„Tragödien“ im Mittelmeer

ÜBER DIE UNBEWOHNBARKEIT DER WELT
Nachdem sich sowohl die Zahlen derer, die es nach Europa schaffen, als auch die derjenigen, denen es nicht gelingt ständig erhöhen, ist es doch einmal angebracht, nachzufragen, warum mehr und mehr Menschen die höchst gefährliche Reise nach Europa unter allen Umständen unternehmen.
Rekapitulieren wir doch einmal, wie es überhaupt zu diesen Flüchtlingsströmen kommt.
I. AFRIKA
1. Afrika war auch zur Zeit des Kalten Krieges ein vielerorts ungemütlicher Ort. Die postkolonialen Abtransport-Praktiken von Rohstoffen und Agrarprodukten, in Abkommen wie denen von Lomé (Stabex und Minex) und weiteren, bilateralen Verhandlungen festgeschrieben und immer neu verhandelt, beraubten viele Menschen ihrer Existenzgrundlage. In der Landwirtschaft rissen sich Konzerne die fruchtbaren Gegenden unter den Nagel und trieben die mittels Subsistenzwirtschaft existierenden Einheimischen in die Steppen und Halbwüsten, was das Entstehen weiterer unfruchtbarer Gegenden, wie in der Sahelzone begünstigte. Im Bergbau wurden ebenfalls entweder bestehende primitive Abbaumethoden zugunsten maschineller, industrieller verdrängt, oft mit Polizei und Paramilitärs, was die bisherigen Bergarbeiter entweder zu um einen Hungerlohn schuftenden Lohnarbeitern degradierte, oder gleich vom Standort vertrieb. Oder es wurden dort ansässige Landbewohner zugunsten eines Bergbauprojektes vertrieben.
Das alles war zwar unerfreulich für die Menschen vor Ort, führte aber nicht zu großen Flüchtlingsströmen. Die Betroffenen flüchteten innerhalb Afrikas, verhungerten oder wurden niedergemetzelt.
2. Ein weiteres Datum für die Bewohner Afrikas war das Ende des Kalten Krieges. Verschiedene der dortigen Regierungen wurden bis 1990 mittels Militär- und Entwicklungshilfe finanziell unterstützt, um sie als Verbündete des Westens zu erhalten. Das ließen sich vor allem die USA einiges kosten. Es fand so eine eigenartige Art von Arbeitsteilung zwischen den USA und verschiedenen europäischen Staaten statt: Die Amis zahlten einen Haufen Geld, und die Europäer schleppten ab, was es an Rohstoffen und Agrarprodukten zu holen gab.
3. Mit dem Ende des Kalten Krieges gab es auf einmal eine neue Situation: es war nicht mehr nötig, dort irgendwelche Regimes aufrechtzuerhalten, da es keine Konkurrenz mehr gab. Die Alimentierung des südafrikanischen Apartheid-Regimes wurde überflüssig, da die sowjetisch-kubanisch gestützten Regierungen der Nachbarstaaten notgedrungen einlenken und mit den USA und Europa ihren Frieden machen mußten. Der ANC kam dort an die Macht, die er inzwischen – sehr autochton – gegen streikende Arbeiter einsetzt.
Die paar Staaten, die mit der SU verbündet waren, gingen ebenfalls ihrer Unterstützung verlustig. In Äthiopien wurde Mengistu gestürzt.
Afrika verbilligte sich für die imperialistischen Staaten. Und das Wettrennen um Rohstoffe beschleunigte sich. Die Küsten wurden verpachtet und die dortigen Fischer verloren ihre Existenzgrundlage.
Das erste Land, das darüber vollständig kippte, war Somalia – der erste so richtig anerkannte „failed state“. Interventionen der USA in den 90-er Jahren scheiterten. Somalia dümpelt weiterhin als Krisenfall vor sich hin. Gegen die Überlebensversuche der dortigen Bevölkerung mittels Piraterie (Somalia kontrolliert wie der Jemen die Einfahrt in den Suezkanal) wurden internationale Flottengeschwader in die Gegend geschickt.
4. Ruanda, Burundi, Nigeria, der Kongo, Uganda, Liberia, Sierra Leone – die meisten Menschen hierzulande wissen weder, wo diese Staaten sich befinden, noch was dort geschieht. Wir werden sporadisch informiert über Bürgerkriege, Warlords – die dann medienwirksam gesucht werden, selbstverständlich ohne Erfolg –, dazu noch ein Dokumentarfilm über den Victoriasee, usw.
Dann gibt es noch Hungerkatastrophen, wo man zu Spenden aufgerufen wird – was natürlich nie zu einer gründlicheren Untersuchung oder auch nur Nachfrage darüber führt, wie es eigentlich dazu kommt. Meistens heißt es, das Wetter war schlecht, Heuschrecken sind eingefallen, und die Leute dort machen einfach zu viele Kinder. Dann wird wieder gegen den Sudan und seine „islamistische“ Regierung Stimmung gemacht, ein Stück von dem Land wird abgetrennt – man weiß gar nicht, warum? – und dann liest man irgendwo, daß es darüber Unfrieden gibt.
Als nächstes gibt es Terroristen in der Sahara, von denen verübte „Greueltaten“, und dann muß Frankreich intervenieren, um dort Ordnung zu schaffen.
Alle diese verstreuten Informationen, die hin und wieder in unser Bewußtsein einsickern und ein angenehmes Gruseln über diesen Kontinent verursachen, – primitiv, sexbesessen, keine Demokratie, Stammeskriege, Vodoo – sind Ausdruck des Umstandes, daß in vielen Gegenden Afrikas das Leben bzw. Überleben unmöglich geworden ist.
II. DER NAHE UND MITTLERE OSTEN
Auch in diesen Weltgegenden hat sich einiges abgespielt. Afghanistan wurde zum Szenario des Showdowns zwischen den USA und der SU. Die USA wollten der SU ihr Vietnam verursachen. Das ist auch gründlich gelungen, Afghanistan wurde in diesem Konflikt noch mehr ruiniert als Vietnam, und seit mehr als 30 Jahren herrscht dort Krieg.
Dann wurde der Irak gründlich zerstört, nach der damals vorherrschenden USA-Außenpolitik-Doktrin: Wo immer uns wer nicht paßt, reiten wir dort ein und schaffen Tsching-Bumm-Krach! Ordnung. Damit wurde ein zwar diktatorisch regierter, aber ökonomisch halbwegs funktionierender Staat in Stücke geschlagen, wo die Bewohner nicht nur täglich um ihr Leben fürchten müssen, aber auch nebenbei die Landwirtschaft, die Wasser- und Stromversorgung ziemlich kaputt ist.
Inzwischen sind dort mehrere kriegerische Einheiten entstanden, die mit recht modernem Waffenarsenal nichts anderes im Sinn haben, als – unter völliger Zerstörung aller Mittel des jeweiligen Gegners – das Territorium unter sich aufzuteilen.
Dazu kommen zwei flächendeckende Bombardements Israels gegen Gaza – 2008 und 2014 – die dieses Palästinenser-Ghetto recht gründlich in Schutt und Asche gelegt haben.
Als weiterer Mosaikstein in der Zerstörung des Nahen Ostens sei der eigentlich ohne besonderen Grund vom Zaun gebrochene Krieg Israels gegen den Libanon erwähnt. Schwups, auf einmal bombardierte die israelische Armee den Libanon und ruinierte dessen gesamte Infrastruktur – und damit auch Ökonomie – weitaus gründlicher als der jahrelange Bürgerkrieg im Libanon.
Bei diesen Kriegen fragte die europäische Öffentlichkeit nie ernsthaft nach: ja he, was ist denn da los?
Dann kam der „arabische Frühling“. Unzufriedene aller Art strömten auf Straßen und Plätze und forderten Freedom and Democracy. Die guten Leute hatten nicht mitbekommen, daß beides bei ihnen längst angekommen war, nur in anderer Form als erwartet. Von der demokratischen Öffentlichkeit in Europa wurden sie beglückwünscht und mit jeder Menge Komplimenten über die Fortschrittlichkeit ihrer Ideen überschüttet.
Inzwischen wären die meisten Bewohner der betroffenen Länder froh, wenn sie ihre Diktatoren und die von ihnen eingerichteten halbwegs geordneten Zustände wieder zurück hätten.
Und so begann ein Exodus in kriegsfreie Gebiete, und in Gegenden, die im Ruf stehen, dort könnte man halbwegs gesichert existieren.
Man weiß ja nicht, was in den Staaten Schwarzafrikas für Gerüchte über den Wohlstand in Europa kursieren, aber eines sehen die Leute vor Ort doch im Fernsehen: jeder scheint dort im Norden – im Unterschied zu ihnen – zumindest irgendwie sein Auskommen zu haben.
Und die Anzahl der Auswanderungswilligen, die jedes Risiko auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen, wächst mit der Anzahl der Kriege, Konflikte, „Natur“katastrophen und Ähnlichem von Jahr zu Jahr.
III: FRONTEX
Die europäischen Politiker haben hier ein Problem, das von Marx mit der Bezeichnung „relative Überbevölkerung“ charakterisiert worden ist, relativ nämlich zu den Bedürfnissen des Kapitals. Während in den 60-er Jahren das Kapital mancher europäischer Staaten nicht genug Arbeitskräfte vorfand und deren Regierungen deshalb aus Südeuropa und der Türkei Gastarbeiter anwarben, ist heute eine ständig anwachsende Zahl überflüssiger Bevölkerung zu verzeichnen, die den Sozialstaat belastet und Anlaß für Publikumsbeschimpfung a la Sarrazin bietet. Und dann steht da an den Toren der Festung Europa – die ja im Inneren sehr viel von Freizügigkeit hält, ein Menschenrecht sozusagen – noch jede Menge Habenichtse aus zwei anderen Kontinenten, mit fremder Kultur, Sprache und Religion!
Nie gab es einen Moment lang die Überlegung von führenden Politikern, vielleicht einmal die eigene Politik gegenüber afrikanischen Staaten zu überdenken, statt Bomben, Soldaten und Militärhilfe vielleicht wieder etwas mehr an Infrastruktur und Bildung zu finanzieren, den USA bei kriegerischen Konflikten die Gefolgschaft aufzukündigen, auf Israel Druck auszuüben, damit es sich mit den Palästinensern einigt, anstatt sie dauernd wegbomben zu wollen, usw. Nein, die EU-Staaten wollen mitreden und möglichst auch mit dabei sein, wenn irgendeinem Staat oder einer Regierung wieder einmal klar gemacht werden soll, wessen Befehle sie gefälligst entgegenzunehmen habe.
Gegen den Ansturm der Flüchtlinge errichtete Spanien meterhohe, mit Stacheldraht umwickelte Zäune um die Enklaven Ceuta und Melilla. Und die EU richtete eine eigene Abwehrbehörde gegen Immigranten ein, die Frontex. Mit der für die EU-Außenpolitik typischen Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Dreistigkeit und Schönfärberei soll sie die EU-Außengrenzen „sichern“. Die mittellosen Flüchtlinge werden damit von vornherein zu einer Gefahr erklärt, vor der man die braven EU-Bürger schützen muß. Nur so viel zum spezifischen EU-Rassismus, der von ganz oben kommt und nicht aus der angeblich so rückständigen Bevölkerung, wie manche Ausländerfreunde beklagen.
Für die Tätigkeit von Frontex ist nichts zu teuer, während bei Asylbetreuung und Sozialhilfe geknausert wird. Sowohl personalmäßig als auch ausrüstungsmäßig ist Frontex bestens ausgestattet und auch relativ erfolgreich. Durch Verträge mit den Staaten, von denen die Flüchtlinge starten könnten, wie Marokko, Tunesien oder dem Libanon, und Überwachung der Küste zu Wasser und zu Land, ist es gelungen, den Strom der Bootsflüchtlinge auf die Kanarischen Inseln und nach Andalusien zu stoppen. Es ist beinahe unmöglich, obwohl es das nächstliegende wäre, von Syrien nach Zypern zu kommen – Zypern ist abgeriegelt. Es gibt eine italienische Insel in der Nähe der tunesischen Küste, Pantelleria, die ebenfalls nie angesteuert wird, da Frontex Tunesien fest in der Hand hat. An der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland wurde eine Mauer errichtet. (Erinnern wir uns noch an den Fall der Berliner Mauer? Keine Mauern mehr in Europa … ) Die Türkei stellt sich allerdings ein wenig als Problem dar, weil sie weder bereit ist, sich zum Büttel der EU zu machen, noch für Frontex auf Souveränität zu verzichten, damit sich deren Abwehr-Bande an der türkischen Küste breitmachen kann. Also schafft es auch hin und wieder ein Schiff bzw. Boot aus der Türkei – ausgerechnet nach Griechenland, wo sich ja ein wachsender Teil der eigenen Bevölkerung nur mit öffentlichen Suppenküchen weiterbringt.
Das einzige Land jedoch, das sich als Loch in der Frontex-Kette weiterhin hält, ist Libyen.
Auch hier erinnere man sich zurück: Berlusconi handelte für die EU seinerzeit mit Ghaddafi aus, daß die libyschen Behörden und Polizisten den Flüchtlingen die Überfahrt verunmöglichten. Die libysche Regierung setzte diese in eigenen, sehr ungemütlichen Lagern fest, wenn sie nicht von ihrem Unterfangen Abstand nehmen wollten. Ihnen wurden allerdings auch Jobs in Libyen angeboten, wenn sie dort bleiben wollten.
Das verringerte deutlich die Attraktivität der Trans-Sahara-Route für diejenigen, die nach Europa strebten, und Libyens Küste war für Flüchtlinge gesperrt. Die libysche Gesellschaft war damals auch zu gut überwacht, als daß sich ein Schlepperwesen etablieren hätte können.
Heute ist Libyens Ökonomie am Boden, Milizen bekämpfen einander und zerstören dabei das, was die NATO-Bombardements stehengelassen haben, es gibt weder Regierung noch Polizei, die Existenzgrundlage des Großteils der Bevölkerung ist zerstört, und die Flüchtlinge sind eine der wenigen Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Also strömen erstens die meisten Flüchtlinge nach Libyen, und dort gibt es zweitens genug Leute, die dafür sorgen, daß sich immer ein Schiff findet, von dem aus sie nach Lampedusa, Sizilien oder Malta starten können.
Die EU ist ratlos. Reinlassen will man die alle überhaupt nicht, aber jede Woche Hunderte absaufen zu lassen, hat eine schiefe Optik, und Italien und Malta wollen das auch nicht, weil diese ständige Wasserleichenverwaltung an ihrem Image kratzt und dem Tourismus schadet. Jedes Schiff, dessen menschliche Fracht gerettet wird, bestärkt jedoch diejenigen, die nach Libyen unterwegs sind oder von dort starten, wirkt also ermunternd.
Die Vorschläge mancher EU-Politiker zeugen von dieser Ratlosigkeit. „Auffangzentren“ sollen in Nordafrika errichtet werden. Gefängnisse, die bald voll sein werden, und deren Insassen durchgefüttert werden müssen, mit EU-Geldern? Es ist klar, daß diese Variante nichts bringen würde – es sei denn, man richtet die Flüchtlinge gleich an Ort und Stelle hin, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen.
Da ist es aber ein geringerer Aufwand, sie gleich ertrinken zu lassen.
Der spanische Außenminister schlägt vor, alle in den libyschen Häfen liegenden Schiffe zu zerstören und Libyen eine Regierung zu verpassen.
So etwas käme, wenn man damit ernst machen wollte, einer Besatzung Libyens auf unbestimmte Zeit gleich. Europa könnte sich dort sozusagen sein eigenes Afghanistan einrichten, mit allen Konsequenzen. Das wäre zwar in der Logik der EU durchaus vertretbar, wird aber sicherlich daran scheitern, daß niemand von den Mitgliedsstaaten dabei sein will, wenn es an die praktische Umsetzung geht.

Rückerinnerung an den Sturz Gaddafis:

Die Zerstörung Libyens (29.9. 2011)
Die Abschlachtung Gaddafis (28.10. 2011)

„Spardiktate“ gegen „Staatsinterventionismus“

KRISENBEWÄLTIGUNG
Es kam, was kommen mußte: Nachdem es erst einen Mords Hype um Syriza gegeben hat, was das für tolle und menschenfreundliche Typen seien und wie die jetzt Griechenland und die EU umkrempeln werden, und nachdem Alexis Tsipras zu einer Art Messias stilisiert wurde, der in Berlin und Brüssel andere Seiten aufziehen wird – sind jetzt lange Gesichter angesagt, die neue griechische Regierung sei „umgefallen“, populistische Versprechen hätten sie gemacht, eigentlich hätten sie genauso gelogen wie alle anderen, ihr Programm von Saloniki hätten sie verraten usw. usf.
Das wirft erstens ein bezeichnendes Licht auf Gesellschaftskritik heute, die hauptsächlich auf der Suche nach irgendwelchen Lichtgestalten ist, aber außer moralischem Gejammer nichts gegen die herrschenden Verhältnisse einzuwenden hat. Die ihren Frieden mit Eigentum und Ausbeutung gemacht hat und dafür bitte bitte! doch ein bißl Soziales oben drauf gestreut haben will. Und ihre Erfolge hauptsächlich im Beklatschen von woanders stattfindenden Ereignissen feiert.
Gerade angesichts dessen, wie Syriza erst bejubelt wurde und wie jetzt etwas an Patina abblattelt, ist doch einmal zu untersuchen, was heute als „linkes“ Konzept gilt, und warum es per se nur als Programm existieren kann, in der Wirklichkeit aber scheitern muß.
Die „4 Pfeiler“ des Saloniki-Programms
Die 4 wichtigsten Aufgaben, die sich Syriza damals gestellt hat, sind:
1. Maßnahmen gegen die humanitäre Krise,
2. Neustart der Realwirtschaft,
3. Ein nationaler Plan zur Neuschaffung von Arbeitsplätzen,
4. Vertiefung des demokratischen Systems durch Wiederherstellung und Erweiterung der Rechte der Arbeitenden sowie auch die Neukonstitutierung des Status des Bürgers gegenüber der staatlichen Verwaltung. (Dieser 4. Punkt wird auf verschiedenen Websites unterschiedlich benannt, die Stoßrichtung ist jedoch klar.)
1. Maßnahmen gegen die humanitäre Krise
Was ist mit „humanitärer Krise“ eigentlich genau gemeint? Massenarbeitslosigkeit, keine Sozialhilfe, Obdachlosigkeit, daraus resultierendes Elend aller Art Flüchtlingsströme, die in Griechenland hängenbleiben und von Behörden und Neonazis drangsalisiert werden, usw. usf. – die Liste ist lang und die Symptome für diesen einigermaßen diffusen Begriff sind mannigfaltig. Vor allem werden keinerlei Ursachen benannt – dabei wäre es doch nötig, die einmal zu erforschen, um wirksam Maßnahmen dagegen ergreifen zu können.
Ein paar Angebote:
Kapitalismus
Geldwirtschaft
EU-Mitgliedschaft
Europäische Einheitswährung
Finanzkrise
Überschuldung
Spardiktat der Troika bzw. der EU bzw. Deutschlands
Je nachdem, was man als Ursache annimmt, ergeben sich nämlich ganz unterschiedliche „Maßnahmen“.
2. Neustart der Realwirtschaft
Diese 3 Worte geben Anlaß zur Interpretation bzw. verlangen danach. Mit „Realwirtschaft“ wird inzwischen derjenige Teil der Wirtschaft verstanden, der brauchbare und greifbare Waren hervorbringt, zum Unterschied von luftigen Finanzspekulationen, mit denen sich windige Banker die Taschen füllen. Der Haupt-Irrtum besteht darin, daß letztere weniger „real“ seien. Im Gegenteil, die Dealer des abstrakten Reichtums, die mit derjenigen Materie Handel treiben, in der alle Güter gemessen werden, dem Geld – sind die wirklichen Herren über Handel und Produktion und von ihnen hängt es ab, ob Fabriken auf- oder zusperren.
Aber auch der „Neustart“ hats in sich. Es tut ja so, als wäre eine nationale Wirtschaft etwas wie ein funktionierendes Räderwerk, in dem alle zusammenarbeiten und bei Schwierigkeiten muß ein Knopf gedrückt werden, das Gerät wird kurz heruntergefahren, und nachher flutscht wieder alles.
Eine Wirtschaft wie diejenige Griechenlands, die unter dem Druck der Konkurrenz auf dem Weltmarkt inzwischen ziemlich wenig produziert, soll also ho-ruck mit irgendwelchen Maßnahmen wieder zu einer florierenden – ja was nur? – Kapitalakkumulation? aufgepäppelt werden? Das würde ja bedeuten, daß man sowohl die Verwertungsinteressen des Finanzkapitals als auch die Konkurrenz des produktiven Kapitals in der EU für nichtig erklärt. Weil diese beiden Faktoren waren es ja, die die griechische Wirtschaft dorthin gebracht haben, wo sie jetzt ist. Als Mittel des ambitiösen Projektes bleibt also nur der gute Wille aller Beteiligten, ohne jede materielle Basis.
3. Ein nationaler Plan zur Neuschaffung von Arbeitsplätzen
Das klingt wie aus einem sozialdemokratischen Wahlkampf der 70-er Jahre. Das Evergreen der „Schaffung von Arbeitsplätzen“ zieht als Slogan ebensosehr, wie es in der Verwirklichung scheitern muß. Im Kapitalismus ist es nämlich das Kapital, das darüber entscheidet, wen es einstellt und wen es entläßt, und nicht der Staat.
Das keynesianische Ideal geht davon aus, daß es dem Staat als dem Schöpfer des nationalen Geldes und Garant des Kreditapparates möglich sei, sich als eine Art Ersatz-Unternehmer zu betätigen und damit Leben in die Akkumulations-Bude zu bringen. Das war schon in den Zeiten der vorigen Weltwirtschaftskrise verkehrt. Das Ende der Krise brachte der Krieg, nicht die konjunkturfördernden Maßnahmen. Dennoch hatte der „New Deal“ und ähnliche, von Keynes in seinem bekanntesten Werk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1936) angeregte Maßnahmen durchaus seine Wirkung, zumindest auf die proletarischen Massen, aber auch auf den Rest der Gesellschaft: Sie nährte die Vorstellung, bei weiser väterlicher Staatsführung ließen sich die gesellschaftlichen Gegensätze harmonisieren, und schließlich käme wieder eine funktionierende Ökonomie zustande. Der Keynes selbst oder Galbraith zugeschriebene Ausspruch, Keynes habe so den Kapitalismus gerettet, ha da durchaus etwas für sich.
Und auch heute scheinen sich diese mit Keynes etwas aufgeputzten Ideale weiterhin zu bewähren, obwohl die Umstände weniger denn je dazu Anlaß geben, ihnen anzuhängen: Inzwischen ist Griechenland in einem Maße überschuldet, wie es in Vor-Euro-Zeiten für einen so beschaffenen Staat gar nicht möglich gewesen wäre, und ist nicht mehr der Herr über seine Kreditschöpfung oder sogar das nationale Budget. Daher soll dann das nationale Konjunkturprogramm gleich direkt aus Brüssel oder von der EZB finanziert werden.
Um so wichtiger der besonders schwammig formulierte Pfeiler 4:
4. Vertiefung des demokratischen Systems durch Wiederherstellung und Erweiterung der Rechte der Arbeitenden
Einerseits soll damit der Status quo ante, also der Zustand vor den durch die Troika erzwungenen Gesetzesänderungen wiederhergestellt werden. Sogar erweitern will Syriza die Arbeiterrechte. Damit ist eines einmal festgelegt: Am prinzipiellen Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit will diese Partei nicht rütteln. Daß die einen für die anderen arbeiten und sich die anderen mittels der von ihnen eingekauften Arbeit bereichern – das ist für Syriza erwünscht und das halten sie auch für eine gute Sache für die Betroffenen. Ebenso wie Punkt 3 ist die Lohnarbeit als Quelle des Einkommens für sie das Um und Auf einer gelungenen Volkswirtschaft. Ihre Kritik bezieht sich darauf, daß es davon viel zu wenig gibt.
Das alles soll aber von viel mehr Mitspracherechten und Basisdemokratie begleitet sein. Auch hier ist wieder ein Ideal über Demokratie und Klassengesellschaft zugegen: letztere soll genau dann gut funktionieren, wenn diejenigen, die durch ihre Arbeit den konkreten und damit auch den abstrakten Reichtum der Nation schaffen, durch Mitspracherechte ihr Einverständnis in diese Zusammenarbeit geben und damit ihr Gelingen ermöglichen.
Das alles kommt aus den Frühzeiten der Arbeiterbewegung und versieht seinen ideologischen Dienst auch heute: die Leute strömen zu den Urnen, machen ihr Kreuzerl und warten, daß irgendetwas Gutes von oben kommt. Wenn nicht, so warten sie auf die nächste Wahl – um sich wieder von jemandem anderen falsche Hoffnungen machen zu lassen – oder auch nicht.
Daß von Syrizas Plänen so wenig übriggeblieben ist, liegt nicht daran, daß sie gelogen haben, Verräter oder sonstwas sind: die Konstruktion des Euro, die Lage Griechenlands und die Vorgaben zur Eurorettung sind das enge Korsett, in dem sich eine griechische Regierung zu bewegen hat, und deshalb wird sich ihre Politik vermutlich nicht sehr von der von derjenigen der Regierung Samaras unterscheiden.
Es fragt sich natürlich auch, wie lange sie sich durchziehen läßt, weil die Schuldenpolitik Griechenlands hängt nicht allein von der dortigen Regierung oder Bevölkerung ab. Neben allem Elend, das in Griechenland herrscht, belastet der griechische Schuldendienst die restlichen Euro-Länder, und damit auch deren Kredit.
Wer wissen will, wie Keynes selbst den Zusammenhang von Kredit und Nachfrage sah, hier ein alter Vortrag.

Ein gängiger Vorwurf der letzten Jahre

WAS IST EIGENTLICH POPULISMUS?

Der Anschuldigung des „Populismus“, der den Politikern von SYRIZA derzeit an den Kopf geworfen wird, traf in der Vergangenheit auch Politiker wie Jörg Haider oder Viktor Orbán. Die einen seien „Links-“, die anderen „Rechts“-Populisten, so zogen sich die Medien aus der Affäre. „Populismus“ ist zu einem Totschlägerargument geworden, ähnlich wie „Verschwörungstheoretiker“– hier weicht jemand von einem gültigen Verhaltenskodex ab, und stellt sich außerhalb der Gemeinschaft der verantwortungsvollen Politiker.

Wikipedia sieht es ähnlich, daß der Inhalt des Vorwurfes recht diffus ist:

„Für den Begriff Populismus (lat.: populus, „Volk“) gibt es keine eindeutige Definition. In der politischen Debatte ist Populismus oder populistisch ein häufiger Vorwurf, den sich Vertreter unterschiedlicher Richtungen gegenseitig machen, wenn sie die Aussagen der Gegenrichtung für populär, aber nachteilig halten.“ (Wikipedia, Populismus)

Nachteilig für wen?

Im allgemeinen wird die Gegenseite beschuldigt, eine Wahlkampfstrategie zu verfolgen, in der dem werten Stimmvieh Dinge versprochen werden, die sie nicht einhalten können.
Das war und ist einerseits eine durchaus übliche und anerkannte Vorgangsweise, die eigene Partei mit Versprechungen an die Macht zu bringen, von denen man dann im Rahmen der gewonnenen „Regierungsverantwortung“ leider leider! Abstand nehmen muß, weil die vorgefundenen „Sachzwänge“ einen daran hindern.

Zunächst beschreibt also „Populismus“ eine ganz normale Vorgangsweise von Einseiferei des Wahlvolkes, das auch zu gegebenen Zeiten durchaus als Mittel der Parteienkonkurrenz anerkannt war.

Inzwischen haben sich allerdings diesbezüglich die Zeiten geändert.

Während lange die EU und die Mitgliedschaft in ihr als Sprungbrett für Frieden, Wohlstand und Völkerverständigung verkauft wurde und diese Art von Versprechungen zumindest geduldet wurden, solange sie verläßliche und stabile Regierungen an die Macht brachten, so hat sich das Blatt inzwischen gründlich gewendet: Die EU ist zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden, die ihren Mitgliedern nichts bieten kann als Blut, Schweiß und Tränen, und das ständige Engerschnallen des Gürtels. Die Ablehnung von „Sozialgeschenken“, mit denen in früheren Zeiten Parteien für sich Werbung machten, wird mit der Berufung auf den „Steuerzahler“ verkauft, dem die Regierenden Verantwortung schulden. Das könnte man zwar auch als „populistisch“ bezeichnen, es wird aber inzwischen als hohe Kunst der Staatsführung gehandhabt und gewürdigt.

Und diese ganze Verzichtslogik, Sparprogramme und „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt!“ paart sich mit einer ziemlichen Perspektivlosigkeit. Es wird zwar manchmal noch so getan, als müsse man nur in die Hände spucken und zusammenhelfen, und dann kommt schon irgendwann einmal der Aufschwung, aber dieses Blabla wird immer weniger, und eigentlich ist schon ziemlich durchgesetzt, daß die Party vorbei ist und in absehbarer Zukunft weder Wachstum noch Wohlstand sich so recht einstellen wollen.

Mit etwas Statistik-Kosmetik werden zwar bescheidene Wachstumsraten gemeldet und vorausgesagt, aber dann meistens im nächsten Jahr vermeldet, daß da doch nix war.

Unter diesen Umständen erweist sich die demokratische Form der Herrschaftsermächtigung zusehends als Hindernis fürs ordentliche Regieren. Die Wahlbeteiligung sinkt, und es kommen entweder keine stabilen Koalitionen zustande, oder einfach die Falschen an die Macht.

Schon bei den letzten Wahlen in Griechenland 2012 wurde bemängelt, daß das System der Demokratie eigentlich reparaturbedürftig sei, wenn so Parteien wie SYRIZA überhaupt um die Gunst des Wahlvolkes buhlen dürfen.

Inzwischen ist der Super-Gau eingetreten, und jetzt können sich die Medien gar nicht einkriegen über den verantwortungslosen „Populismus“ der SYRIZA. Da wurden doch glatt Sachen versprochen, von denen doch klar war, daß die nicht zu machen gehen! Die griechische Regierung hat doch überhaupt keinen Spielraum, sie ist dem Diktat der EU-Rettungsschirme unterstellt! Das hat Griechenland doch unterschrieben, und Vereinbarungen sind einzuhalten!

Nur einige Rückerinnerungen: Die Verträge mit der Troika wurden von Papadimos unterzeichnet, der als Wunschkandidat der EU vom griechischen Parlament ernannt und nicht gewählt wurde – nach dem plötzlichen Rücktritt Papandreus, der diese Vereinbarungen nicht unterschreiben wollte. Tsipras hat bereits 2012 darauf hingewiesen, daß verschiedene dieser Vereinbarungen der europäischen Sozialcharta widersprechen. Die Herabsetzung des gesetzlich festgesetzten Mindestlohnes per Dekret widersprach der griechischen Verfassung.

Es ist also sehr eindeutig, welche Art von Verträgen einzuhalten sind und welche nicht.

SYRIZA hat dabei alles andere als Wahlkampf-Einseiferei betrieben. Die Politiker von SYRIZA sind zu der Auffassung gelangt, daß die Vorgaben der EU Griechenland ruinieren – das Land, die Leute, den Kapitalstandort, die Nation – kurzum alles, worauf sich ein Staatsmann als Mittel und Masse seiner Macht beziehen kann und will. Die Herunterstufung zu einer Bananenrepublik a la Dominikanische Republik oder Ähnliches, mit etwas Tourismus und sonst einem Haufen Elend, wollen sie nicht hinnehmen.

Das wird ihnen als „Populismus“ vorgeworfen, und wer sich diesem Vorwurf anschließt, vermeldet damit, daß er die fortschreitende Verelendung innerhalb der EU für notwendig, unabdingbar und unwiderruflich hält.