2017, sodaß die Friedensmacht EU nicht direkt intervenieren muß.

Das alles wäre schon noch zu bewältigen, wenn den Hütern von Menschenrechten und Entwicklung in den letzten Jahrzehnten nicht Störenfriede in die Quere kommen würden, die von dem ganzen Schmarrn nix halten und ähnliche, aber auch unterschiedliche Interessen in Afrika haben – und auch die Mittel, sie zu verfolgen: Rußland und China.

Zur Debatte um die Taurus-Marschflugkörper

VORWÄRTSVERTEIDIGUNG

Angesichts des politischen Aufruhrs um die Taurus-Marschflugkörper ist es einmal angemessen, sich anzusehen, worum es bei diesen Apparaten geht, was sie leisten, wofür sie angeschafft wurden usw.

1. Die Taurus selber

„Während des Kalten Krieges wollte die Bundesrepublik ursprünglich die französischen Apache-Marschflugkörper beschaffen, um im Verteidigungsfall Start- und Landebahnen des Warschauer Paktes zerstören zu können.“ (Wikipedia, Taurus)

Man merkt, was „Verteidigung“ hier und heute – oder auch gestern – heißt: Dem Gegner seine Lufthoheit zu nehmen. Alle Kriege sind in diesem Sinne „Angriffskriege“, als die Zerstörung der gegnerischen Kampffähigkeit erstes Ziel ist.
Die BRD orientierte sich hierbei an ihrem Vorgängerstaat, von dem im Zuge des „Unternehmens Barbarossa“ 1941 als erstes die Zerstörung von sowjetischen Flughäfen und den dort herumstehenden Flugzeugen in Angriff genommen wurde:

„Die den Heeresgruppen zugeteilten Kampfflugzeuge führten einen massiven Luftschlag gegen die sowjetischen Flugplätze, der durch die Aufklärungsergebnisse des Kommandos Rowehl ermöglicht wurde, und zerstörten allein am ersten Kriegstag etwa 1200 Flugzeuge am Boden.“ (Wikipedia, Deutsch-Sowjetischer Krieg)

Da wollten die deutschen Politiker einmal Maß nehmen und nicht hinter ihren historischen Vorbildern zurückbleiben.

„Mit dem Fall der Mauer änderten sich die Prioritäten, die nun auf der Bekämpfung von gepanzerten Punktzielen lagen.“ (Wikipedia, Taurus)

Was soll man sich darunter vorstellen? Ein ganzer Marschflugkörper gegen einen Panzer?
Oder einfach alle Unterstände, Bunker und sonstigen Gebäude militärischer Nutzung bis weit ins Hinterland des Feindes?

„2005 bestellte die Bundeswehr 600 Flugkörper zum Gesamtpreis von 570 Millionen Euro. Die Lieferung an die Luftwaffe begann offiziell mit der Übergabe des ersten Flugkörpers an das Jagdbombergeschwader 33 in Büchel im Dezember 2005 und wurde im November 2010 abgeschlossen.“ (Wikipedia, Taurus)

Die Reichweite der Taurus-Raketen ist mehr als 500 km.
Wenn man jetzt an Deutschlands Grenzen Zirkel einsetzt und rundherum 500 km abdeckt, so kommt man von dort nach Weißrußland, in die Ukraine und nach Serbien und Bosnien. Außerdem in die russische Kaliningrad–Enklave. Der Rest der potentiellen Ziele liegt in anderen NATO- bzw. EU-Staaten und der Schweiz.

Man könnte also diese Marschflugkörper als eine Art Rückversicherung betrachten, falls einmal ein Staat aus einem der beiden Bündnisse ausscheren möchte, was Deutschland nicht genehm wäre – z.B. Ungarn oder die Slowakei. Oder als ein Mittel für die Wiedereroberung Ostpreußens.
Sie könnten aber auch als ein Mittel zur Disziplinierung oder Unterwerfung widerspenstiger Balkan-Staaten eingesetzt werden. Man denke hier z.B. nicht nur an Serbien, sondern auch an Griechenland, das seine Teilnahme am NATO-Krieg 1999 verweigert hat.
Deutschland könnte sie auch einsetzen, um Österreich zu bedrohen, falls es opportun ist, – weil hier die Neutralität zu ernst genommen wird, wenn Deutschland Parteilichkeit fordert.

An all das muß gedacht worden sein, als sich Deutschland diese 600 Stück der nicht gerade billigen Geschoße angeschafft hat.
Man kann sich also an diesen 600 in militärischen Depots schlummernden Taurus-Raketen einiges über die Berechnungen deutscher Militärs und Politiker erschließen.

Wer hat diese Entwicklung mitgetragen und diesen Kauf beschlossen, mit dem ja ein Stück nationales Vermögen in dieser aggressiven Form gebunden ist? Und einiges über die politische Ausrichtung, die außenpolitischen Ambitionen Deutschlands ausgesagt ist?

Ganz anders allerdings präsentiert sich die Lage mit der Reichweite, wenn man diese Dinger bis in die Ukraine bringen könnte. Es ist natürlich möglich, daß seit Anfang dieses Milleniums die Eingliederung der Ukraine von deutschen Strategen nur als eine Frage der Zeit betrachtet wurde.
Von der nordöstlichen Ecke der Ukraine – die nach wie vor in ukrainischem Besitz ist – könnte man einen guten Teil des europäischen Rußlands, inklusive Moskaus, mit den Taurus bombardieren. Wenn man jetzt noch das Baltikum dazunähme, so hat man mit diesen Taurus viel von Rußland im Visier.

Man merkt, wie hier Waffenbeschaffung und die Erweiterung der imperialistischen Ansprüche Hand in Hand miteinander gehen und die EU-Erweiterung auch den strategischen Zielen Deutschlands dient.

„Der Taurus (…) ist ein deutsch-schwedischer Luft-Boden-Marschflugkörper.“ (Wikipedia, Taurus)

Er wurde also zusammen mit Schweden entwickelt und kann nur mit der Zustimmung dieses Landes eingesetzt werden.
Man merkt daran, daß die Integration Schwedens in die NATO schon von langer Hand geplant und der russische Einmarsch in die Ukraine nur der Anlaß bzw. Vorwand war, um der schwedischen Bevölkerung die Aufgabe der Neutralität – mit der Schweden in 2 Weltkriegen ja sehr gut gefahren ist – leichter verkaufen zu können.

Rußland verfolgt die Diskussion um diese Marschflugkörper schon länger und seine Militärs meinen, sie würden darauf schon eine Antwort finden.

Das wäre natürlich ein Risiko – festzustellen, daß diese Geschosse, ähnlich wie die Leopard-Panzer – gegen ein auf allen Ebenen hochgerüstetes Rußland gar nicht so besonders viel taugen und ihr erster Einsatz dann womöglich auch ihr letzter wäre.

2. Die Bemannung

Um diese High-Tech-Geschosse richtig zu programmieren, damit sie nicht womöglich in einem russischen Rübenacker oder in befreundetem Gebiet (Ukraine selbst, Moldawien, Georgien) in einem Wohnhaus landen, müßte Deutschland seine eigenen Fachleute mitschicken.
(Sogar dann könnte es zu den obigen Fehl-Landungen kommen – die Tücken der Technik! – aber die Chance dazu ist deutlich geringer.)

Deutschland müßte also hochspezialisierte Berufssoldaten mitschicken – die dann in der Ukraine natürlich ein Ziel russischer, wie man weiß, relativ treffsicherer Artillerie und Marschflugkörper werden würden.
Das sähe nicht gut aus, wenn man nach einiger Zeit Einsatz – ohne besondere Durchbrüche – auf einmal deutsche Soldaten in Holzschachteln aus der Ukraine ankommen würden.
(Schon die Heimkehr der lebenden Soldaten aus Afghanistan 2021 war kein besonderes Highlight der deutschen Militärgeschichte.)

Daß das Risiko hoch ist, sieht man schon daran, daß im Verlauf der letzten 2 Jahre schon öfter westliche Militärs durch russischen Beschuß ins Jenseits befördert wurden und es zwar gelungen ist, das vor der breiten Öffentlichkeit zu verbergen – dieser Umstand aber beim Militär sicher bekannt ist.

Es ist aus diesen Gründen auch möglich, daß sich in der Heeresführung Gegner dieses Einsatzes finden und die Abhöraktion gar nicht so besonders zufällig zustande gekommen ist, – weil damit signalisiert werden sollte, daß die Profis selbst kalte Füße kriegen bei dem Gedanken, den nächsten Ostfeldzug anzugehen.

Solches ist ja schon öfters schiefgegangen.

Pressespiegel Izvestija, 8.3.: Die Energiekanäle schließen:

„INDIEN REDUZIERT SEINE ÖLKÄUFE AUS RUSSLAND

Die US-Sanktionen haben eine Rückwirkung auf ganz Europa

Aufgrund der US-Sanktionen könnte Indien, der zweitgrößte Abnehmer von russischem Öl, seine Käufe reduzieren.“

„Könnte“. Es ist also noch nicht sicher, ob Indien das tun wird. Aber die Izvestija macht darauf aufmerksam, was die Folgen wären.

„Dies wird Rußland voraussichtlich keine Probleme bereiten, da der asiatische Markt bereits fast alle Mengen aufnimmt und außerdem der Wettbewerb zwischen Indien und China um russisches Öl zugenommen hat. Für Europa verheißt dieser Zustand allerdings nichts Gutes: Indien ist längst zum größten Lieferanten von Erdölprodukten für die EU geworden.
Die Lieferungen von Indien nach Europa sind aufgrund der Krise im Roten Meer bereits zurückgegangen, jetzt drohen sie aufgrund amerikanischer Sanktionen zusammenzubrechen. Die Izvestija hat herausgefunden, was eine mögliche Treibstoffknappheit für Europa bedeuten würde.

Ein zuverlässiger Kanal

Europa kauft weiterhin bereitwillig russisches Öl, das es sich selbst verboten hat. Moskau steigerte die Lieferungen nach Indien stark, und Europa erhöhte sofort die Importe von dort um ein Vielfaches. Zu den Käufern zählen alle großen europäischen Volkswirtschaften. Sie beziehen hauptsächlich Gasöl, das für die Herstellung von Dieselkraftstoff benötigt wird.“

Die Dieselpreise sind also deshalb so hoch, weil das Vorprodukt inzwischen aus Indien kommt – per Tanker. Und inzwischen vermutlich rund um Afrika herum.
Nur zur Rückerinnerung: Früher kam es per Pipeline direkt vor die Haustür. Aber man darf doch Rußland kein Öl abkaufen!

„Insgesamt steigerte die EU im Jahr 2023 die Einfuhren von russischem Öl aus Indien um 115%. Indien erhielt durchschnittlich 1,75 Millionen Barrel Rohöl pro Tag aus Rußland. Spitzenreiter sind die Niederlande (24% der »indischen Importe«), Frankreich (23%), Rumänien (12%), Italien und Spanien (jeweils 11%). Ein solch starker Anstieg erfolgte, als Indien, das erhebliche Preisnachlässe erhalten hatte, die Käufe von russischem Öl stark erhöhte – bis zu 40% aller Importe (zuvor waren es 2 %).
Laut Eurostat ist Indien zum zweitgrößten Exporteur von Erdölprodukten in die EU geworden, nur noch vor Saudi-Arabien. So importierte die EU 7,9 Millionen Tonnen Erdölprodukte in den ersten 9 Monaten des Jahres 2023 aus Indien, das ist 2,5-mal mehr als im Vorjahr und 3,3-mal mehr als im Jahr 2021. In Geld ausgedrückt stiegen die Lieferungen auf 6,1 Milliarden Euro gegenüber 3,3 Milliarden im Vorjahr und 1,2 Milliarden im Jahr 2021.“

Da merkt man, wer wirklich von den Sanktionen profitiert, als Weiterverkäufer von russischem Öl. Sollte Indien tatsächlich seine Käufe verringern, so würde Saudi-Arabien sie erhöhen.

„Verknappungs-Risiken

Der stabile Zufluss von Erdölprodukten aus Indien auf den europäischen Markt ist jedoch gefährdet. Laut Bloomberg sind Indiens staatliche Ölraffinerien bei langfristigen Verträgen zur Lieferung von russischem Öl vorsichtiger und der Handel wird aufgrund der strengeren Einhaltung der US-Sanktionen deutlich schwieriger.“

Hier merkt man auch, worauf die US-Sanktionen wirklich zielen: Auf die Schwächung Europas durch die Drosselung der Energiezufuhr aus Rußland.

„Die größte staatliche Raffinerie, Indian Oil, wird wahrscheinlich die Ölmengen reduzieren, die sie im Rahmen sogenannter langfristiger Verträge erhält, sagten Agenturquellen. Gleichzeitig haben Bharat Petroleum und Hindustan Petroleum beschlossen, keine festen Zusagen zur Lieferung von Vertragsöl im nächsten Geschäftsjahr zu machen.
Während Rußland Indiens größter Öllieferant bleibt, gibt es Anzeichen dafür, daß Raffinerien beginnen, mehr Rohöl von anderen Produzenten, darunter Saudi-Arabien, zu kaufen, sagten Bloomberg-Quellen. Auch Staatsunternehmen streben den Abschluss von Lieferverträgen aus dem Nahen Osten und Westafrika an.

Engpässe und steigende Preise

Es ist offensichtlich, daß solche Transaktionen Indien mehr kosten werden; die Kosten für Öl aus dem Nahen Osten und Westafrika sind höher als die aus Rußland. Es sind keine Preisnachlässe zu erwarten, was sich unmittelbar auf die europäischen Importeure auswirken wird: Auch deren Einkaufspreise werden steigen.

Das Angebotsvolumen auf dem Markt ist begrenzt, unter anderem aufgrund von Produktionskürzungen der OPEC+-Länder.
Die Umstellung von russischen auf andere Lieferungen wird den indischen Erdölproduktproduzenten wahrscheinlich zusätzliche Kosten verursachen, was sich wiederum auf ihre Rentabilität auswirken und zu höheren Kosten führen kann, die auf den Preis des Endprodukts übertragen werden“, betont Mikhail Bespalov, Analyst bei KPS Capital.

Andere Experten weisen außerdem darauf hin, daß Indien zwar auf einen Teil langfristiger vertraglicher Öllieferungen aus der Russischen Föderation verzichten, dieses Öl aber durchaus weiterhin auf dem Spotmarkt kaufen könnte.
»Auf dem europäischen Markt kann es tatsächlich zu einer Treibstoffknappheit kommen, aber auch ohne Treibstoffknappheit werden die Preise steigen, da sie auf dem Spotmarkt höher sind als bei langfristigen Vertragslieferungen und von anderen Exporteuren«, betont der Analyst Wladimir Tschernov bei Freedom Finance Global.

Letztendlich wird also russisches Rohöl wahrscheinlich weiterhin an indische Raffinerien geliefert, aber die Preise werden volatiler sein, wenn die Lieferungen nicht an langfristige Verträge gebunden sind, fügt Mikhail Bespalov hinzu.“

Der Ausstieg aus längerfristigen Lieferverträgen und die Einkäufe auf dem Spotmarkt waren ja genau die Preistreiber für Energieträger noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine.

„Laut der Ökonomin Olga Borisova könnte die Verknappung von Erdölprodukten besonders starke Auswirkungen auf die Hauptabnehmerländer haben: Frankreich, die Niederlande und Italien. Kurzfristig werden die Abnehmer in europäischen Ländern unter Druck geraten, was die Preise in die Höhe treiben könnte, bis neue Lieferungen etabliert sind.

Beschleunigung der Inflation
Es ist also unwahrscheinlich, daß indische Raffinerien ohne Rohöl dastehen werden. Für Europa können jedoch nicht die gleichen Mengen wie bisher garantiert werden. Erstens ist in Indien selbst die Nachfrage nach Erdölprodukten auf dem heimischen Markt in den letzten Jahren stark gestiegen. Und seit Anfang 2024 sind die Treibstoffexporte aus Indien nach Europa aufgrund von Problemen im Roten Meer bereits stark zurückgegangen. Laut Kpler betrug der Anteil Europas an den indischen Erdölproduktexporten im Februar etwa 22 %. Das ist deutlich weniger als im Vorjahr, als 32 % der indischen Exporte nach Europa gingen.

Im negativsten Szenario werden die Europäer mit den bereits bekannten Konsequenzen konfrontiert sein, mit denen sie bereits auf dem Höhepunkt der Energiekrise konfrontiert waren: Die Inflation wird für die Europäer zu einem Albtraum und zwingt europäische Hersteller dazu, ihre Produktion in andere Länder zu verlagern, was ihnen ermöglicht, die Kosten zu minimieren und Waren zu wettbewerbsfähigeren Preisen anzubieten. Infolgedessen sind nicht nur in den Ländern Osteuropas, sondern auch in den führenden Ländern der EU gravierende Probleme zu beobachten“, bemerkt Jurij Ljandau, Professor an der Russischen Wirtschaftsuniversität G.V. Plechanow.

Letztlich hat die EU die Verknappung von Erdölprodukten selbst verursacht. Mit der Entscheidung, ein Embargo gegen russisches Öl und Erdölprodukte zu verhängen, seien die EU-Länder in eine Sackgasse geraten, bemerkt Dmitrij Semjonov, Vorstandsvorsitzender von Transinvest.

Rußland wird damit umgehen können

Rußland, das seit langem daran gewöhnt ist, mit den harten Sanktionen des Westens umzugehen, wird einen Ausweg finden: Es muß seine »überschüssigen« Mengen in andere Ländern verkaufen und es gibt dafür auch Käufer.
Im Jahr 2023 belegte Rußland den ersten Platz unter den Ölexporteuren nach China und steigerte die Lieferungen in das Land um 24,1 % auf 107 Millionen Tonnen. Das sind 24,4 % mehr als die Importmengen des zweitplatzierten Saudi-Arabiens und mehr als 80 % mehr als die des Irak, der den dritten Platz belegt.“

Sieh da, sieh da: Der Irak hat in China seinen vermutlich wichtigsten Abnehmer.

„Rußland kann seine Lieferungen nach China sowie in die Länder des Nahen Ostens steigern. Saudi-Arabien beispielsweise kauft gerne russisches Öl für den Inlandsverbrauch und verkauft sein eigenes für den Export. Dieses System ist für sie von Vorteil, da russisches Öl viel billiger ist als saudi-arabisches Öl und dadurch den Inlandsverbrauch des teureren eigenen Öls reduziert und die Exporte steigert“, betont Nadjezhda Kapustina, Professorin der Abteilung für wirtschaftliche Sicherheit und Risikomanagement an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation.

Der Meistbegünstigte der Sanktionen gegen Rußland ist also das Reich der Wüste, deren autokratischer Herrscher mißliebige Oppositionelle im Ausland umbringen und gegebenenfalls zersägen läßt …

„Nach Angaben des russischen Finanzministeriums beliefen sich die Öl- und Gaseinnahmen des russischen Bundeshaushalts im Februar 2024 auf 945,6 Milliarden Rubel, einen Monat zuvor, im Januar, lag der Wert bei 675,5 Milliarden.
Das Volumen der zusätzlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gashaushalt wird sich im März auf 125,2 Milliarden Rubel belaufen.“