Serie „Lateinamerika heute“. Teil 1: Mexiko

AUFBRUCH ZU NEUEN UFERN?

Um die Lage heute in Mexiko zu verstehen, ist es hilfreich, sich meinen alten Artikel zu Mexiko 1995 anzuschauen:

1. Kredit und Entwicklung
Mexiko durchlief nämlich damals mit der sogenannten Tequila-Krise ein ähnliches Problem, wie es manche EU-Staaten seit dem Anfang der Finanzkrise 2008 entwickelt haben: Es war durch Abzug von Finanzkapital zahlungsunfähig und wurde mit IWF-Krediten gestützt und „saniert“.
Die Tequila-Krise bedeutete für Mexiko das Ende des auf internationalen Kredit gegründeten Wachstumsmodells. Viele Staaten Lateinamerikas durchliefen diesen Prozeß. (Dazu später einmal in der gleichen Serie.)
Für Mexiko bedeutete es, daß es sich umorientieren mußte. Das auf Kredit gegründete Wachstumsmodell war gestorben. Die Krise von 1994 ff. und die an die Stützung geküpften IWF-Bedingungen führten zu einer großen Zerstörung von Produktion und Existenzmöglichkeiten der Mexikaner und verstärkten den Migrationsstrom in die USA. Da aber nicht alle auswandern können, drängte diese Krise immer größere Teile der Bevölkerung in die Kriminalität. Drogenhandel, Schlepperwesen und Menschenhandel erwiesen sich quasi als existenzmäßige Auffangstationen der ihrer sonstigen Erwerbsmöglichkeiten beraubten Bevölkerung. Waffenbesitz und Gewalt wurden zu Existenzgrundlagen. Die mexikanische Bevölkerung verrohte. Der Lustmord wurde zum Ventil der frustrierten Lebensperspektiven.

Der Drogenkonsum stieg. War Mexiko früher vor allem Transitland für Kokain aus Südamerika und Heroin aus Asien, so entwickelte es zusehends auch zum aufnahmefähigen Markt für harte Drogen. Die Volksgesundheit litt nicht nur unter dem steigenden Drogenkonsum, sondern auch unter anderen Kompensationsmethoden: Frustfressen setzte sich landesweit durch. Mexiko ist weltweit im Spitzenfeld der Fettleibingen.

Dies um so mehr, als die Entwicklungen in der Landwirtschaft die Produktion von cash crops zum Hauptziel erhoben. Die Agrarprodukte sollen dem Export und der Erwirtschaftung von Devisen dienen, nicht der Ernährung der Bevölkerung. Über den Agrarkredit und auch weniger „friedliche“ Methoden wurden Bauern ihres Landes beraubt und die seinerzeitige Landreform unter dem Präsidenten Cárdenas dadurch rückgängig gemacht, um dem Agrarkapital Geschäftsmittel zu verschaffen.
Das hatte unter anderem zur Folge, daß das Grundnahrungsmittel der ärmeren Bevölkerungsschichten, der Kukuruz, immer weniger angebaut wurde. Kukuruz ist inzwischen ein Importprodukt. Erstens hat er sich dadurch sehr verteuert, und zweitens führten etwaige Abwertungen des Peso zu Hungerrevolten, weil sich das (einstige?) Grundnahrungsmittel noch weiter verteuert. Inzwischen werden viele Tortillas aus Weizenmehl gemacht – auch ein auf Importen beruhendes Getreide, der ebenfalls Preisschwankungen unterworfen ist.

Im benachbarten Guatemala hingegen wird der Mais zwar angebaut, aber kaum mehr verzehrt, weil er auch zu einer cash crop geworden ist – für den Export nach Mexiko!

„Mexiko durchlebt die schlimmste Welle der Gewalt seit der Revolution. Jeden Tag werden 85 Menschen ermordet, und alle 2 Stunden verschwindet jemand und taucht nicht mehr auf. Im letzten Jahr wurden 31.174 Menschen ermordet, hauptsächlich durch Schußwaffen, 6.615 mehr als im Vorjahr (ein Antieg von 27 %), und mehr als das Doppelte von vor 8 Jahren.) Auf 100.000 Einwohner kommen pro Jahr 25 Morde. Die Tendenz geht dahin, daß 2018 ein neuer Rekord erreicht werden wird. Die Atomisierung der Kartelle, die Verhaftung von Anführern und die Anwesenheit der Armee in den Straßen hat das Wespennest aufgewühlt und die Zahl der Morde ansteigen lassen.
Während zwischen 2007 und 2012, in den 6 Jahren der Präsidentschaft von Felipe Calderón, 6 Personen pro Tag verschwanden, so waren es unter Peña Nieto (2012-2018) mehr als das Doppelte, nämlich 13 pro Tag. Tamaulipas hat nicht nur eine der höchsten Mordraten des Landes, es steht auch an erster Stelle bei der Zahl der Verschwundenen. Im letzten Jahrzehnt verschwanden dort über 6000 Personen, nur 200 von ihnen tauchten wieder auf.“ (El País, 6.8. 2018)

Meldungen dieser Art begleiten die Situation in Mexiko seit Jahren. Man gewinnt den Eindruck, daß dieses ständige Aufzählen von Mordraten das Publikum daran gewöhnen soll, daß es einfach so zugeht in diesem Land. Die Präsidenten werden verglichen, wie sich sich an dieser „Herausforderung“ bewähren, und nach Ende ihrer Amtszeit wird ihnen beschieden, auch sie seien „gescheitert“. Bei dieser Art von Berichterstattung fällt das völlige Fehlen jeder Erklärung und auch jeglichen Klärungsbedürfnisses auf.


2. Die Gewaltfrage
Der Gewaltapparat des Landes wurde zusehends zum verlängerten Arm des organisierten Verbrechens. Die sich bildenden Kartelle zwangen die lokalen Behörden mit einer Mischung aus Bestechung und Erpressung zur Kooperation. Ebenso wurden Polizisten und Gefängnispersonal gefügig gemacht. Attentate, Entführungen und das Auslöschen ganzer Großfamilien und Hochzeitsgesellschaften waren die Mittel dieses von der Drogenmafia in Gang gesetzten „Erziehungsprogrammes“.

Die zunehmende Übernahme des Staatsapparates durch den Drogenhandel führte zu einer ziemlichen Einmischung des nördlichen Nachbarn, des Haupt-Zielmarktes USA, in die mexikanischen Verhältnisse. US-Beamten der Antidrogenbehörde DEA lieferten sich Schlachten und Hubschrauberverfolgungen mit den Drogenhändlern. US-Polizisten nahmen extrajudikale Hinrichtungen und Entführungen in die USA vor, wenn ihre Auslieferungsansuchen nach Mexiko erfolglos blieben.

Unter dem Präsidenten Felipe Calderón wurde 2006 ein „Krieg gegen den Drogenhandel“ verkündet und die Bundespolizei und das Militär eingesetzt, um diese Symbiose zwischen den lokalen Sicherheitskräften und den Drogenkartellen zu zerstören und das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen.

Da sich an den sozioökonomischen Grundlagen nichts änderte – ein Großteil der Mexikaner hat nach wie vor keine andere Existenzmöglichkeit als das Anheuern bei irgendwelchen Drogenbossen – kam, was kommen mußte, und heute sind die Militärs und die Bundespolizisten genauso mit den Drogenhändlern verbündet wie früher die lokale Polizei.
Wenn sie sich nicht überhaupt als Rekrutierungspotential erweisen: Die Gruppe „Los Zetas“ besteht aus ehemaligen Angehörigen der Streitkräfte, die noch dazu eine Spezialausbildung zur Drogenbekämpfung in den USA erhalten hatten. Sie machen als Drogenbande einen gleich gefährlichen, aber besser bezahlten Job als bei der Bekämpfung des Drogenhandels und brachten wertvolles Spezialwissen über die Vorgangsweise und Methoden der staatlichen Sicherheitskräfte in die Drogenhandelsszene ein.
Die Methode, die Kartelle zu bekämpfen, indem die jeweiligen Anführer erschossen oder verhaftet wurden, führte nicht zu einer Beruhigung der Lage, sondern zum genauen Gegenteil. Wie bei einer Hydra traten mehrere Nachfolger auf, die sich gegenseitig und mit anderen Banden das Territorium streitig machten – und weiterhin machen.

Gegen die Willkür der Drogenhändler, der Militärs und der Polizei wurden in manchen Bundesstaaten örtliche Selbstverteidigungskomitees ins Leben gerufen, die ihr Territorium mit Waffengewalt verteidigen und sowohl den Drogenkartellen als auch der Staatsgewalt ein Dorn im Auge sind. So kämpft heute in Mexiko in vielen Gebieten jeder gegen jeden, und die Anzahl der Toten und Entführten steigt von Jahr zu Jahr.

Die Politik des letzten Präsidenten war von einer gewissen Resignation geprägt. Die Regierung versuchte eine Art „Gewaltenteilung“: Ein Teil des Staatsgebietes wird abgeschrieben, das sind No-Go-Areas, wo sich der wohlhabendere Teil der Bevölkerung und das ausländische Kapital nicht hinbegeben, und Schießereien, Gemetzel und die Entdeckung von Massengräbern an der Tagesordnung sind.
Daneben gibt es Enklaven, wo investiert wird, wo Industrie betrieben wird, wo gute Verkehrsverbindungen herrschen und wo der Tourismus blüht. Querétaro zum Beispiel ist eine Boomstadt, die sich einer ständig wachsenden Flugzeug- und Luftfahrtsindustrie erfreut, Puebla ein Zentrum der Auto- und Textilindustrie.

Aber auch diese Enklaven sind bedroht. Während das seinerzeit berühmte Acapulco inzwischen von jedem gemieden wird, der es sich leisten kann, und eine der höchsten Mordraten Mittelamerikas aufweist, so wurde auch das touristisch ausgebaute Cancun in Yucatan schon Schauplatz von Schießereien, und auch die Hauptstadt wird schon vermehrt von Killerkommandos aufgesucht.
Das ganze Mord- und Totschlag-Szenario wird noch zusätzlich verschärft durch die Einwanderung aus Mittelamerika, wo es in manchen Staaten noch schlimmer zugeht als in Mexiko.
Das ist die Situation, die der neue Präsident Mexikos vorfindet.


3. Der politische Werdegang von Andrés Manuel López Obrador (AMLO)

a) Grundeigentum, Guerilla und indigene Selbstbestimmung
Die politische Karriere des jetzigen Präsidenten ist sehr verbunden mit der mexikanischen Landfrage und dem Aufstieg der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN.

Im heutigen Lateinamerika gab es vor dem Aufkreuzen der spanischen Kolonialmacht kein Eigentum an Grund und Boden, weshalb die spanischen Kolonialherren das Land als herrenlos einstuften und unter die Eroberer verteilten. Die einheimische Bevölkerung wurde versklavt oder als eine Art Leibeigene und Taglöhner auf den Haciendas der neuen Herren beschäftigt. Sie besaßen nichts, nicht einmal die bescheidenen Behausungen, in denen sie fortan lebten.

Das war eine der Triebfedern der mexikanischen Revolution von 1910 ff. „Land und Freiheit“ war die Losung der Landlosen, die sich unter der Fahne des Bauernführers Emiliano Zapata scharten. Nach dessen Ermordung und den Machtkämpfen, denen auch einige mexikanische Präsidenten zum Opfer fielen, kam es unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas zu einer Landreform, bei der die bäuerliche Bevölkerung mit Kleinparzellen versehen wurde, den Ejidos. Diese Parzellen waren nicht veräußerlich und wurden regelmäßig nach Bedürfnis neu verteilt. Dadurch wurde eine Art kleinbäuerliche Landwirtschaft möglich, die Mexiko einige Jahrzehnte des sozialen Friedens und einer gewissen Prosperität ermöglichte. In den 80-er Jahren wurde diese landwirtschaftliche Struktur jedoch von den mexikanischen Eliten als Hindernis für die Entwicklung eines Agrarkapitalismus’ ins Visier genommen, der ordentliche Gewinne und Exporterfolge in diesem Sektor verhinderte.

Unter dem Präsidenten Salinas de Gortari (1988-94) wurde die Unveräußerlichkeit dieser Ejidos aufgehoben. Dann ging alles relativ schnell: Mit einer Mischung von Agrarkredit und Todesschwadronen wurden die Besitzer dieser Ejidos ihres Landes beraubt und dadurch in die Städte getrieben. Mexiko hat heute wieder eine große landlose Bevölkerung, ein von Jahr zu Jahr gesteigertes Wasserproblem und eine Landwirtschaft, die auf Teufel-komm-raus für den nordamerikanischen Markt produziert, sogar Karotten und ähnliche Grundnahrungsmittel.

Im südlichsten Bundesstaat, in Chiapas, wo die Guerilla über ein Rückzugsgebiet in Form des Lacandona-Urwalds und der guatemaltekischen Grenze verfügte, kam es 1994 zu Aufständen und Landbesetzungen. Die EZLN proklamierte sich zum bewaffneten Arm der eigentumslosen Nachfahren der Urbewohner und forderte Land – und Mitbestimmung auf lokaler Ebene. Nach Militäreinsätzen und Verhandlungen kam es unter dem Präsidenten Vicente Fox 2003 zur Gründung eines Amtes für die „Entwicklung der eingeborenen Völker“. Sie ersetzte eine Vorgänger-Organisation und sollte zurückgebliebene Regionen fördern, ohne die Landfrage zu berühren.
In Gegenden, wo für das Agrarkapital aus Gründen der Bodenbeschaffenheit und der Infrastruktur nichts zu holen ist, wurden einige Landverteilungen vorgenommen. Aber die Ausrichtung, der sich auch die EZLN beugte, ging dahin, die sozialen Probleme zu einer Art Folklore zu definieren, und die Eigentumsfrage vom Tisch zu bekommen.

b) Die mexikanische Parteienlandschaft
Als eine Konsequenz der Machtkämpfe und des Bürgerkrieges, die die mexikanische Revolution hervorbrachte, und auch von der Russischen Revolution inspiriert, gründete der Präsident Elías Calles 1928 die Nationale Revolutionspartei, die sich später in Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) umbenannte und das Land als Einheitspartei bis in die 90-er Jahre regierte.

Mexiko kam dadurch ohne die Militärdiktaturen der Region aus, und die PRI hatte das Land fest im Griff. Die 1939 gegründete Oppositionspartei PAN kam lange nicht zum Zug, da die Staatspartei über einen großen staatlichen Sektor in der Erdöl- und Produktionsgüter-Industrie und ein darauf beruhendes Klientel-System bei den Wahlen die Bevölkerung für sich mobilisieren und auch die Wahlurnen kontrollieren konnte.

Nach dem Tlatelolco-Massaker begann die Einheit der Partei zu bröckeln, die Machtkämpfe innerhalb der Partei nahmen zu, und die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt führten in der Folge zu einem politischen und ökonomischen Reformprozeß, in dessen Zuge die PAN erst auf regionaler und schließlich 2002 auf nationaler Ebene die PRI in die zweite Reihe verweisen konnte.

In den Reihen der PRI begann auch López Obrador seine politische Karriere, zunächst als Lokalpolitiker seines Bundesstaates Tabasco, und bei der Vorgängerbehörde für Eingeborenen-Fragen. Er schloß sich einem reformkritischen Flügel der PRI an, der sich gegen die Privatisierungen der 80-er Jahre richtete. Als diese Richtung bei den Präsidentschaftswahlen 1988 durch massiven und öffentlich wahrnehmbaren Wahlbetrug gegen den neoliberalen Kandidaten Salinas de Gortari unterlag, gründeten sie die Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Als Kandidat der PRD wurde López Obrador nach vielen Kontroversen 2000 Bürgermeister von Mexiko City. Nach einer Schmutzkübel-Kampagne und Anschuldigungen der Wahlmanipulation unterleg er bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen 2006 äußerst knapp dem Kandidaten der PAN Calderón. Er gründete ein Schattenkabinett, das Calderón in den nächsten Jahren zu einigen kosmetischen Zugeständnissen nötigte, um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, wie z.B. eine Preis-Obergrenze für Tortillas, das mexikanische Grundnahrungsmittel.
Mit einer anderen Partei trat AMLO als Präsidentschaftskandidat zu den Wahlen 2012 an und behauptete abermals, nur aufgrund von Wahlfäschung dem PRI-Kandidaten Peña Nieto unterlegen zu sein.
Es ist wahrscheinlich, daß sich die Kandidaten von 2006 und 2012 bei ihren Manipulationen des Rückhaltes der USA sicher sein konnten, die einen weiteren sperrigen lateinamerikanischen Präsidenten – noch dazu vor ihrer Haustür – unbedingt verhindern wollten.
In diesem Jahr hat es López Obrador im 3. Anlauf endlich geschafft. Dazu hat sowohl die innen- wie die außenpolitische Situation beigetragen. In Lateinamerika haben Regierungswechsel stattgefunden, einige US-kritische Regierungen wurden abgewählt, und die neue US-Führung setzt darauf, daß jeder mexikanische Präsident ihnen sowieso gefügig sein muß.


4. Was tun?
Der Zustand Mexikos ist in jeder Hinsicht trostlos. Die interne Sicherheitslage ist, gelinde gesprochen, unerfreulich. Im Außenhandel ist Mexiko im Freihandelsabkommen NAFTA eingebunden, das von den USA in Frage gestellt wird. Außerdem droht die völlige Schließung der Grenze nach Norden, was die Situation noch zusätzlich verschärft, da jetzt nicht nur Mexikaner, die im Land keine Existenzmöglichkeiten sehen, sondern auch Migranten aus Mittelamerika in Mexiko festsitzen.
López Obrador plant als erste Maßnahme eine Amnestie, um das völlig überlastete Gefängnissystem in den Griff zu kriegen, und eine Art nationaler Versöhnung in die Wege zu leiten.
Aber die Grundlagen der Misere Mexikos werden schwer in den Griff zu kriegen sein: Sie lauten: Kapitalismus, Weltmarkt, Grundeigentum, Geld (NAFTA ist eine Art Wechselkurs-Stützungs-Garantie,) und imperialistische Staatenkonkurrenz.

Es ist übrigens bemerkenswert, wie wenig Aufhebens die Medien über den Wahlsieg von AMLO gemacht haben.
Es scheint ein Bewußtsein zu geben, daß er wenig Spielraum hat, um Dinge grundlegend zu ändern.
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siehe auch:

Flüchtlinge in Mittelamerika – DIE MAUER BEGINNT IM SÜDEN (Februar 2017)

Radiosendung zu Mexiko, Schulden und Gewalt in 2 Teilen (September/Oktober 2018)
https://cba.fro.at/383485
https://cba.fro.at/385401

Bankensanierung unter EU-Aufsicht

DIE ÜBERNAHME DES BANCO POPULAR
1. Vom Ideal, Krisen zu vermeiden
Die 2014 gegründete Europäische Bankenunion hat das erklärte Ziel, durch Aufsicht und Richtlinien eine Wiederholung der Finanzkrise zu verhindern.
Erstens ist die Finanzkrise nicht vorbei, ganz im Gegenteil, sie schleppt sich inzwischen ins 10. Jahr. Sie ist sozusagen latent geworden.
Bemerkenswert ist auch die interessierte Betrachtungsweise bzw. völlige Ignoranz gegenüber den Gründen der Krise. Die Kreditschöpfung des Finanzkapitals oder das Prinzip des Gewinns überhaupt, das die Finanz-„Dienstleister“ erst dazu bringt, zu machenden Profit bereits vorwegzunehmen, werden gar nicht Gegenstand der Überlegungen der Politiker und „Experten“ der EU. Sondern das Urteil steht schon fest: Menschliches Versagen soll wie bei Zugunglücken die Ursache gewesen sein, warum Banken krachen und Wertpapiere sich entwerten. Selbstherrlichkeit von einzelnen leitenden Angestellten, allgemein Gier und andere niedrige Gefühle, von denen man gar nicht weiß, wo die in unserer Wertegemeinschaft eigentlich herkommen, haben so wunderbare Gebilde wie den Euro ins Strudeln gebracht. Seither sind jede Menge Verantwortliche bei Notenbanken, Gesetzgeber und Juristen damit beschäftigt, den Euro mit Geldspritzen zu behandeln und mit weiterem Kredit zu füttern, damit er sich auf den Beinen halten kann.
Bei einer solchen Diagnose nimmt es dann auch nicht wunder, wie die Therapie aussieht: Kontrolle und noch einmal Kontrolle soll vermeiden, daß „einzelne“ „Fehlentscheidungen“ wieder eine Entwertungs-Lawine ins Rollen bringen. Der demokratisch geschulte Verstand betrachtet die gesamte gesellschaftliche Verfaßtheit, die kapitalistische Einrichtung der Welt mit Geld, Eigentum, Staat und Gesetzen als eine Art höhere Gewalt, die von gewöhnlichen Sterblichen irgendwie gebändigt und handhabbar gemacht werden muß.
Die Europäische Bankenunion folgt von ihrer Logik her also ähnlichen Prinzipien wie die Wildbachverbauung, womit aber den Aufgaben, die sie sich gestellt hat, und überhaupt dem Gegenstand ihres Handelns – dem Finanzkapital – nicht gerecht wird.
2. Die Banco Popular-Bank und ihr Ende
Die Bank wurde 1926 unter dem klingenden Namen „Volksbank der um die Zukunft Besorgten“ gegründet und erfreute sich der besonderen Gunst des damaligen spanischen Königs, der gleich demonstrativ die ersten Aktien zeichnete.
Unter Franco war die Bank wie andere Banken auch ein Instrument der wirtschaftlichen Steuerung, im Vorstand befanden sich viele Mitglieder des Opus Dei.
Zu einer „richtigen“ Bank wurde die Banco Popular erst nach dem Ende des Franco-Systems, als sie erstens ein umfassendes Filialnetz in Spanien aufbaute und dann ins Ausland expandierte – erst innerhalb der EG, und dann auch in Übersee, in den USA und in Mexiko.
An der Schwelle zur Finanzkrise, im Jahr 2008, führte sie noch eine Vereinheitlichung ihres Filialnetzes durch.
Als sie 2017 an die Bank Santander um einen symbolischen Euro verkauft wurde, war sie nach Vermögen die fünft- oder sechstgrößte Bank Spaniens.
Banco Popular saß natürlich, wie alle spanischen Banken, mit einem Haufen entwerteter Hypothekarkredite und anderen Überresten der großflächig gescheiterten Immobilienspekulation da.
Über die weiteren Gründe ihres Scheiterns und der Übernahme gehen die Ansichten auseinander. Eine eigene Untersuchungskommission wurde eingesetzt, und Aktionäre und Einleger haben rechtliche Schritte gegen Santander als Rechtsnachfolger eingeleitet.
Die Popular war die erste Bank, bei der die Bankenaufsicht eingriff. Aus den Protokollen der Untersuchungskommission geht hervor, daß die Beamten der EU-Bankenunion eigentlich keine Ahnung haben, wie sie mit dergleichen Fällen umgehen sollen. Die Wildbachverbauungs-Logik führt ins Nichts.
3. Ursachenforschung im Nebel
Die Diagnose der Tageszeitung El País gibt die Richtung vor, in die man in Zukunft denken soll:
„Sie (= die Bank) war das letzte Opfer der schlechten Leitung durch die Verantwortlichen während der Finanzkrise.“
Man entnehme dem Satz: 1. Die Finanzkrise war einmal. 2. Sie wirkt immer noch nach. 3. Bei guter Leitung wäre kein Schaden entstanden.
Der eine der ehemaligen Direktoren beschuldigte seinen Nachfolger, die Bank in den Bankrott getrieben zu haben, damit die Bank Santander sie übernehmen könne, ohne einen Cent dafür zu zahlen, und auch noch 2 Milliarden Euro dafür einzustreifen. (Das waren staatliche Zahlungen, damit Santander das gekenterte Schiff bei sich aufnehmen sollte.) Der Nachfolger hingegen konterte, die Bank sei bereits pleite gewesen, als er in die Direktion gekommen sei, das sei nur von seinem Vorgänger versteckt worden.
Zu dieser Praxis der geschönten Bilanzen gab er allerdings zu, daß sie weit verbreitet sei, da ja der Kredit der Bank um jeden Preis aufrechterhalten werden sollte. Also wurden überall nach dem Platzen der Immobilienblase in Spanien die nicht mehr bedienten Kredite und entwerteten Immobilien in den Bilanzen versteckt, so gut es nur ging. So auch bei der Popular.
Zunächst wurde das Filialnetz „verschlankt“ und Leute entlassen. Das verringerte zwar Kosten, brachte die Bank aber nicht in die Gewinnzone und löste das Problem der problematischen Aktiva nicht, die nach wie vor bei der Bank herumlagen.
Dann wurden Kapitalaufstockungen durch Börsengänge unternommen. Vorher wurde natürlich die Lage der Bank in den rosigsten Farben in Hochglanzprospekten und Werbespots ausgemalt – die Leute sollten die Aktien ja kaufen.
Diese Praxis wurde inzwischen von den spanischen Gerichten als Betrug eingestuft, sodaß saftige Entschädigungszahlungen an geprellte Aktionäre ausgezahlt werden mußten und auch weiterhin müssen.
Bei dieser Kapitalaufstockung kamen mexikanische Aktionäre in die Bank, die dachten – offenbar im Unklaren über den tatsächlichen Zustand der Bank – ein echtes Schnäppchen gemacht zu haben. Jetzt schauen sie durch die Finger und wollen ihr Geld zurück. Auch aus New York wurden Klagen gegen die Bank eingereicht, die sich inzwischen eben an die Santander als neuen Besitzer richten. Der Fall der Popular geht also auch über die EU hinaus.
Eine beliebte Form der Kapitalerhöhung bei Banken und Sparkassen in Spanien bestand auch darin, den betuchteren Kunden Anteilsscheine an der Bank aufzuschwatzen, die sich mit einem Bankrott oder Verkauf der Bank in Luft auflösen, oder eben doch nicht, weil dieser Umstand eine Flut von Klagen nach sich zieht.
Im Falle der Popular wurde auch diese Praxis sehr verdeckt gehandhabt, weil diese Anteilsscheine bei anderen Banken bereits öffentlich in Mißkredit geraten waren. Es ist in den Medien immer nur von „Investoren“ die Rede, aber nicht davon, welcher Art die „Investition“ eigentlich war, da aufgrund der Schwierigkeiten der Bank auch der Börsengang gar nicht oder nur teilweise öffentlich war.

4. Santander als Bankenretter

Die Bank Banco Santander ist das Herzstück des Grupo Santander, einem internationalen Netz von Finanzdienstleistern rund um den Globus.
Gegründet wurde die Bank im 19. Jahrhundert als Handelsbank für den Export und Import aus dem Hafen von Santander. Später war sie eine der Banken, die Papiergeld druckten und in Umlauf brachten, bis dieses Geschäft der Nationalbank exklusiv übertragen wurde. Erst im 20. Jahrhundert begann sie, sich über Kantabrien hinaus zu einer gesamtspanischen Bank zu entwickeln und andere Banken einzuverleiben. Einen echten Wachstumsschub brachte der Fall des Rumasa-Imperiums, einer vertikalen Unternehmensgruppe aus der Franco-Zeit, die 1984 von der damaligen Regierung zerschlagen wurde, wobei Santander den Banksektor übernahm.
Seit dem EG-Beitritt Spaniens 1986 wächst Santander unaufhörlich. In den 90-er Jahren wurde sie zur größten Bank Spaniens und einer der wichtigsten Banken Lateinamerikas. Mit der Einführung des Euro expandierte Santander so richtig in andere Staaten der EU und nach Übersee. Santander gehörte zu den Banken, die den Euro nutzten und gleichzeitig als internationale Währung in anderen Ländern etablierten.
Zu ihrem 150. Jahrestag 2007 war sie die 12-größte Bank der Welt und diejenige mit dem größten Filialnetz weltweit. Den größten Geschäftsanteil machen das Privatkundengeschäft und die Konsumentenkredite aus.
Seither hat Santander noch weitere Banken übernommen. Zunächst sah sie die Krise und die aus ihr resultierenden Bankencrashes natürlich als eine Chance, weiter zu expandieren und sich Marktanteile in ihrem Stammgeschäft zu sichern.
Mit dem Fortschreiten der Krise kam aber noch ein anderer Gesichtspunkt dazu. Santander ist nicht nur eine Systembank des europäischen Finanzsystems, sie ist auch zu einer Systembank der Bankenrettung geworden.
Sie kauft gestrauchelte Banken auf der iberischen Halbinsel auf und saniert diese, sowohl finanziell als auch, was die anstehenden Klagen und Rechtsstreitigkeiten angeht. Dafür erhält sie alle Unterstützung vom Staat und der EZB.
So sieht das Aufräumen hinter gecrashten Banken viel besser aus: Es handelt sich scheinbar um eine normale kommerzielle Operation, eine Bank kauft eine andere, und fertig. Santander stützt damit den Ruf des Euro.
Das einzige Problem ist, daß sich die Santander nicht überall einsetzen läßt, weil z.B. die italienischen Regierungen eine Übernahme ihrer großen Banken durch Santander nicht zulassen würden. Schon der Erwerb der Antonveneta und ihr baldiger Verkauf an eine italienische Bank zeigten, daß Santander in Italien nicht willkommen ist. Möglicherweise haben auch andere Staaten Vorbehalte gegen das Eindringen dieses Haifisches in ihren finanziellen Fischteich.
Es fragt sich übrigens, was Santander mit den bei ihr natürlich auch in großer Menge vorhandenen geplatzten Krediten, unbebauten Grundstücken und leeren Immobilien macht? Schreibt sie sie locker ab, oder hat sie bessere Konditionen als andere Banken, diese entwerteten Aktiva auf Bad Banks oder andere Müllschluck-Institutionen zu dumpen?
5. Der spanische Staat und seine Bad Bank
Ein großer Abwesender beim Fall der Popular ist die spanische Bad Bank, die SAREB. Sie wurde ja gegründet, um den Banken die faulen Kredite abzukaufen. Entweder sie hat der Popular zu wenig davon abgekauft, oder sie hat zu wenig dafür gezahlt.
Oder aber, das ganze Programm der Bad Bank bewährt sich bei nicht bedienten, also verfallenen Krediten nicht, sondern läßt sich nur auf entwertete Wertpapiere anwenden.
Es ist jedoch auffällig, daß die SAREB, die genau für solche Banken wie die Popular gegründet wurde, in den ganzen Verhandlungen um die Nachbereitung der Bankinsolvenz und des Kaufes durch die Santander gar nicht aufscheint.
Daraus kann man Rückschlüsse auf die Tätigkeit der SAREB und deren Dotierung aus dem spanischen Budget ziehen. Der große Schritt war offenbar die Gründung dieser Bad Bank. Seht her, wir kümmern uns um unsere Banken und deren Probleme! Das war eine Botschaft an das In- und Ausland, nachdem Spanien 2012 einen großen Kredit aus dem Rettungsfonds ESM zur Bankensanierung erhalten hatte.
Und da hat sich die SAREB ja auch bewährt, neben anderen Maßnahmen wie dem Anleihen-Aufkaufsprogramm der EZB: Das Rating der spanischen Staatsanleihen verbesserte sich.
Das Geld war offenbar bald verbraucht, und seither zahlt die SAREB fast nichts mehr bzw. kauft keine entwerteten Aktiva mehr auf. Hin und wieder gibt es Berichte über die SAREB: von den bei ihr angesammelten Immobilien und sonstigen Vermögenswerten oder Schuldtiteln wurden so und so viel Prozent „realisiert“, also irgendwie zu Geld gemacht. Ob es sich dabei um so symbolische Euros handelt oder um irgendwelche wirklichen Einnahmen, bleibt im Dunkeln.
Die zweite wichtige Aufgabe der SAREB scheint nämlich zu sein, die Immobilienpreise wieder auf ein gewinnversprechendes Niveau zu heben und den Hypothekarkredit zu beleben. Diesbezügliche Erfolgsmeldungen kann man glauben oder nicht. Ein wirklicher Durchbruch scheint bis heute nicht stattgefunden zu haben, ein großer Anteil der Hypothekarkredite bleibt uneinbringlich, weil die Schuldner sich ins Ausland abgesetzt haben, entweder nach Lateinamerika oder in andere EU-Staaten.
Damit ist auch der spanische Bausektor nicht mehr wirklich auf die Füße gekommen und hält sich mit staatlichen und Auslandsaufträgen irgendwie über Wasser.
Und deswegen ist letztlich auch die Popular gekracht: Die Hoffnung, nach einer Durststrecke wieder ins Hypothekargeschäft zu kommen, bewährte sich nicht.
Der Grund, die Bank zu übernehmen und zu verkaufen, war schließlich ein Run auf die Bank, aufgrund der sich häufenden Negativmeldungen. Da griff die Euro-Bankenaufsicht ein.
6. Die europäische Bankenaufsicht
Schon die Namensgebung der Bankenaufsicht ist eigenartig: Überall sind „Mechanismen“ zugegen, aber die Beschlüsse erfolgen nicht mechanisch, sie müssen dann schon von Menschen gefaßt werden.
Wie sich inzwischen aufgrund der Anhörungen der spanischen Untersuchungskommission herausgestellt hat, hatte der EZB-Bankenaufsichts-Ausschuß SRB im Mai 2017 die Buchprüfer-Firma Deloitte beauftragt, sich die Bilanzen und Perspektiven der Bank anzuschauen. Die Firma erstellte 3 Szenarien, ein positives und 2 negative. Außerdem hat dieser Ausschuß eine eigene Bewertung erstellt, die auch negativ war.
Auf dieser Grundlage kam es zum Entschluß des SRB-Ausschusses, die Popular an Santander für einen symbolischen Euro zu verkaufen.
Über das alles ist aber nicht viel herauszubekommen, weil sowohl die 3 Studien der Buchprüfer-Firma als auch diejenige des EZB-Ausschusses „vertraulich“ sind. An die spanischen Abgeordneten im Parlament wurde nur eine stark zensurierte und nichtssagende Zusammenfassung dieser Papiere freigegeben. Aus der geht immerhin hervor, daß der SRB-Ausschuß den Verkaufsbeschluß faßte, weil die EZB sich weigerte, der Bank weiter Liquidität über den ELA-Notfallsmechanismus zuzuschießen.
Weiters geht aus diesem Resümee der Intervention noch hervor, daß der Bankenaufsichts-Ausschuß den Geldhahn abdrehte, weil die Verantwortlichen der Popular nicht genug Aktiva vorweisen konnten, um weitere Geldspritzen zu rechtfertigen.
Die ganze Tätigkeit dieser Bankenaufsicht, die so um die 1000 Mitarbeiter beschäftigt, dreht sich also allein um die Frage, wann einer Bank definitiv der Hahn zuzudrehen ist. Und zwar dann, wenn sie nicht genug hat, um einen Liquiditäts-bzw. Überbrückungskredit auch zu bedienen und zu tilgen. Einzig und allein für diese Frage werden Studien erstellt und Gehirnschmalz eingesetzt. Diese Geistesleistungen sind dann aber „vertraulich“, weil sie entweder auf einige Akteure, oder aber auf den ganzen Banksektor kein gutes Licht werfen.
Die Bankenaufsicht bemängelte ferner die „negative Berichterstattung in der Presse“, die „die Schließung der Bank beschleunigt habe.“
Damit wird eigentlich der Bankleitung vorgeworfen, die Öffentlichkeit nicht ausreichend hinters Licht geführt zu haben. Ferner wird damit zugegeben, daß die Bank sowieso hätte zusperren müssen, nur eben etwas später. Wie auch die Geheimnistuerei mit den Studien zeigt, hält die Bankenaufsicht anscheinend das Verstecken von kompromittierenden Infos für das Um und Auf des Bankengeschäfts!
Die spanische Untersuchungskommission und mit ihr das spanische Parlament ist entrüstet, weil sie alle keine Infos kriegen. Die Bankenaufsicht ist genervt, weil die angeblich falsche „Informationspolitik“ die Kosten der Sanierung hinaufgetrieben hat. Und die über 300.000 Geschädigten beschäftigen Anwälte und Gerichte, um ihr investiertes Geld zurückzubekommen.
Das ist also das Resultat der Tätigkeit der Bankenaufsicht. Oder genauer, das bisherige.

Rund um die Pipeline

NORTH STREAM I UND II
Seit geraumer Zeit gibt es Reibungen aller Art um das Pipeline-Projekt durch die Nordsee – es ist daher angebracht, sich anzuschauen, was da alles für Interessen im Spiel sind.


1. Eine Pipeline aus Rußland gibt Energiesicherheit
Österreich schloß in den 70-er Jahren im Rahmen seiner Sonderstellung gegenüber den sozialistischen Block – als neutraler Staat – Verträge zur Lieferung von Gas. Seither fließt dieses Gas ohne irgendwelche Störungen von Seiten Rußlands und versorgt das ganze Land und teilweise auch die Nachbarländer. Österreich ist inzwischen zu einem Verteiler für russisches Gas geworden. Die Gaslieferungen waren unbeeinträchtigt vom Zerfall der Sowjetunion und den Verteilungskämpfen innerhalb Rußlands um die Kontrolle der Gas und Ölfelder in den 90-er Jahren. Die einzigen Stockungen traten aufgrund der Ereignisse in der Ukraine ein, hatten aber auf die Versorgung in Österreich keine Auswirkungen, da die Energieversorger rechtzeitig ausreichende Lagerbestände angelegt hatten.

Rußland ist also ein verläßlicher Partner, der seine Verträge einhält, die Ukraine hingegen ein unsicherer Kantonist, wo der Gastransit eine wichtige Quelle der Bereicherung der dortigen politischen Klasse ist.
Vom Standpunkt des Kunden ist es also angesagt, die Ukraine zu umgehen und eine direkte Leitung mit Rußland herzustellen.
Das hat Schröder mit Nord Stream I gemacht, das hatten Bulgarien und andere Balkanstaaten mit South Stream vor und das ist auch die Idee bei North Stream II.


2. Nationale Politik hat eine eigene Agenda und ist nicht bloßer Vollstrecker ökonomischer Interessen
Die Wirtschaftstreibenden Deutschlands sind mit North Stream I hochzufrieden. Auch die deutsche Politikermannschaft hätte gerne noch mehr davon. Das russische Gas verschafft nämlich der Energiewirtschaft die Möglichkeit, die erneuerbaren Energien auszubauen und etwaig auftretende Engpässe mit Gas auszugleichen, wenn einmal die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht bläst. Es gibt ihnen auch die Freiheit der Preisgestaltung, weil sie aus dem Vollen schöpfen und beim Ausbau der eigenen Quellen anfallende Verluste durch Aufschlag auf das Importgas kompensieren können.
Auch die Abnehmer haben durch das russische Gas bessere Wahlmöglichkeiten zwischen Energieformen.
Für das alles würde übrigens North Stream I reichen. Aber die deutsche Politik und Energiewirtschaft hat mehr vor.


3. Über Abhängigkeiten, oder: Hahn auf, Hahn zu

Was das kleine Österreich seit Jahren, Jahrzehnten praktiziert, wäre auch in Deutschland vielen Akteuren recht: zu einem Verteiler für russisches Gas zu werden, am besten gleich EU-weit. Deutschland möchte mit North Stream nicht nur die Ukraine als Transitland quasi abschalten und damit eine wichtige Einnahmequelle ihrer eigenen Geschöpfe dort versiegen lassen. Es möchte auch die restlichen EU-Staaten darauf verpflichten, das Gas über Deutschland zu beziehen und nicht über die Ukraine. Deutschland würde gerne mit importiertem Gas zu einer Energie-Großmacht in der EU aufsteigen, das die Energiepreise für andere Länder festlegen kann.
Deswegen hatte es auch etwas gegen South Stream, wo einige Balkanstaaten vielleicht gar nicht so ambitioniert waren wie Deutschland, aber doch gerne sich und die Nachbarländer direkt und günstiger aus Rußland direkt versorgt hätten. Energiekonkurrenz im Hinterhof? – nein danke! Da kam es der deutschen Politik sehr gelegen, daß die USA auch etwas gegen dieses Projekt hatten und mit einer Straßenrevolution die Olescharski-Regierung in Bulgarien stürzte, die die South-Stream-Pipeline unterstützte.

Die USA wiederum wollten jegliche Konkurrenz zur Ukraine unterbinden, weil sie erstens auf diese Einkünfte für die dortige, ihnen genehme Politikermannschaft scharf sind und damit auch die EU ein Stück weit in der Hand haben.
Das Abdrehen und Aufdrehen von Pipeline-Hähnen erweist sich nämlich als ein weitaus geeigneteres Mittel zu zwischenstaatlicher Erpressung als irgendwelche Sanktionen, die zwar mit viel Getöse verkündet werden, aber letztlich relativ wirkungslos bleiben, wie die ärgerlichen Beispiele Kubas, des Iran und Rußlands zeigen.

Die Energie kann nämlich wirklich eine Nationalökonomie stillegen und Regierungen in schwere Bedrängnis bringen, da auf ihr Produktion, Transport und Heizen beruhen. (Serbien konnte z.B. die Zerstörung seiner Raffinerien 1999 nur durchstehen, weil es im Wasserkraftwerk Djerdap am Eisernen Tor und anderen, kleineren Wasserkraftwerken alternative Energiequellen hatte.)


4. Die verschiedenen Energiequellen
Zu Zeiten des Kalten Krieges stand bei Energieträgern die Versorgungsleistung im Vordergrund, die meisten Energie-Unternehmen waren staatlich und das Wichtige war, Unternehmen und Privaten günstige Energie zur Verfügung zu stellen.

Inzwischen ist der Gesichtspunkt, daß die Energieversorgung ein Geschäft für ihre Betreiber sein soll, in den Vordergrund getreten. Da es sich aber um eine Ware anderer Art handelt als Strümpfe, Maschinen oder Autos, kommt es immer wieder zu gröberen Störungen, wie Stromausfällen oder eben die Verwicklungen um North Stream II.

Zusätzlich haben das Kyoto-Protokoll und der Kampf gegen den Klimawandel die Konkurrenz zwischen den Energieträgern und den Nationen angeheizt.
Gas gilt als „sauberer“, also vom Standpunkt der Umweltverschmutzung unbedenklicher Energieträger. Kohle hingegen wird als Dreckschleuder in Acht und Bann getan. Dadurch eröffnet sich eine zunächst ökonomische Front mit Polen. Dieses Land soll, wenn es nach Deutschland geht, auf seinen eigenen Energieträger verzichten, seine Zechen stillegen, seine Kumpel in die Arbeitslosigkeit entlassen und stattdessen über Deutschland russisches Gas beziehen. So das Drehbuch nach Willen der deutschen Politiker.

Man sieht also, wie sich allein in der EU und ohne die weltpolitischen Entwicklungen einzubeziehen, jede Menge nationale Gegensätze auftun: Polen soll seine Energiegewinnung nach Deutschlands Willen ausrichten und dabei seinen Sozialstaat und seine Handelsbilanz belasten, Bulgarien darf Deutschland keine Energie-Konkurrenz machen und damit seine darniederliegende Wirtschaft ein bißl aufmöbeln.
Beiden Regierungen wird damit unter die Nase gerieben, daß sie Hinterhof für Deutschlands Glorie zu sein haben und sonst nix.
Polen ist diesbezüglich in einer besseren Position, weil es Frontstaat an der Grenze Rußlands ist und sich einer gesteigerten Aufmerksamkeit seitens der USA erfreut.


5. Die Pipelines und die imperialistische Konkurrenz. Der Aufstieg des Gases
Die USA haben sich in jüngerer Vergangenheit als Öl- und Gasproduzent sozusagen wiederentdeckt. Aus Geschäfts- und Autarkie-Überlegungen sind sie zu dem Schluß gekommen, daß das eigene Land diesbezüglich neu erschlossen gehört, und deshalb ihre eigenen Vorkommen neu sortiert.
Die Gas- und Ölförderung durch Fracking ist übrigens nichts besonders Neues. Pionier war diesbezüglich Rumänien zur Zeit Ceaucescus, das seine versiegenden Ölvorkommen auf diese Art noch einmal verlängerte. Unter kapitalistischen Bedingungen war das Fracking aber im Verhältnis zum Weltmarktpreis für beide Energieträger lange unrentabel. Auch heute ist es nur aufgrund von Wertpapierspekulationen und Autarkie-Überlegungen gewinnversprechend. Diese Option wurde durch politische Interessen wieder aktuell.

Solange sich Europa aus dem Nahen Osten mit Öl versorgte, und Gas als Energieträger zweitrangig war, war die Welt aus der Sicht der USA in Ordnung. Die großen Ölproduzenten wurden über die USA und die 7 Sisters beaufsichtigt, und die USA hatte damit die Kontrolle über einen Teil der Energieversorgung Westeuropas.

Mit der Wende im Osten änderte sich alles, und Rußland , das gar nicht Mitglied der OPEC ist, trat als großer Spieler auf den Plan. Zunächst in Form von Raubrittern, die sich Öl- und Gas-Förder-Anlagen unter den Nagel rissen, und in alle Richtungen zu Dumpingpreisen verkauften. Es dauerte ca. eineinhalb Jahrzehnte, bis die russische Regierung den Energiesektor wieder unter ihre Kontrolle bekam. Die ganze Show um die Demontage von Jukos und Chodorkowski war ein Teil dieser Wiedererlangung der Souveränität in Energiefragen.

Zwischen diesen beiden Polen sortierte sich auch die EU neu. Gas als Energieträger trat verstärkt auf den Plan. Immerhin gab es ja Gasleitungen aus Rußland in die ganzen sozialistischen Staaten, da war ja einiges an Infrastruktur da. An die schlossen sich vermehrt westliche Staaten an.
Gas kam sozusagen in Mode.
Im Westen wurden Gasheizungen und Herde, man erinnere sich, lange mit Gasflaschen betrieben. Seit Anfang der 90-er Jahre nehmen Gasleitungen verstärkt zu. Südwesteuropa hinkt noch nach, in Ermangelung von Pipelines. Dort böte sich für Deutschlands Energiefirmen, so die geschäftlichen Kalkulationen, noch einiges an Potential an, sollte North Stream II tatsächlich zustandekommen.


6. Wer beherrscht welchen Markt?
Man sieht, es gibt also potente Spieler, und die Karten sind verteilt.
Man vergesse nicht die Ölstaaten in der Golfregion. Für sie ist Rußland ein Konkurrent, den sie mit allen Mitteln bekämpfen wollen. Die ganzen Verwicklungen und Kriege im Nahen Osten sind auch unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, daß Saudi Arabien und Katar den Einfluß Rußlands auf dem Energiemarkt zurückdrängen wollen.

Die EU ist somit ein Brennpunkt der internationalen Interessen auf dem Energiemarkt, Die eigenen Ressourcen sind bescheiden, und haben auch nationale Aufsichtsmächte: Großbritannien und Norwegen können Europas Energiebedarf nicht decken. Deutschland will ihnen mit seinem Energie-Mix und russischem Gas den Rang ablaufen. Die Atomenergie und die Wasserkraft spielen auch eine Rolle in diesem Spiel, und das alles wird unter dem Deckmantel des geeinten Europa mit unvermittelter Härte ausgetragen, was dem p.t. Publikum von den Medien als Kampf der Systeme – Demokratie gegen Diktatur – verkauft wird.