Rückkehr zur Normalität?

ÜBER DIE GUTE ALTE ZEIT
Allerorten hoffen die Gewerbetreibenden auf die werten Konsumenten. Tourismusbetriebe sperren auf, Strände werden geputzt, Gasthäuser öffnen. Und Fetzentandler, Schuhhändler und Möbelhäuser hoffen, daß sich der gestaute Konsum des p.t. Publikums auf sie entlädt.
Diese Hoffnung zeigt unter anderem ein sehr verbreitetes, aber doch sehr verzerrtes Menschenbild, das einem auch ständig aus den Medien eingetrichtert wird: Alle haben mehr oder weniger Geld, mit dem sie auskommen, wenn sie es sich nur gscheit „einteilen“. Armut und Elend kommt daher, daß es mit dem Einteilen nicht so hinhaut.
Das ist schon einmal über die Vor-Corona-Welt eine große Lüge. Da ist es nämlich schon so gewesen, daß ein immer größerer Teil des Einkommens für ein Grundbedürfnis wie das Wohnen aufgewendet werden muß. Wenn die Miete oder die Kreditrate eingezahlt, die Wasser- und Energierechnungen bezahlt sind, bleibt im Schnitt bei den meisten Menschen immer weniger im Geldbörsel. Es ist schon seit geraumer Zeit so, daß der Immobiliensektor – auf Kosten anderer Geschäftsbereiche – immer mehr von der beschränkten Zahlungsfähigkeit der weniger begüterten Schichten einsaugt.
Also sind die Perspektiven fürs flotte Konsumieren schon einmal nicht so gut.
Das „Einteilen“ schaut dann so aus, daß bei einem anderen Grundbedürfnis – meistens dem Essen – gespart wird, um sich andere, für die Konkurrenzgesellschaft wichtige Dinge wie Kosmetikartikel oder Kleidung leisten zu können. Sehr viel Geld geht dann auch noch für Genußmittel wie Alkohol oder Zigarretten und gelegentliche Besuche im Stammlokal drauf.
Bessergestellte leisteten es sich, in professionellen Verpflegungsbetrieben zu speisen und auch gelegentlich raushängen zu lassen, daß sie „einfach nicht gern kochen“. (Zu deutsch: Ich habs nicht notwendig!)
Urlaub am Meer, Sportgeräte aller Art und deren Benutzung in Wald und Wiese, sowie andere Luxusbedürfnisse erfüllen den wichtigen Zweck, daß es das Individuum befriedigt, sich dergleichen noch leisten zu können, also nicht ganz im Erdgeschoß der Klassengesellschaft gelandet zu sein.
Auch in besseren, also Vor-Corona-Zeiten war es so, daß die Konsumenten nicht unbegrenzt und nicht einmal in hinreichender Menge die Verpflegungsstätten und Geschäfte stürmten. Die meisten Geschäfte hofften auf Tourismus, also auf Kaufkraft von außen, und auf das Weihnachtsgeschäft, wo die Kauflaune und auch die Zahlungsfähigkeit dank 14. Monatsgehalt und ähnlichem höher ist, um das Jahr halbwegs passabel abschließen zu können.
Aber jetzt, nach mehr als 2 Monaten Stillstand?!
Erstens haben viele unselbständig Beschäftigte ihren Job verloren oder sind in Kurzarbeit, haben daher ein geringeres Einkommen als früher. Zweitens haben viele Selbständige monatelang keine Einkünfte gehabt, gleichzeitig aber Pacht für Geschäftsräume, Mieten für Lagerräume und andere Fixkosten zahlen müssen. Diese Leute sind jetzt auch noch mehr als vorher verschuldet und gehen oftmals am schmalen Grat zum existenziellen Ende.
Die Coronakrise hat also bereits jetzt sehr viel Zahlungsfähigkeit vernichtet.
Außerdem haben viele Leute jetzt notgedrungen Kochen gelernt, die sich vorher geziert haben. Schließlich wurde auch viel Online gekauft, was man wirklich notwendig brauchte.
Angesichts leerer Kassen überlegt man es sich auch 2x, irgendeinen modischen Fetzen zu kaufen oder ein altes Spanplatten- oder Schaumstoffmöbel gegen ein neues auszutauschen, sich also ohne Not den gleichen Sch… in Rosarot zuzulegen.
Weiters sehen alle – außer den ganz dicken Brummern in der Unternehmensleitungen – einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Kleinunternehmen werden sich nicht eine neue Gastro-Küche zulegen oder neue Maschinen für die Werkstatt, oder das ganze Geschäft neu dekorieren, in der Hoffnung, dadurch mehr Kaufkraft anzuziehen. Niemand wird leichtfertig mehr Schulden aufnehmen, als er ohnehin schon hat.
Bei den Luftlinien wird verhandelt, daß viele Angestellte heftige Lohneinbußen hinnehmen müssen, und/oder viel Personal abgebaut werden muß. Es ist absehbar, daß der Flugverkehr deutlich abnehmen wird.
Die ohnehin bisher schon übervolle Reisebüro-Szene (=> Thomas Cook) wird weiter schrumpfen, weil viele Leute ihren Urlaub überdenken und lieber kleinere Brötchen backen werden. Fast jedem fallen Verwandte am Land und liebe alte Freunde ein, die man doch schon längst einmal besuchen wollte.
Das heißt aber wiederum für die Zielländer, daß sie mit deutlich weniger Einnahmen rechnen müssen. Es fragt sich, was das für Wirkungen auf die BIPs und Budgets der südeuropäischen Länder haben wird, deren Einkünfte zum großen Teil aus dem Tourismus stammen und die ohnehin schon hoffnungslos überschuldet sind.
Die Nachfrage wird also weiterhin zurückgehen, dadurch werden Geschäfte, Wirtshäuser und Cafés zusperren, wodurch die Nachfrage ihrer Betreiber auch flöten geht, usw.
Schon wetzen gewisse Schreiberlinge in den Medien ihre Feder – bzw. ihre Maus –, um vor zuviel Sparen und „Konsumzurückhaltung“ zu warnen. Konsumieren, los los! Kaufen und Geld ausgeben ist die erste Bürgerpflicht!
Ihr Blabla klingt angesichts der Sachlage noch blöder als sonst.

15 Gedanken zu “Rückkehr zur Normalität?

  1. Gegenstandpunkt – Serie: Pandemie XII
    Das Virus provoziert eine Klärung des Verhältnisses von Glaube, Wissen und Macht in der Demokratie
    Bild übt sich in Wissenschaftskritik
    Natürlich nicht ernsthaft und auch nicht selbst. Unter der Überschrift Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch. Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon? (Bild, 25.5.20) zitiert das Blatt renommierte Statistiker, die der Vorveröffentlichung einer Studie aus der Charité über die Viruslast bei infizierten Kindern Verbesserungsvorschläge zur statistischen Auswertung beisteuern und die sich selbstverständlich sofort gegen die Verwendung ihrer Beiträge zur Diskreditierung des bekanntesten deutschen Virologen durch Bild verwahren. Das Massenblatt ficht das nicht weiter an… (Forts.)
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/glaube-wissen-macht

  2. Dazu fällt mir dieser Artikel ein:
    The Complex Question of Reopening Schools
    https://www.newyorker.com/magazine/2020/06/01/the-complex-question-of-reopening-schools
    Es ist nicht sehr schlau, Ansteckungsrisiken anhand der Fehlbarkeit und Unfehlbarkeit von Wissenschaftlern zu debattieren, und daß da so etwas Grundlegendes wie die „Klärung des Verhältnisses von Glaube, Wissen und Macht“ anläßlich eines Bild-Artikels geliefert werden kann, bezweifle ich stark.

  3. Nachgefragt: Ist das von dir jetzt als eine Kritik an Thea Dorn (oder an Gustav Seibt) gemeint? Und welche Kritik von Thea Dorn meinst du damit?

  4. Weil du den GSP-Artikel nicht gelesen hast. Dort heißt es,
    “Dies so konsequent, dass eine Thea Dorn in der Zeit (‚Nicht predigen sollt ihr, sondern forschen‘, 3.6.20) radikal wird und etablierten Forschern das Prädikat des seriösen Wissenschaftlers abspricht, weil die, ihres Wissens sicher, darauf dringen, dass Staat und Gesellschaft die bedrohlichen Berechnungen der Ausbreitung des Virus ebenso wie des Klimawandels, die sie vorlegen, ernst nehmen und ihre Praxis nach diesen Erkenntnissen korrigieren, um schlimmeren Schaden abzuwenden. Direkt bezichtigt Frau Dorn den Klimawarner Schellnhuber, sieht nach seiner harschen Antwort auf die Angriffe von Bild aber auch Prof. Drosten in der Gefahr, zum dogmatischen “Gewissenschaftler” zu werden, der als Aktivist die Autorität der Wissenschaft für politische Ziele missbraucht. Wissenschaft verdient Autorität nämlich nur, solange sie nicht darauf besteht, dass man auf sie hört, und sich “aus den unmittelbaren politischen Entscheidungsprozessen … heraushält”.”
    Zu Seibt z.B.:
    “In diesem Sinn fühlt sich der Wissenschafts-Redakteur der SZ aufgerufen, gegen die Hetze von Bild zu begründen, warum diesem zweifelhaften Bemühen vonseiten der Laien dennoch Autorität gebührt. Seine brutale Begründung besteht in erster Linie in der Benennung eines Nutzens, der sich einstellt, wenn das Volk den Wissenschaftlern glaubt. So ein populärer Wissenschaftsglaube trägt nämlich zur Akzeptanz der Zumutungen bei, die dem Volk bei der Corona-Bekämpfung auferlegt werden:
    “Wir sollen verstehen, und wir sollen befolgen … Dass dies je länger, je mehr umstritten sein würde, konnte man voraussehen. Umso wichtiger war die kontinuierliche Begleitung durch Wissenschaftskommunikation. Denn all diese Maßnahmen hätten sich auf dem Weg staatlicher Reglementierung allein nicht umsetzen lassen. Die Leute mussten mitziehen, und dafür mussten sie den wissenschaftlichen Vorgaben vertrauen.” (Gustav Seibt, Drosten und wir, SZ, 28.5.20)
    Seibt schätzt an der Wissenschaft, dass sie den staatlichen Verordnungen das Etikett der Notwendigkeit und Vernunft verleiht und so den Gehorsam des Volkes fördert.”

  5. Eine weitere Figur aus dem linksliberalen Spektrum war übrigens Jakob Augstein, der, meiner Erinnerung zufolge, in mehreren seiner “TV-Debatten” mit Blohme der gesamten Zunft der Virologen am liebsten den Mund für öffentliches Reden verboten hätte – er als Linker befürchte nämlich die Zerstörung der Demokratie, sobald Virologen der Staatsgewalt solche Empfehlungen abgeben dürften, die er, der große Augstein, nun doch für ziemlich übertrieben, und also verkehrt (!) befinde.
    (Sowohl Jakob Augstein als auch Thea Dorn haben, meiner Erinnerung zufolge, sich auch nicht bei den vielen TV-Talks direkt zu Corona zu Wort gemeldet – sondern eher in “ihren je eigenen Formaten”, Thea Dorn also im ihrer Literaturkritik-Einöde. (Plus dann eben auch, wie von Neo zitiert, in der ZEIT.) Es ist eben anscheinend besonders bitter, wenn das Bildungsbürgertum sich grad mal nicht so sehr über das Sterben in Shakespeare-Inszenierungen echauffieren mag…)
    Dass darin ein Maulkorb für Wissenschaft liegt, hat Neo auch bereits zitiert.

  6. Einen fehlenden Alarm, vermutlich ganz im Sinne von Phineas, gab es in Brasilien – im Sinne der Verharmlosung. (Wie meines Wissens häufig, wenn Rechte und Rechtsradikale die staatliche Macht innehaben und auf die unbedingte Pflicht zur Lohnarbeit dringen.)
    “Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hatte das Coronavirus zu Beginn der Pandemie als »kleine Grippe« verharmlost und damit in der Bevölkerung Verwirrung über die Ernsthaftigkeit der Krankheit gestiftet. Auch wollte er aus wirtschaftlichen Gründen keine Maßnahmen zur Eindämmung treffen und lehnte Schutzmaßnahmen ab. (…)
    Mit den am gestrigen Mittwoch neu registrierten Todesfällen durchbrach Brasilien die Marke von insgesamt 90 000 Corona-Toten. Nur in den USA wurden bislang mehr Infektionen und Todesfälle in der Corona-Pandemie verzeichnet.
    Die tatsächlichen Zahlen in Brasilien dürften aber noch weit höher liegen, auch weil das Land sehr wenig testet. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass sich mindestens siebenmal so viele Menschen infiziert haben wie bisher bekannt, und doppelt so viele wie erfasst gestorben sind. Brasilien hat 210 Millionen Einwohner und ist 24-mal so groß wie Deutschland.” (ND/dpa)
    Gruselig auch, wie Nationalisten in Indien mit dem Virus umgehen
    https://www.heise.de/tp/features/Indien-ist-von-Corona-durchseucht-Na-und-4858715.html?seite=all
    Und ich verlinke nestors Beitrag zustimmend
    http://NestorMachno.blogsport.de/2020/07/29/neues-vom-coronavirus/#comment-40058

  7. Nur weil die Rechten jetzt zu Großdemos mobilisieren, muss ein linker Blog noch lange nicht deren Mobilisierungs-Links und Falschinfos (dann auch noch in doppelter Ausführung) der linken Netz-Öffentlichkeit präsentieren.

  8. @Neoprene
    Danke für die Ergänzung gegenüber meiner Borniertheit, nicht einmal in den Artikel hineinzuschauen.
    Diese vom GSP gerittene Schiene zur Rettung der Naturwissenschaft ist halt für mich ein Unsinn.
    Erstens sind die Naturwissenschaftler auch nicht immer die Kriterien der Wahrheit, zweitens muß man in Corona-Zeiten auch unterscheiden zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und daraus folgenden Empfehlungen für die Politik.
    Da wären z.B. schon seit langem ganz andere Empfehlungen fällig, wie Vermeidung schädlicher Stoffe, gesundheitsschädlicher Arbeitsverhältnisse, ungesunder Wohnungen, usw. usf. – falls es wirklich um die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung gehen würde.
    Also, sich auf die Ehrenrettung der Virologen zu verlegen, halte ich für einen falschen Ansatz.
    @Phineas
    Meine Bedenken gegen, oder besser gesagt, meine Ablehung von CV-19-Verharmlosern habe ich am anderen Thread ausführlich hingeschrieben, zu der Artikel zu SARS nur folgendes:
    Ich habe die SARS-Epidemie deshalb ziemlich nahe mitgekriegt, weil eine Freundin von mir damals ein Reisebüro für chinesische Delegationen in Europa hatte. Sie (selbst Chinesin) hat mich damals auf dem Laufenden gehalten.
    In China wurde 2002/2003 das ganze Gesundheitswesen umgekrempelt, jede Menge Krankenhäuser gebaut. Es war die erste Erfahrung in China mit einer Epidemie überhaupt.
    Damals wurden z.B. die Krankenhäuser dort mit Küchen ausgestattet. Bis dahin war es üblich, zumindest in den Städten, daß die Verwandten ihren Angehörigen das Essen brachten, weil die somit das ihnen vertraute Zeug aus vertrauter Hand erhielten.
    Dadurch hat China viel im Umgang mit ansteckenden Krankheiten gelernt und war für CV-19 gut gerüstet.
    Außerdem war vor 19 Jahren die Welt weitaus weniger globalisiert, der Reiseverkehr viel geringer. Dadurch gelang es, das SARS-2 räumlich einzugrenzen.
    Die WHO sah eben schon damals die Möglichkeit einer globalen Verbreitung und warnte dementsprechend.
    Heute von einem falschen Alarm zu reden und alles als Hysterie abzutun, ist sehr verantwortungslos.
    Ich frage mich, was für eine Menschenverachtung eigentlich diese Corona-Verharmloser bewegt?
    Sollange nur ein paar Tausend oder Zehntausend sterben, und womöglich weit weg von uns, „hinten in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen“, so ist das doch ganz normal? Business as usual?

  9. “… sich auf die Ehrenrettung der Virologen zu verlegen…”
    Die Borniertheit, in Artikel nicht mal dann reinzugucken, wenn man über sie spricht – fällt dir dann eben auf deine eigenen Füße….

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