Überlegungen zum Coronavirus – 8.: Fazit

LEHREN AUS UND BEOBACHTUNGEN ZU EINEINHALB MONATEN CORONA-PANDEMIE
Nach der Untersuchung aller Ursachen, warum Italien durch das Coronavirus besonders betroffen war – andere hingegen weniger –, ist es angebracht, Bilanz zu ziehen, was man dabei über Italien im besonderen, die EU im allgemeinen und unser Gesellschaftssystem überhaupt lernen kann. Dazu kommen noch andere Erfahrungen, die in den letzten Wochen und Monaten weltweit gemacht wurden.
1. Mobilität
Gefordert ist inzwischen eine uneingeschränkte Mobilität, die alle Gesellschaftsklassen umfasst, von Erntehelfern, die notfalls auch eingeflogen werden, über medizinisches Personal und Pflegekräfte, die täglich oder wöchentlich bedeutende Wegstrecken auf sich nehmen, bis hin zum gehobenen Management, das dauernd rund um den Globus von Betriebsbesichtigungen zu Konferenzen jettet, um in der Konkurrenz bestehen zu können.
Zur beruflichen Mobilität kommt die Freizeit-Mobilität. Ständig mit Verlusten kämpfende Fluggesellschaften unterbieten sich gegenseitig, um ja möglichst viele Urlauber auf sich zu ziehen, die ans Meer, auf Inseln, möglichst weit weg von zu Hause, an besonders exotische Flecken oder in gerade aktuell gehypte Ferienparadiese fliegen wollen. Irgendwo an den nächsten Schotterteich oder eine geruhsame Sommerfrische im nächstgelegenen Erholungsgebiet – das war einmal, ist etwas für notorische Loser oder Mindestrentner.
Diese ganze Mobilität hat hohe gesellschaftliche Kosten, was Energie, Lärm und Umweltverschmutzung angeht. Aber sie stellt inzwischen wichtige Sektoren der Wirtschaft: Flughäfen, Häfen, Kreuzfahrschiffe, Fluglinien, Transportunternehmen, Reisebüros, und die Industrie, die diese Flugzeuge, Schiffe und Nutzfahrzeuge herstellt.
Es wird sich herausstellen, wie weit und wie lange sich dieses Herumschieben von Arbeitskräften in CV- und Nach-CV-Zeiten fortsetzen läßt. Erntehelfer einzufliegen kommt auf die Dauer teuer, und läßt vielleicht wieder manche Lebensmittel vom Speiszettel der Normalsterblichen verschwinden. Die Lockdowns haben gezeigt, wieviel Reisetätigkeit sich durch Videokonferenzen und Chats vermeiden und die Betriebsführung dadurch verbilligen läßt. Und der Urlaub und die Zweitwohnsitze am Meer – die Zeit wird weisen, wer sich dergleichen Luxusbedürfnisse überhaupt noch leisten kann.
Alle Sektoren der Mobilitäts-Industrie sehen einer Schrumpfung entgegen, vor allem der Flugverkehr. Damit geht Zahlungsfähigkeit verloren, und die wird sich wiederum in geringerem Berufs- und Urlaubsverkehr niederschlagen, usw. usf.
2. Auslagerung von Produktion
Die Chinesen von Prato, die verlorengegangene Produktion in abgewandelter Form nach Italien zurückbrachten, stellen die Ausnahme dar. Auch italienische Firmen haben, wie viele andere auch, Produktion in ehemals sozialistische EU-Staaten und nach Fernost, vor allem China verlagert.
Sie taten das, genauso wie die Betriebe in anderen Staaten der EU, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Da machen die niedrigeren Lohnkosten und geringeren Umweltauflagen die höheren Transportwege wett, und man hat dann eben, wenn eine Pandemie ausbricht, keine Schutzausrüstung, weil die Masken, Anzüge, Handschuhe usw. bereits seit einiger Zeit von der anderen Seite der Erdhalbkugel geliefert werden. (Oder, im konkreten Fall, nicht geliefert werden, weil dort auch alles stillsteht.)
Der Bundesnachrichtendienst hat die deutsche Regierung gerügt, wie sie das denn hätte zulassen können, so wichtige Dinge im Ausland herstellen zu lassen?
Solche Gesichtspunkte waren aber der deutschen wie der restlichen europäischen Politik in den letzten Jahrzehnten völlig fremd. Das ist auch interessant angesichts der Tatsache, daß wegen CV ein Riesen-NATO-Manöver an der Ostfront der EU abgeblasen wurde. Säbelrasseln gegen Rußland – ja immer! Aber für den Kriegsfall medizinische Ausrüstung zu lagern – nein, an so etwas wurde nirgends gedacht, in keinem NATO-Staat.
(Man merkt daran, wie wenig die NATO-Staaten und ihre Medien an die von ihnen selbst verbreitete Propaganda über die Aggressivität Rußlands glauben – sie sind offensichtlich ganz sicher, daß die Russen tatsächlich nie in die EU einmarschieren werden.)
Wenn immer mehr und mehr Produktion nach Fernost verlagert wird, wie kommt dann eigentlich das vielbeschworene Wachstum zustande? Woher die Sicherheit, daß die Produktion dort erfolgt, der Profit dazu aber hier anfällt?
In Zeiten wie jetzt, wo nicht nur der Personentransport, sondern auch der Warentransport stockt, stellt sich diese Frage mit besonderer Deutlichkeit. Wenn der Salto mortale der Ware, ihr Verkauf, ganz woanders stattfindet als dort, wo sie hergestellt wird, so hat das unter anderem das Risiko, daß mit dem Transport etwas nicht hinhaut. Das zweite Risiko ist, daß die Zahlungsfähigkeit auf dem anvisierten Markt flöten geht. Das ist etwas, was sich in der ganzen EU, und besonders in Italien abzeichnet. Die Coronavirus-Krise in Europa könnte gut zu einer Absatzkrise in China führen. Und erst recht zu einer Pleitewelle derjenigen europäischen Betriebe, die bisher ihr Geschäft mit Ware Made in China gemacht haben.
In manchen Staaten werden Überlegungen laut, bestimmte Produktionen wieder zurück ins eigene Hoheitsgebiet zu holen. Da ist wieder die Frage: Wie? – immerhin handelt es sich ja um die Freiheit des Eigentums und die Akkumulationsfähigkeit des heimischen Kapitals, die die Verlagerung nach China veranlaßt haben.
3. Spektakel, Unterhaltungsindustrie
Die Unterhaltungsindustrie bewegt ziemliche Kapitalien, und sie bewegt sich immer mehr in Richtung Spektakel: Großveranstaltungen aus Sport, Kultur, Musik und sonstige Events aller Art bescheren den Veranstaltern hohe Einnahmen, die allerdings durch immer höhere Sicherheits-, Logistik- und Werbeausgaben, Gagen, Versicherungskosten und weiteres geschmälert werden. Deswegen bemühen sich die Akteure dieser Spektakel, noch mehr Menschen anzuziehen, denen sie das Live-Erlebnis verschaffen, und zusätzlich durch Fernseh- und Internet weitere Einnahmen zu lukrieren: Größer, lauter, bunter, mehr, höher – in diesen Superlativen versuchen sich Unternehmen aus Kulturindustrie und Sport über Wasser zu halten.
Interessant ist auch die andere Seite: Warum lassen sich so viele Leute in diesen Strudel hineinziehen, oder: Was macht die Attraktivität dieser Großveranstaltungen aus?
Es muß etwas Ähnliches sein, was in sozialistischen Staaten früher die Massen für Paraden und andere Demonstrationen der Einheit zwischen Staat und Volk auf die Straße gebracht hat: Das Gefühl, wo dazuzugehören, mit vielen Gleichgesinnten an etwas teilzuhaben, der Isolation zu entkommen. In der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ist dieses Gefühl der Einheit um so wichtiger, weil es in Kontrast zu den täglichen Erfahrungen steht, wo man ständig untergebuttert und an seine Macht- und Bedeutungslosigkeit erinnert wird.
Außerdem übertönt dieses Laute und Grelle der Spektakel die Töne, die sich im Inneren der Menschen immer wieder melden: Kann ich meine Miete weiter zahlen? Liebt mich mein Partner noch? Verläßt er/sie mich womöglich bald? (Das hat durchaus auch was mit der Miete zu tun, weil allein ist die dann gar nicht mehr zu stemmen.) Habe ich meinen Job nächstes Jahr/ nächsten Monat noch? usw.
Existenzielle Ängste, was ist das?! Heute jubeln wir, feiern wir, saufen uns zu, erfreuen uns am Sieg unserer Mannschaft oder dem Konzert unseres Lieblings-Schlagersängers.
All diese Veranstaltungen sind auf der einen Seite im System von „Brot und Spiele“ wichtig für das Funktionieren der Klassengesellschaft, aber sie stellen auf der anderen Seite eine Art Zusatzveranstaltung dar, bedienen wie Alkohol und Drogen das Luxusbedürfnis des Sich Zu- oder Wegtörnens und müssen aus irgendeiner Art von Surplus-Produktion finanziert werden.
Heute sind diese Veranstaltungen alle gestoppt wegen Ansteckung, aber sie werden in Zukunft überhaupt sehr heruntergefahren werden, weil auch hier der lange Stillstand auf den Umstand hingewiesen hat, wie überflüssig sie eigentlich sind, und daß die Veranstalter nie mehr mit den Besucherzahlen wie bisher rechnen können.
4. Die gesellschaftliche Reproduktion
Jede Gesellschaft, ob Stämme im Urwald, mittelalterliche Fürstentümer, kapitalistische oder sozialistische Wirtschaft läßt sich im ökonomischen auf die 3 Haupt-Gebiete reduzieren: Produktion-Distribution – Konsum.
Unsere heutige Gesellschaft, der moderne Kapitalismus, die globalisierte Marktwirtschaft, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß an einem Ende der Welt produziert wird, was am anderen konsumiert wird. Die Distribution, vermittelt über Transport, Logistik, Lagerung, nicht zu vergessen Wechselkurse und Zahlungsverkehr, macht einen im Vergleich zu anderen Gesellschaften unverhältnismäßig großen Teil der gesellschaftlichen Tätigkeit aus. Das gilt nur für den Fall, wenn man die ganze menschliche Gesellschaft betrachtet.
Nimmt man aber kleinere Einheiten, also einzelne Staaten, so stellt sich ihre Lage so dar, daß die Bewohner von vielen von ihnen fast nichts mehr produzieren, was sie oder andere brauchen. Ihre Mitglieder können ihren Lebensunterhalt nur bestreiten und ihren Konsum nur vollziehen, indem sie sich entweder als Transitland oder auf andere Art Dienstleister für die Distribution nützlich machen, oder bei der weltweiten Freizeitindustrie mitmachen.
Letztere – also Tourismus aller Art – stellt wirklich eine Besonderheit unserer Gesellschaft dar, und sie gehört damit in die Sphäre der Luxusbedürfnisse – also derjenigen Bedürfnisse, die entbehrlich sind, wenn Not herrscht und man jeden Groschen umdrehen, oder jeden Grashalm verwerten muß.
Nach monatelangen Shutdowns mit allen Nebenerscheinungen stellt sich heraus, daß diejenigen Staaten, die produzieren, weitaus besser aufgestellt sind als andere, denen ein guter Teil ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlage abhanden kommen könnte.

5. Messegelände

In der Coronakrise wurden überall hektisch Messehallen zu Notfallkrankenhäusern umgebaut. Es stellt sich heraus, daß fast jede größere Stadt über so etwas verfügt.
Man muß sich das bewußt machen: In Zeiten steigender Obdachlosigkeit, wo immer mehr Menschen unter Brücken, in Tunnels und in Notquartieren hausen, stehen große Objekte herum, die den größten Teil des Jahres leerstehen. Nur wenige Städte schaffen es, einen halbwegs durchgehenden Messebetrieb auf die Beine zu stellen. Bei den anderen bleibt der Wunsch der Vater des Gedankens. Diese Hallen, Zufahrten, Parkplätze und Parkhäuser wurden erstens gebaut und müssen zweitens gewartet werden – mit welchem Geld, so fragt man sich? – während gleichzeitig für Kindergärten, Pensionen oder Sozialhilfe immer zu wenig da ist.
Sie sind Denkmäler dessen, daß in unserer Gesellschaft absurde Ausgaben getätigt werden, während die wirklichen und breite Bevölkerungsschichten betreffenden Bedürfnisse nur sehr bedingt zählen und bedient werden.

6. Medizin im Kapitalismus

Zur Medizin und dem Gesundheitswesen haben wir viel gelernt: Erstens, und das ist wirklich bemerkenswert, daß Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Handschuhe offenbar in ganz Europa als höchst überflüssige Anschaffung betrachtet wurden, bevor das Coronavirus auftauchte. Einfache Hygiene-Artikel waren nirgends lagernd, werden in Europa kaum mehr hergestellt und es galt als höchst wirtschaftlich und schlau, sie vom anderen Ende des Globus zu beziehen.
Generell wurde in den letzten Jahres vieles, was Kranke brauchen, um gesund zu werden, als hinausgeschmissenes Geld betrachtet. Krankenhausbetten, die für den Fall zur Verfügung stehen, daß Menschen krank werden und deswegen dort hineingelegt werden müssen, wurden von Rechnungshöfen und sonstigen, teilweise privaten Evaluierern als eine Art Hotelbetten betrachtet, die so und so viel Tage im Jahr ausgelastet sein müssen.
Durch das Internet und auch die offiziellen Medien geistern Expertenmeinungen, die feststellen, man soll doch ruhig ein paar Leute sterben lassen, das sei normal, man könne nicht alle retten, und die Gesunden kommen schon durch. Diese Leute treten auch mit onkelhafter Gestik, als Fachleute zur Vermeidung von Panik auf, sie sind gütige Beruhiger, macht euch doch keine Sorgen, euch erwischt es eh nicht, sondern die anderen!
Besonders befeuert werden sie von schwedischen Gesundheitspolitikern, die stolz auf ihre Bevölkerung verweisen, die das Coronavirus besser überstanden hat als diejenige anderer Länder. Eine gesunde Nation, sapperlot!
Man fragt sich angesichts dieser Meldungen, warum wir eigentlich überhaupt Krankenhäuser und Ärzte haben? Im Grunde wird durch diese Sichtweise das gesamte medizinische Wissen entwertet, und die Heilkunst zu einer Art gesellschaftlicher Überempfindlichkeit stilisiert, wenn sie Kranke gesund machen oder vor dem Sterben bewahren will.
Diese Auffassung existierte sicher bereits vor dem Auftreten des Coronavirus, aber sie ist zweifelsohne populärer geworden bei Teilen der Bevölkerung, die nicht erkrankt sind und deren Einkommen durch die seuchenpolitischen Maßnahmen gefährdet ist.
Eine Art von Unterscheidung tritt auf, ein bekennendes Fordern nach Selektion, das nicht mehr (nur) zwischen Inländern und Ausländern, sondern zwischen Gesunden und Kranken eine Grenze zieht. Das „Wir“ der Braven und Fleißigen, die nicht rauchen, keinen Ballermann machen und sich um ihre Gesundheit kümmern, bläst ins Jagdhorn gegen die Alten, Schwachen, Drogensüchtigen usw. usf., die eigentlich als unnötiger Ballast bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgeschüttelt werden sollten.
7. Umwelt
Daß die Umwelt in einem schlechten Zustand ist und der Klimawandel zu einem guten Teil hausgemacht ist, war vor der Coronakrise das Thema Nr. 1, es gab FFF-Demos und viele Verantwortliche runzelten die Stirn, wie man denn den CO2-Ausstoß verringern und den Planeten retten könnte. Man dachte an die Natur, die Landwirtschaft, die Naturkatastrophen, Dürre und Waldbrände, die Grundlagen der Ernährung, also sehr allumfassende und auf die Natur bezogene Besorgnisse und Maßnahmen.
Aber inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Bedingungen, unter denen viele Menschen leben, die Brutstätte von Krankheiten sind, und nicht nur in Hinterindien, wo es kein sauberes Wasser gibt, sondern in den Metropolen industrialisierter Staaten, in der Lombardei und in New York. Der Smog, beengte Wohnverhältnisse, veraltete Infrastruktur und eine moderne Armutsmedizin, die die Menschen mit Antibiotika, Tranquilizern und Schmerzmitteln ruhigstellt, haben sich als die wirklichen Krankmacher herausgestellt, die das Virus nur für alle sichtbar gemacht hat.
Die ganze Umwelt-Debatte ist ein wenig aus der Atmosphäre, den Ozeanen, Urwäldern und Wüsten, dem Geschrei um gefährdete Tierarten, Pflanzen und Inseln in den Alltag des Hier und Jetzt zurückgekehrt: Worum geht es eigentlich beim Thema „Umwelt“? – um die Menschheit, die Zukunft, das Klima? – oder vielleicht zunächst einmal darum, wie in den Metropolen des Kapitals gelebt und gestorben wird?

8. Energie

Sehr betroffen von der Corona-Krise ist die Energiewirtschaft: Die eingeschränkte Mobilität und das Ruhen vieler wirtschaftlicher Tätigkeit läßt den Ölpreis abstürzen, wird aber auch viele Anbieter erneuerbare Energie in Schwierigkeiten bringen, weil auch sie mit der sinkenden Nachfrage und höheren Herstellungskosten zu kämpfen haben.
Wie die Fracking-Industrie und die darauf aufbauende Weltpapierspekulation aus diesem Wellental herauskommen und der Streit um North Stream und Ukraine-Gastransit weitergehen wird, ist unklar.
Das
9. Wachstum
wird jedenfalls in nächster Zeit nicht mehr so richtig flutschen.
Vielleicht kommt jetzt nach Null- und Negativzinsen das Null- und Negativ-Wachstum und die Prognosen werden sich darin überbieten, geringeren oder höheren BIP-Rückgang zu prophezeien.
Was das für die aufgehäuften Schuldenberge bedeutet, muß sich auch erst herausstellen.

Überlegungen zum Coronavirus – 5.: Eine Messe als Europas Virenverteiler?

WARUM ITALIEN? – TEIL 5
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
Ob es wirklich eine Messe in Mailand war, die sich ähnlich dem Tiermarkt in Wuhan als besonderer Springbrunnen für Infektionen erwiesen hat, soll hier näher untersucht werden.

1. Was ist eigentlich eine Messe?

Das Abhalten von Messen hat sich mit der Einrichtung der EU seit den 90-er Jahren sehr weit verbreitet. Abgesehen von den traditionellen Messestädten versuchen viele Städte, sich neu als Messestädte zu positionieren – mit wechselndem Erfolg. Die bereits etablierten Messestädte wiederum versuchen ihr Spektrum auszuweiten, um ihren bereits vorhandenen Grundstock als Messezentrum auszubauen.
Seit ungefähr 2 Jahrzehnten ist eine richtige Messe-Konkurrenz losgegangen, innerhalb derer sich die Veranstalter und Aussteller gegenseitig in Preis- und Lohndumping unterbieten.
Die Messen reihen sich damit in die Reihe der Großveranstaltungen ein, ähnlich wie kulturelle Spektakel, Wanderausstellungen und MEGA-Konzerte, Freilichtbühnen, Sport-Events usw., wo versucht wird, über die möglichst große Zahl der anreisenden Besucher die Gastronomie und die Geschäfte für Souvenirs, Kleidung, und lokale Produzenten mit zusätzlichen Einnahmen zu versorgen. Nach diesen Großveranstaltungen aller Art werden regelmäßig entweder Besucherrekorde gemeldet, oder mit bangen Mienen nach Faktoren gesucht, warum der Rekord des Vorjahres oder der vorigen Fußball-WM nicht erreicht wurde.
Solche Events sind natürlich geeignet, genauso wie der Karneval in Venedig, eine Art Drehscheibe für Ansteckungen zu werden.
Ursprünglich entstanden die Messen aus Märkten, die sich auf bestimmte Produkte spezialisierten. Damit sollte die regionale Produktion angekurbelt werden, indem Kaufleute von woanders angezogen wurden, die diese speziellen Waren dann quer durch die Lande vertrieben. Messen waren also immer schon eine Art großes Schaufenster, in dem regionale Spezialitäten für internationale Kundschaft dargeboten wurden. (So geht z.B. die Frankfurter Buchmesse auf die Erfindung des Buchdrucks im nahegelegenen Mainz zurück, die Frankfurt mitsamt seinen Märkten zu einem Zentrum für Druckereiprodukte werden ließ.)
Weil der Markt möglichst viele Leute anziehen sollte, wurde er mit einem religiösen Festtag verbunden, einem Schutzheiligen unterstellt und somit Gott und der Mammon vereint – daher stammt auch der Name „Messe“, der dem Schacher den Segen Gottes verlieh.
Eine weitere Attraktivität der Messe war, daß die Landesfürsten sich zu ihren Schutzherren machten und die anreisenden Kaufleute für diesen Anlaß von den Abgaben und Zöllen befreiten, die ansonsten bei Marktplätzen gebräuchlich waren. Die örtliche Kaufmannschaft erstattete ihnen diesen Verdienstentgang nach Ablauf der Messe überreichlich zurück und war deshalb zusätzlich interessiert, möglichst viel Publikum anzuziehen, um bei dieser Gelegenheit die eigene Schatulle kräftig zu füllen und sich auch noch beim Landesfürsten Liebkind zu machen.

2. Messestadt Mailand

Die Hauptstadt der Lombardei und das wirtschaftliche Herz Italiens verdankt seine Entwicklung seiner Lage als Knotenpunkt der Handelsstraßen – von Nord nach Süd, und auch von Ost nach West. Nach der Einigung Italiens bildete sie den Gegenpol zu Rom, was auch von der damaligen Staatsführung gefördert wurde. Wirtschaftlich hat Mailand Rom schon lange überholt – nach Wirtschaftsleistung, und nach Einwohnerzahl des Großraums. Nur an Besuchern liegt es noch hinter Rom:
„In der Rangliste der meistbesuchten Städte der Welt im Jahr 2018 belegt Mailand den fünften Platz in Europa für die Anzahl der internationalen Touristen. Laut Mastercards Global Destination Cities-Ranking in Bezug auf die Anwesenheit von Touristen und Arbeitern liegt Mailand mit rund 9,1 Millionen als 16. meistbesuchte Stadt der Welt, 5. in Europa und 2. in Italien nach Rom.“ (Wikipedia, Milano)
Mailand ist Sitz der italienischen Börse und konzentriert verschiedene Industriezweige: Neben Mode aller Art ist es auch das italienische Zentrum der Medien und des Verlagswesens.
Als Messestadt präsentiert sie die gesamte Wirtschaft Italiens:
„Die Mailänder Messe organisiert, veranstaltet und verwaltet seit 1920 internationale Veranstaltungen in ihren Pavillons und weltweit.“ (Fiera Milano – Die Geschäfts-Plattform des „Made in Italy“)
In den 90-er Jahren etablierte sie sich als Messe für Branchen und erweiterte sowohl ihr Spektrum als auch ihr Gelände. Seit 2002 notiert sie an der Mailänder Börse. 2005 bezog sie ein neues Gelände nordwestlich des Zentrums, im Vorort Rho. (Heute wurde dort, wie in anderen Messehallen in Europa, ein Lazarett für Coronyvirus-Patienten eingerichtet.)
2008 schloß sie ein Kooperationsabkommen mit der Hannoveraner Messe, um sich gemeinsam mit Hannover im Ausland betätigen und ihre jeweiligen nationalen Wirtschaftszweige präsentieren zu können, und 2015 organisierte sie die Weltausstellung „Expo 2015“ zum Thema Ernährung, eine 6 Monate dauernde Veranstaltung, die mehr als 22 Millionen Besucher anzog.
Diese fieberhafte Aktivität ist ein Ergebnis der EU-Gründung. Seither gibt es einen Wettlauf der Mitgliedsstaaten, ihre Wirtschaft zu präsentieren und international gut zu plazieren. Viele Hauptstädte oder Metropolen bauten Messegelände aus und versuchen sich als Messezentren zu etablieren. Hier gibt es auch eine Rivalität zwischen alten und neuen Messestädten.
Mailand versucht dabei, die Nase vorne zu behalten und sowohl nach Umfang als auch nach Frequenz andere Messezentren hinter sich zu lassen.

3. Die Einrichtungs-Messe

„Die HOMI Milano ist eine internationale Fachmesse für Inneneinrichtung und gehobene Wohnkultur, die halbjährlich in der Messe von Mailand in Rho stattfindet. Sie richtet sich ausschließlich an Fachbesucher.“
Sie findet 2x jährlich, im Januar und im September statt und dauert jeweils 4 Tage. Im Januar 2017 wurden 85.000 Besucher gezählt, davon 20 % aus dem Ausland. In diesem Jahr fand sie vom 22. bis 25. 1. statt.
Wenn man bedenkt, daß ein Sektentreffen mit 2500 Mitgliedern im Elsass oder Schiorte in Tirol sich inzwischen als Zentren der Verbreitung des Virus herausgestellt haben, so kann eine solche Messe natürlich auch dazu beigetragen haben.
Allerdings fand sie bereits im Jänner statt, während die ersten Coronavirus-Todesfälle einen Monat später registriert wurden. Und die fanden nicht in Mailand statt, sondern in anderen Teilen der Lombardei, im Veneto und in der Emilia-Romagna.
Es finden sich auch im Internet keine Hinweise darauf, daß die Messestände mit Hilfe von chinesischen Arbeitern aufgebaut wurden. Möglich ist es natürlich – die Kooperation der Mailänder Messe mit Hannover erstreckt sich auch auf gemeinsame Projekte in China.
Und schließlich ist die Messe-Logistik eine sehr spezialisierte und relativ junge und dynamische ökonomische Aktivität, deren Akteure sich ungern in die Karten schauen lassen.
Die Mailänder Messe könnte also ein ein Faktor für die Verbreitung des Virus gewesen sein, Beweise dafür gibt es keine.
Fortsetzung folgt: Italiens Gesundheitswesen

Überlegungen zum Coronavirus – 3.: Die Serenissima

WARUM ITALIEN? – TEIL 3
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut.
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander

3. Venedig

a) Eine besondere Stadt
Seiner Rolle als Seehandelsmetropole verdankt Venedig sowohl seine Anlage überhaupt, auf den Inseln der Lagune – der Lido war ein Schutz gegen Überfälle, und die Lagune bot genug Anlegeplätze für Schiffe aller Größen – als seine besondere Architektur, mit der sich die Kaufleute von Venedig ein persönliches Denkmal setzten. Dieses Ensemble macht es schon lange zu einem Ziel für Kunst- und Kulturbeflissene, als Konsumenten oder Produzenten derselben.
Die Bedeutung als Handelsplatz verlor es jedoch im 18. Jahrhundert, weil sich die Handelswege änderten und andere Handelszentren Venedig verdrängten. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß in den fast 2 Jahrhunderten der Stagnation die Bausubstanz erhalten blieb und nicht modernen Zweckbauten Platz machen mußte.
Nach der Einigung Italiens, Ende des 19. Jahrhunderts machten sich einige venezianische Lokalpolitiker und finanzkräftige Unternehmer und Bankiers daran, diese etwas verschlafene Ecke Italiens aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken und an vergangene Größe anzuknüpfen. Damals wurde die Biennale ins Leben gerufen, als Kunstmesse. Es folgten Investitionen in Infrastruktur – Elektrifizierung und Straßenbau und schließlich der Ausbau der Industrie in Orten auf dem Festland.
Während die Bausubstanz der Inseln erhalten bleiben und dem Geschäft mit der Kultur und dem Tourismus dienen sollte, wurde Marghera und Umgebung ausgebaut und im Laufe der Jahrzehnte zu einem wichtigen Industriezentrum und Hafen vergrößert.
An dieser Zweiteilung entwickelte sich Venedig eigentlich das ganze 20. Jahrhundert entlang. Die Biennale entwickelte sich zur wichtigsten Kunst- und Architekturmesse Europas. In den 30-er Jahren kam noch das Filmfestival dazu, im Rahmen der entstehenden italienischen Filmindustrie. Produziert wurde in den Studios in Rom, gezeigt in Venedig.

b) Tourismus
Die Art von kulturbeflissenen Touristen aus dem In- und Ausland, die Venedig anzog, fügten sich gut ins Bild und diese Leute waren auch zahlungskräftig. Luxushotels wurden gebaut, es wurde ein mondäner Treffpunkt des Adels und der Kunstszene.
Mit der Zeit und der Entwicklung des Tourismus zu einem breiter gestreuten Vergnügen wurde Venedig zu einem Ort, den jeder einmal gesehen haben mußte, und sei es auch nur für einen Kurzausflug von billigeren Urlaubsorten der nördlichen Adria.
Die Situation änderte sich graduell mit dem Niedergang der italienischen Industrie und des Hafens von Marghera. Auf einmal wurde der Tourismus zu einem Rettungsanker für ein in die Jahre gekommenes und von den neueren Technologien überflüssig gemachtes Entwicklungsmodell. Die ganzen Ortschaften an der Lagune leben inzwischen direkt oder indirekt von den Menschenmassen, die Venedig zu allen Jahreszeiten be- bzw. heimsuchen.
Der Tourismus in Venedig hat heute etwas von einem Tanz auf dem Vulkan. Während die Altstadt langsam versinkt – die Fundamente geben nach und der Meeresspiegel steigt – und die Stadtverwaltung kein Geld hat für nötige Renovierungen, und sich sogar die Fertigstellung des umstrittenen Schleusenprojekts immer wieder verzögert, ist in der Stadt ständig das Geratter der Rollkoffer zu hören. Züge, Vaporettos und Kreuzfahrschiffe speien in einem fort Touristen aus, die dann in AirB&Bs, Hotels und Alberghi rattern, über den Markusplatz flanieren und in Gondeln steigen. Venedig hat sich in eine Art Kulisse verwandelt, deren noch arbeitsfähige Bewohner die ständig wechselnden Schauspieler verschiedener Wichtigkeit bedienen und ansonsten ihr Leben in überteuerten und feuchten Absteigen fristen oder täglich von Quartieren am Festland in die Altstadt pendeln.
Dazu kommen riesige Kreuzschiffe, die Venedig als ein Muß in ihrem Programm führen und sich wie Elefanten an der Tränke an die Altstadt schmiegen, die Kais der Stadt und den Untergrund der Lagune ruinieren und durch ihre Größe, Gestalt und Nähe einen völlig absurden Kontrast zu den verzierten Palästen des 15 und 16. Jahrhunderts darstellen, wie Walfische neben einer Puppenstadt.
Auf den Kreuzfahrtourismus will aber Venedig auf keinen Fall verzichten.
Erstens war einst viel italienisches Kapital in der Kreuzfahrbranche tätig, die inzwischen zwar von internationalen Konkurrenten aufgekauft wurde, aber dennoch weiter an dem Kuchen mitnascht. Mit dem Unfall der Costa Concordia 2012 ist diese Branche zwar ein wenig ins Zwielicht geraten, aber die Delle bei den Reservierungen war von kurzer Dauer. Kreuzfahrten sind beliebt wie eh und je. Sie bieten nämlich auch Leuten eher bescheidenen Einkommens das Gefühl von wahrem Luxus.
Zweitens hängen an dieser Laufkundschaft Imbißstuben, Konditoreien, Souvenirgeschäfte und dergleichen in Venedig selbst, deren Betreiber aufgrund geringer Gewinnspannen auf große Umsätze angewiesen sind.
Drittens schließlich ist einer der wenigen Betriebe von Marghera, der noch funktioniert, die Fincantieri-Werft, die auf den Bau von Kreuzfahrschiffen spezialisiert ist. Das ginge nicht: Einerseits diese Riesendinger herstellen – die Werft von Marghera ist eine der weltweit bedeutendsten für diese Art von Schiffen – und gleichzeitig die Einfahrt beschränken.
Um ja keine Möglichkeit von Zusatzeinnahmen einzubüßen, bemüht sich Venedigs Verwaltung auch ständig um Events aller Art, auch um das Biennale-Gelände möglichst auszulasten.
Einer dieser Events ist der Karneval.

c) Fasching
Die ausgelassene Zeit zwischen Weihnachten und der Fastenzeit ist ein europäisches Phänomen, das anderen Kulturen fremd ist. Auch in die Neue Welt kam es erst mit den Kolonisatoren.
Erstens sollen damit lange Winternächte und Finsternis überwunden werden. Das ist jener Teil des Faschings oder der Saturnalien, der sich auf die Natur bezieht. Die Feldarbeit ruht, der Geist ist müßig, man kommt da auf viele dumme Gedanken. Das Beste ist, sich durch ausgiebiges Feiern, Rausch und Ähnliches ins Frühjahr durchzuhangeln.

Zweitens aber stellt er eine Reparaturmethode für brüchige Klassengesellschaften dar. Herr und Knecht, Patrizier und Bettler, Kaufmann und Fischer, König und Page begegnen sich auf gleicher Stufe und verbrüdern sich, wenn auch nur für einen Tag oder eine Nacht. Dieser Aufhebung der Standesunterschiede und Außer-Kraft-Setzen von Geboten dient auch die Verkleidung. Viele bedeutungslose Personen werden zu weisen Hofnarren, Mönche und Nonnen verlassen die Mauern ihrer Klöster und vergnügen sich in anderen Örtlichkeiten, Reiche lassen andere an ihrem Reichtum teilhaben, und wichtige Personen des öffentlichen Lebens mischen sich wie Harun Al-Raschid unters Volk, um einmal die Bürde ihrer Verantwortung los zu sein und dem Volk aufs Maul zu schauen.
Der russische Denker Michail Bachtin sah den Karneval als ein Fenster der Freiheit, wo die Strenge der christlichen und bürgerlichen Normen ein Stück weit aufgehoben wird, um die Unfreiheit und das Gesetz des übrigen Jahres zu ertragen.

Eine weitere Dimension erhält der Karneval heute in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft, wo die Heuchelei und das Vorspiegeln falscher Tatsachen vielen Menschen selbstverständlich geworden sind. Die Überschätzung der eigenen Bedeutung und der Wunsch nach Anerkennung werden im Fasching ein Stück weit befriedigt. Mit Kostümen und Masken verläßt man die Enge des gewöhnlichen Ich und genießt sich in einer anderen, selbstgewählten Rolle. Narrenkönige und gewöhnliche Narren verwandeln sich in Politikberater, die es den Mächtigen so richtig reinsagen, während sie ansonsten nur den Stammtisch mit ihren Weisheiten beglücken können. Die durch den Kakao gezogenen Politiker machen gute Miene zum bösen Spiel und lachen mit – im Bewußtsein, daß genau diese Art von plumpen Scherzen sie in ihrer Stellung bestätigt.

Der Karneval in Venedig diente jahrhundertelang auch der Zurschaustellung des Reichtums der Serenissima. Mit Samt und Seide wurden aufwendige Kostüme geschneidert, um aller Welt zu zeigen, wie die Handelsstadt zu feiern versteht.
Während der Zeit der Stagnation nach dem Frieden von Passarowitz und unter der österreichischen Herrschaft schlief diese Tradition ein. Venedig hatte weder Grund noch Geld, ausgiebig zu feiern. Und sogar im 20. Jahrhundert besann sich lange niemand auf dieses römisch-italienische Erbe.
Die Wiederentdeckung des Karnevals mit Fellinis „Casanova“ Ende der 70-er Jahre war eine Mischung aus Zufall und Berechnung. Fellini hatte vermutlich nicht die Absicht, eine Tourismusattraktion herzustellen, als er sich für diesen Film der venezianischen Tradition bediente. Aber für Künstler, Lokalpolitiker und Tourismusunternehmen in Venedig war der Anlaß gegeben, ihre Stadt um einen Anziehungspunkt reicher zu machen.

Der venezianische Karneval ist heute eine Art große Show, für die viel Geld locker gemacht wird und wo sich Unterhaltungsbedürfnis mit Bildungsbürgertum paart. Eine Art Mißwahl, Preise für die besten Kostüme, ein akrobatischer Akt vom Markusturm und andere scharfe Vergnügungen können immer mit dem Bewußtsein genossen werden, daß man dabei auf Tradition und Stil Wert legt. Ballermann in Mallorca oder sonstwo ist für Proleten – der Mensch mit gehobenen Bedürfnissen geht nach Venedig zum Karneval, läßt ordentlich was springen und schwelgt dann daheim in seinen Erinnerungen bzw. stellt seine Fotos aufs Facebook.

Ein paar Zahlen:
„So konnten am Sonntag nicht mehr als 23.000 Besucher gleichzeitig Zugang zum wichtigsten Platz der Stadt haben, berichteten lokale Medien. …
Täglich tummeln sich bis zu 100.000 Besucher in Venedig, während der Faschingszeit sind es sogar 130.000. Der Karneval zählt mit seinen Maskenbällen, Gondel-Paraden und Feuerwerken zu den wichtigsten Festen von Venedig. 40.000 Menschen leben in der Lagunenstadt nur vom Tourismus.“
(Salzburger Nachrichten, 24.2. 2019)

Für dieses Jahr wurden offenbar keine Besucherzahlen ermittelt, weil der Virus dazwischengekommen ist. Es waren aber wahrscheinlich eher mehr als weniger.

Wikipedia gibt die Einwohnerzahl Venedigs mit 259.809 Personen an. Das bezieht sich auf Groß-Venedig, also auch Mestre, Marghera und andere Ortschaften auf dem Festland, die zur Gemeinde Venedig gehören. Die eigentliche Altstadt auf den Inseln zählt jedoch nur 54.000 Einwohner – nur damit man die 23.000 Leute auf dem Markusplatz und die 100.000 „Normal“-Besucher in ein Verhältnis setzen kann. Zu der Masse muß man noch die Fluktuation berücksichtigen – diese Menschenmengen befinden sich in einem beständigen Kommen und Gehen mit allen zur Verfügung stehenden Transportmitteln.
Das bunte Treiben in Venedig hat also sicher zu der Verbreitung des Coronavirus beigetragen – nicht nur für Italien, sondern für die ganze Welt, die dort, wie man sieht, in nicht geringer Menge aus und ein geht. Der Faschingsdienstag fiel auf den 25. Februar. Zu diesem Zeitpunkt war der Coronavirus in Italien zwar schon aufgetreten, aber niemand hatte eine Vorstellung vom Ernst der Lage. Außerdem wäre es sowieso unmöglich gewesen, dieses Spektakel von einem Tag auf den anderen zu stoppen.
„Die Bevölkerung der Stadt hat seit Jahren eine negative Bilanz (-6,4 ‰ im Jahr 2018), die viel stärker ist als im Großraum Venedig (-4,2 ‰) und der Region Veneto (-2,8 ‰). Auch im Vergleich zu den anderen italienischen Großstädten gehört Venedig zu denjenigen, die am stärksten vom Phänomen des Alterns betroffen sind, nur noch hinter Genua.“ (ebd.)

Fortsetzung: Die überalterte Gesellschaft, oder: „De oidn Leit“