DIE MOBILITÄT UND IHR PREIS
Das Zugunglück in Santiago der Compostela hat den Blick ein wenig darauf gelenkt, was für ein Geschäft die Bedienung der knappen Zeit der heutigen Bürger geworden ist. Auf schnellstem Wege von A nach B zu gelangen, ist ein unhinterfragtes Postulat der heutigen globalisierten Gesellschaft geworden. Daß man zu geschäftlichen Treffen mit dem Flugzeug anreist, sich für Kundenbetreuung in Hochgeschwindigkeitszüge setzt, notfalls durch den Chunnel flitzt, ist zu einer Selbstverständlichkeit des heutigen Geschäftslebens geworden. Aber die Freizeitgestaltung steht dem in nichts nach: Städte- und Shopping-Tourismus übers Wochenende nach Mailand, Paris oder New York, Urlaubsreisen auf irgendwelche Strände, selbstverständlich mit dem Flieger, oder Partying rund um den Globus – heute Paris, nächsten Monat Montevideo, und dann schnell zu einer Hochzeit nach Miami – alles das gehört schon zum guten Ton derer, die es in der Konkurrenz geschafft haben und ihre Position festigen wollen; oder zur Angeberei derer, die partout Mittelklasse sein wollen, und wenns auch nur kreditfinanziert ist.
Und diese ganzen Bedürfnisse wollen bedient werden.
Die spanischen Regierungen – und zwar sowohl die sozialdemokratischen als auch die konservativen – haben sich dieses Bedürfnisses angenommen, um ihre Ökonomie und ihr Wirtschaftswachstum zu befördern. Spanien hat Unsummen in Infrastruktur investiert, um sich dadurch als moderne Nation „Marke Spanien“ zu präsentieren. Es hat heute neben einigen unbenützten Flughäfen, einer unbenützten Straßenbahn und einem Haufen Mautautobahnen, die außerhalb der Sommersaison ebenfalls fast leer sind, das größte Netz an Hochgeschwindigkeitszügen in Europa und das zweitgrößte der Welt (nach China).
Nach einem Artikel aus El País, aus dem alle folgenden Zahlen stammen, hat das spanische Hochgeschwindigkeits-Netz 3.100 km in Betrieb. Seit den Anfängen des Programms zur Errichtung von Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecken – AVE („Vogel“ bzw. Hochgeschwindigkeit Spaniens) – im Jahr 1992, als die erste Linie Madrid-Sevilla anläßlich der Weltausstellung in Betrieb genommen wurde, hat der spanische Staat mehr als 45 Milliarden Euro in das Programm investiert. Das betrifft sowohl den Umbau von Strecken als auch die Unterstützungen der 4 Betriebe, die diese Züge – sowohl Lokomotiven als auch Waggons – herstellen. Darüberhinaus werden auch noch die dennoch sündteuren Tickets für diese Züge subventioniert. Mit einer einzigen Ausnahme – Madrid-Barcelona – sind nämlich sämtliche Strecken bis heute chronisch unterausgelastet und deshalb defizitär. Das heißt, daß nicht einmal der laufende Betrieb die Kosten deckt, geschweige denn können die Investitionen und Kredite zurückgezahlt werden. Das AVE-Netz belastet also den spanischen Staatskredit bis heute.
Die 4 großen Hersteller-Firmen – die spanischen Talgo und CAF, Siemens-Spanien und die schwedische Alstom, dazu einige kleinere Zulieferer – verbuchten 2012 einen Umsatz von 4,8 Milliarden Euro, wovon 2,8 aus Exporterlösen stammen. Außer rollendem Material werden auch Schienen und Signalanlagen produziert. Diese Hochgeschwindigkeits-Industrie hat bisher auch der Krise getrotzt und ist die Branche mit dem zweitgrößten Exportvolumen von Spanien.
All dieser Erfolg beruht, wie die Zahlen zeigen, auf der kräftigen Subventionierung des inneren Marktes und der Strapazierung des spanischen Staatskredits.
In all den Jahren seit dem Beginn des Projektes war Kritik und Widerstand kaum vorhanden. Die beiden spanischen Staatsparteien sahen darin eine unglaubliche Chance für die spanische Nation, die es mit allen Mitteln zu befördern galt.
Die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene Oppositionspartei Izquierda Unida wollte sich dem „Fortschritt“ und der „Modernität“ nicht in den Weg stellen. Sogar die ETA hatte nichts dagegen, da verschiedene Produktionsstandorte für diese Industrie im Baskenland angesiedelt sind und daher die Heimat aufwerten. Es gab lediglich vereinzelte Proteste von Anarchisten und Umweltschützern gegen diesen Rausch der Geschwindigkeit.
Die Aufträge für die spanischen Hersteller wurden als Triumph der Exportindustrie gefeiert. Die Strecke von Mekka nach Medina wird mit spanischem Material gebaut. (Auch die Pilger haben es heutzutage eilig.) In Aussicht stehen Projekte für Brasilien – die Strecke Rio de Janeiro – Sao Paulo, in Kasachstan, von Astana nach Alma-Ata, in Rußland, für die Strecke Moskau – St. Petersburg, und in den USA, von Sacramento nach San Diego.
All das ist jetzt in Gefahr, da eine der Bedingungen für solche Verträge 5 Jahre Unfallfreiheit ist.
Der verunglückte Zug war kein AVE, hatte aber auch eine Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 200 km/h. Daß ein solcher Zug auf einer Strecke verkehrt, die nur teilweise für Hochgeschwindigkeit ausgelegt ist, und in der betreffenden Kurve auch nicht über die nötigen Sicherheitssysteme verfügte, ist sowohl den Gewinnkalkulationen der staatlichen Eisenbahn-Firma RENFE geschuldet wie den Sparmaßnahmen des spanischen Staates. (Im Rettungspaket für Spanien drängte die EU auf Reduzierung der Subventionen für das Eisenbahnnetz.)
Jetzt soll für das ganze Unglück mit 80 Toten der Lokführer verantwortlich gemacht werden. Wie es dazu kommen konnte, daß ein solcher Unfall durch das Versagen einer einzigen Person möglich war, wird mit allen propagandistischen Mitteln ausgeblendet. Gegen den Lokführer wird bereits eine mediale Front errichtet: ein Prahler, ein leichtsinniger Typ, ein Wichtigtuer – ungeachtet seiner bisher makellosen Performance.
Schließlich steht viel auf dem Spiel: Eine Branche, ihr Prestige, ihre Aufträge, und – last but not least – der spanische Staat und sein bereits schwer angeschlagener Kredit.