Pressespiegel El País 23.4.: Kriegstraumata

„UKRAINISCHE SOLDATEN MÜSSEN SICH OHNE UNTERSTÜTZUNG MIT DEN PSYCHOLOGISCHEN TRAUMATA DES KRIEGES AUSEINANDERSETZEN

Die Behörden des angegriffenen Landes beginnen zu begreifen, daß sie ein Problem ersten Ranges haben, aufgrund von Hunderttausenden Soldaten, die ohne angemessene Unterstützung kämpfen.“

Es stellt sich im Lauf des Artikels heraus, daß es sich um die psychologische Unterstützung handelt, nicht um die militärische.
Obwohl der Autor es durchaus offen läßt, ob nicht vielleicht die militärische auch mitgedacht sein könnte.

„Der Krieg in der Ukraine wird nicht nur an der Front ausgetragen, seine Explosionen und Toten finden sich auch in den Köpfen der Soldaten.
Der größte Konflikt, den Europa seit dem II. Weltkrieg erlebt hat, wird Hunderttausende von Soldaten auf beiden Seiten lebenslang gezeichnet hinterlassen, sagen Experten und Soldaten, die von EL PAÍS interviewt wurden. Auf ukrainischer Seite beginnen die Behörden davon auszugehen, daß die Folgen für die Zukunft, nach der Rückkehr des Militärs in das zivile Leben, ein Problem ersten Ranges sein wird.

In der Ukraine sind jetzt fast eine Million Männer und Frauen in irgendeiner Form in die Verteidigung des Landes eingebunden.
Der ukrainische Generalstab nennt keine konkreten Zahlen, aber militärische Quellen schätzen gegenüber dieser Zeitung, daß fast 500.000 Soldaten Kampferfahrung an der Front haben. Tausende von ihnen leiden bereits an psychischen Störungen, die auf das zurückzuführen sind, was sie miterlebt haben. »Was uns bevorsteht, hat unvorstellbare Ausmaße, und das Land ist darauf nicht vorbereitet«, folgert Robert van Voren, einer der führenden Experten für Psychiatrie in den ehemaligen Mitgliedstaaten der Sowjetunion.“

Um so mehr, als das Gesundheitswesen der Ukraine seit geraumer Zeit ohnehin nur für Zahlungsfähige da war, und sich irgendwo zwischen Leihmutter-Firmen und Biolaboren eingerichtet hat.

„Van Voren ist Exekutivdirektor der »Federation for the Global Initiative in Psychiatry«, einer Organisation, die mit der Verteidigung der Menschenrechte in Russland und Osteuropa verbunden ist.“

Menschenrechte in der Pychiatrie?
Da hätte dieses Institut vermutlich nicht nur in ehemaligen Mitgliedstaaten der SU zu tun, obwohl das offenbar seine Bestimmung ist. Um die Menschenrechte wird sich vor allem in Staaten gekümmert, wo alles nicht so nach Plan für Washington und Brüssel läuft.

„Die Einrichtung, erklärt der Experte, sei vom ukrainischen Justizministerium beauftragt worden, ein Behandlungsprogramm für Kriegsveteranen zu fördern, die im Gefängnissystem des Landes inhaftiert werden.“

Damit wird offenbar gerechnet bzw. es ist schon geschehen. Außerdem gibt es ja Richtwerte aus anderen, verbündeten Staaten:

„Sein Team wird Einheiten für den Einsatz in Gefängnissen mit Methoden ausbilden, die in Großbritannien angewendet werden. »17 % der britischen Veteranen aus Afghanistan und dem Irak sind im Gefängnis gelandet«, betont dieser niederländische Sowjetologe. Angesichts dieser Daten sei das Ausmaß des Problems klar, sagt er.

In der Ukraine gibt es nur ein Zentrum, das auf die psychologische Behandlung von Kriegsteilnehmern spezialisiert ist. Es wurde im Juni 2022 eingeweiht und ist der Armee unterstellt. Sein Gründer, Oberst Oleksandr Vasilkovskij, präsentiert das Charkower Rehabilitations-Zentrum eher als private Initiative denn als staatliche Dienstleistung, da es keine öffentlichen Mittel erhält, sondern auf Spenden angewiesen ist. Diese Klinik wurde in einem ehemaligen sowjetischen Sanatorium am Rande Charkows, 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, eingerichtet. In den neun Monaten ihres Bestehens hat sie mehr als 2.700 Soldaten versorgt, mit einem einwöchigen“ (!) „Betreuungsprogramm, das sie auf die Rückkehr in den Kampf vorbereiten soll.“

Das Hauptziel dieser Klinik ist also, das Kanonenfutter wieder für den Einsatz zu befähigen. Da wird also auch darauf geachtet, daß keine Simulanten versuchen, sich der wichtigsten Vaterlandspflicht zu entziehen.

„Sergej Fjedoretschk wird vorerst nicht an die Front zurückkehren, weil er durch eine Explosion taub geworden ist. Am vergangenen Freitag verabschiedete er sich emotional von Vasilkovskij, nachdem er seine Genesungstage in der Charkower Einrichtung beendet hatte. Seine neue Partnerin, eine Krankenschwester, die ihn im Krankenhaus behandelte, holte ihn ab. Fjedoretschk ist ein Sergeant der Spezialeinheit der Luftwaffe. Er kann kaum sprechen, er sieht aus wie ein Boxer, der nach einem K.o. aufsteht. Aber er lächelt, weil er im Rehabilitationszentrum die erste friedliche Woche seit über einem Jahr hatte.
Vasilkovskijs Ziel ist es, daß das Militär wieder Stabilität gewinnt, damit es sich sicher fühlen kann, wieder zu kämpfen. Sowohl dieser Oberst als auch der Spezialist Van Voren und andere in den letzten Monaten befragte Soldaten stimmen darin überein, daß die Rotationen an der Front weniger häufig sind als nötig.“

Man fragt sich, wer eigentlich entscheidet, wie viele Pausen ein Soldat „nötig“ hat? Und „nötig“ wofür? Für den Soldaten? Für den wäre es das Beste, von der Front dauerhaft wegzukommen.
Oder für den Endsieg? Da sind Kampfpausen ganz schädlich, weil die schwächen die kämpfende Einheit.

„Das bedeutet, daß es Soldaten gibt, die monatelang einem Dauerdruck ausgesetzt sind. »In einer idealen Welt«, betont Vasilkovskij, »sollten Rotationen alle zwei oder drei Monate stattfinden, aber das ist nicht der Fall, weil unser Feind viel mehr Ressourcen hat als wir.«“

Hier wird also von kompetenter und unverdächtiger Seite bestätigt, daß die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann und ihre Leute ohne wirkliche Perspektive an der Front verheizt.
Die „ideale Welt“ ist offenbar eine, in der Dauerkrieg herrscht …

„Das Verfahren zu einem Aufenthalt im Charkower Rehabilitations-Zentrum beginnt an der Front. Dort müssen Militärpsychologen diejenigen Soldaten identifizieren, die unter Panikattacken, Demoralisierung oder Selbstmordgedanken leiden.“

Es fragt sich, was genau unter „Demoralisierung“ zu verstehen ist? Desertationsgefahr?

„In Charkow angekommen, werden diese Männer – eventuell in Begleitung eines Angehörigen – ab sieben Uhr morgens mit verschiedenen individuellen und kollektiven Therapien behandelt: Sie führen unter anderem physiotherapeutische Maßnahmen durch, um den Körper zu entspannen; Übungen in einem Pool bei einer Temperatur von 32 Grad, der den vorgeburtlichen Zustand simuliert;“ (!!!) „Ruheräume mit Aromen, Salzen und auch mit Lasertechniken.“

Ein Wellnesszentrum für ausgepowerte Soldaten, wie neckisch.

„Maxim Baida, seit 2011 Militärpsychiater und verantwortlich für die psychologische Betreuung von Internierten der Charkower Klinik, betont, daß sie sich nicht um Langzeitfälle von posttraumatischer Belastungsstörung kümmern können, der häufigsten psychischen Erkrankung, unter der Soldaten in jedem Krieg leiden.
Ihre Priorität ist, daß sie ohne Albträume wieder einschlafen, daß sie aufhören, sich für ihre toten Kameraden schuldig zu fühlen und vor allem, daß sie ihre Angst verlieren, wann sie an die Front zurückkehren müssen, wenn sie die Straße entlang gehen, – oder wenn sie von Zukunftsängsten angesichts einer äußerst ungewissen Zukunft gequält werden.“

Na, da hat der Psychologe sicher viel zu tun und das in nur einer Woche!

„Julija Sobolta ist Therapeutin beim DoLadu-Projekt, das sich um Verwundete in Militärkrankenhäusern in Kiew kümmert. Sobolta arbeitet seit 2017 einen Monat lang mit Soldaten, während sie ins Krankenhaus eingeliefert werden. In DoLadu arbeiten sie nicht grundlegend an den Traumata, die die Soldaten erleiden. Sie konzentrieren sich darauf, Patienten zu stabilisieren, ihnen Entspannungstechniken näherzubringen, sobald sie an die Front zurückkehren, und Meditation – etwas, das das Militär zum ersten Mal akzeptiert. »Es ist immer noch etwas ungewöhnlich, weil die Ukraine eine konservative Gesellschaft ist, die vom orthodoxen Christentum beeinflusst ist, und Meditation als eine von außen kommende religiöse Praktik angesehen wird«, sagt er.“

Meditation und Entspannungstechniken im Schützengraben und unter Raketenbeschuß – sehr innovativ.
Auch bei DoLadu (was soviel heißt wie „Wieder ins Lot bringen“) steht offenbar die Wiederherstellung der ramponierten Wehrtauglichkeit im Vordergrund.

„Sobolta weist darauf hin, daß die Haupttraumata unter den Soldaten die Schuld wegen verlorener Freunde ist, sowie in einer zivilen Umgebung überleben zu können, und nicht bei ihren Kameraden zu sein.“

Das ist etwas erklärungsbedürftig. Also erstens, wenn es an der Front einen Kameraden erwischt, so geben sich diese Patienten selbst die Schuld. Warum er und nicht ich?
Zweitens, die begründete Sorge, daß man nach allem, was man an der Front erlebt – und auch getan – hat, vielleicht nicht so einfach mehr in ein Leben als Ehemann, Sohn, oder in den Beruf zurückfindet.
Der 3. Punkt wirkt etwas aufgesetzt und soll anscheinend dem ausländischen Journalisten klarmachen, daß alle ukrainischen Soldaten ihre Landesverteidigung und die Kameradschaft im Schützengraben über alles stellen.
Aber im Zusammenhang mit Punkt 2 ist auch klar, daß das zivile Leben vorher und die Monate an der Front zwei Wirklichkeiten schaffen, die nur schwer miteinander vereinbar sind.
Die Mitarbeiter von DoLadu

„haben auch ein neues Problem in Bezug auf diejenigen entdeckt, die im Donbass-Krieg (seit 2014) gekämpft haben (…): »Jetzt sehen wir mehr Hoffnungslosigkeit, sie haben das Gefühl, daß es keinen sicheren Ort gibt, die Unsicherheit betreffend Leib und Leben ist viel größer«.“

Auch das ist etwas unklar.
Im Donbass hatte man als Soldat – oder auch Mitglied eines paramilitärischen Bataillons – das Gefühl, Separatismus zu bekämpfen und konnte ohne große Schwierigkeiten Scharfschützen auf Babuschkas und Kleinkinder schießen lassen.
Der Donbass-Krieg lief nämlich 8 Jahre lang als „Antiterroristische Operation“, man hatte also ein gewisses Rechtsbewußtsein und Gefühl der Stärke. Im Grunde verstieß es allerdings gegen die ukrainische Verfassung, Militär im Inland einzusetzen. Der Großteil der dort im Einsatz befindlichen Soldaten war freiwillig und aus Überzeugung dort.
Heute hingegen steht man einer gut gerüsteten Großmacht und deren Dauerfeuer gegenüber, und auf die Freiwilligkeit wird von der ukrainischen Regierung und Armeeführung auch verzichtet.

„Der Schmerz wegen toter Gefährten

Vjatschislav Melnikov ist 27 Jahre alt und Scharfschütze in einem Infanteriebataillon. Vor dem Krieg war er Maurer. Eine Granate eines feindlichen Panzers traf seine Stellung und die Prellungen, die er erlitt, hinterließen seelische Narben. Er wurde in das Rehabilitationszentrum Charkow eingeliefert, weil er jede Nacht Alpträume hatte und an Zittern in seinen Extremitäten litt. Er leidet unter den Selbstvorwürfen, nicht genug getan zu haben, um Gefährten vor dem Tod zu bewahren.
Er will nicht an die Zukunft denken, weil sie ihm Angst macht, und er erklärt, daß ihm Methoden beigebracht wurden, seinen Kopf auf ein Ziel zu konzentrieren. Sein Ziel ist es, so schnell wie möglich in den Kampf zurückzukehren. »Es ist wichtig, daß ich meine Familie nicht mit dem Hass anstecke, den ich empfinde. Ich möchte diesen Hass an der Front spüren, nicht zu Hause.« Er kann die Zahl der von ihm getöteten feindlichen Soldaten nicht nennen, aber er beteuert mit einem Blick, der Gewalt ahnen läßt, daß es kein Trauma sei, das Leben anderer Menschen beendet zu haben: »Diese Leute marschieren in mein Land ein. Ich bin nicht nach Russland gegangen, um Zivilisten zu töten. Ich beschütze unsere Familien.«“

Vorbildlich. Solche Leute muß man mit allen Mitteln wieder einsatzfähig machen.

„Sobolta betont, Experten, daß die Ukraine viel zu wenig“ (psychologische) „Experten habe: Nach ihren Schätzungen kommt in Militärkrankenhäusern auf 100 Soldaten ein Psychologe. In DoLadu halten sie es für wesentlich, daß dringend neue Gruppen von Experten für militärische psychische Gesundheit ausgebildet werden.“

Eine schwere Aufgabe. Weil die Lust am Töten psychologisch zu vermitteln, setzt erstens Freiwilligkeit bei den solchermaßen „Behandelten“ voraus. Die liegt aber möglichweise nicht vor … Außerdem steht sie in einem krassen Gegensatz zum bisher Gelehrten und Gelebten, wo Mord strafbar ist.
Und dann noch Leute zu finden, die diese schwere Aufgabe der Umerziehung beherrschen …

„Diese Einrichtung (DoLadu) arbeitet mit der Unterstützung der US-Regierung und verweist auf Israel als Referenz.
Die von Olena Selenskaja, der Ehefrau des Präsidenten, geleitete Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung ein Programm erarbeitet, durch das sie bereits etwa dreißig Therapeuten im Tel Aviv NATAL-Zentrum für die Behandlung von Opfern in Konfliktgebieten ausgebildet hat.“

Jetzt wird eines für die Behandlung von Tätern fällig.

„Um den Therapieplan für das Charkov-Zentrum zu entwerfen, hat Vasilkovskij Pflegeprogramme für amerikanische Veteranen des Vietnamkriegs studiert. Und er ist überzeugt, daß die Ukraine seit 2014 bereits genug Erfahrung hat, um ihre Experten auszubilden, – mehr als jede NATO-Armee.
Sowohl er als auch die Therapeutin betonen die Bedeutung der Kriegsveteranen des Donbass-Konfliktes, die sich als psychisch belastbarer erwiesen haben. »Diese Männer vermitteln Sicherheit an die Einheit und wissen, wie man sich verhält, wenn zum Beispiel ein Kollege eine Blockade hat«, sagt Oberst Vasilkovskij.“

Es handelt sich vermutlich um eine Blockade beim Töten.

„Das Positive sei, sagt Van Voren, daß die ukrainischen Behörden sich des Problems bewusst seien, weil sie sich seit 2014 damit befassen und sich seit 30 Jahren schrittweise den Standards der EU annähern.
Der Nachteil hingegen sei, fügt er hinzu, ist, daß »psychische Gesundheit nie eine Priorität war«.“

Man fragt sich, was die „psychische Gesundheit“ bei einem Scharfschützen sein soll? Kill, kill, kill – sowas wird doch den Leuten eingehämmert. Und wenn das nicht mehr funktioniert, so sind sie „krank“?

„Nach seinen Schätzungen hat ein Drittel der psychiatrischen Einrichtungen kriegsbedingt geschlossen und viele ihrer Mitarbeiter sind inzwischen Flüchtlinge im Ausland. Auf Seiten der Eindringlinge ist das Problem sicherlich größer, weil sich die russische Psychiatrie isoliert hat und weil die Position ihrer Soldaten schlechter ist, wie Van Voren“ mit Krokodilstränen „erwähnt: »Sie kämpfen in einem anderen Land, in einer Umgebung, in der sie gehasst werden und sie kommen aus einer Gesellschaft, in der die Menschen keine moralische Unterstützung haben.“

Nun ja, das ist natürlich ein Trost: Beim Feind ist alles viel schlimmer, der hat ja nicht einmal die fachliche Unterstützung der EU, der USA, des UK und Israels.

Pressespiegel El País, 5.3.: Griechenland erntet die bitteren Früchte der Kürzungen im öffentlichen Dienst

KOSTEN DER EURORETTUNG

„Das Zugunglück in Tempe am Dienstag – die größte Eisenbahntragödie in der griechischen Geschichte, bei der 57 Menschen ums Leben kamen – hat den prekären Zustand der griechischen öffentlichen Dienste deutlich gemacht.
Gewerkschaften und Opposition führen die Verschlechterung auf mehr als ein Jahrzehnt Sparpolitik zurück. Die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis hingegen definiert sie als „chronische Pathologien“.

Griechenland wurde ganz offiziell gezwungen, von 2010 bis August 2022 Sparmaßnahmen zu ergreifen.
2009, nachdem die wichtigsten Ratingagenturen das Schuldenrating des Landes herabgestuft hatten, brach der Athener Aktienmarkt ein. Im Jahr 2010, kurz vor dem Bankrott, nahm das Land einen Kredit der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds (IWF) an, als Gegenleistung dafür, dass die griechische Regierung eine harte Sparpolitik und tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben anwendet.
Zur Überwachung der Anpassungen wurde die als Troika bekannte Gruppe gebildet, die sich aus der Europäischen Kommission, dem IWF und der Europäischen Zentralbank zusammensetzte. (…) 2012 einigte sich die griechische Regierung mit der Troika darauf, 15.000 Beamte zu entlassen, um Zugang zur 2. Finanzrettung zu erhalten. Die Schulden wuchsen weiter.

Soziale Unzufriedenheit führte im Januar 2015 zum Sieg der linken Formation Syriza, die versprach, die Sparpolitik zu beenden und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen rückgängig zu machen.
Syriza hat sich in Folge nicht nur geweigert, die Privatisierungen zu reduzieren oder rückgängig zu machen, sondern unterzeichnete nur sechs Monate nach dem Wahlsieg das 3. Rettungspaket. Im Rahmen desselben kürzte sie weiter Löhne und Renten und schloss Privatisierungen wie die des Hafens von Piräus, dem wichtigsten des Landes, oder der öffentlichen Eisenbahngesellschaft TrainOSE, heute Hellenic Train, ab.
Die Rettungspakete wurden 2018 beendet, aber bis 2022 unterlag Griechenland einer »verstärkten Überwachung« durch die Europäische Kommission.

Nach der Eisenbahntragödie von Tempe haben die Gewerkschaften des Sektors zahlreiche interne Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie davor gewarnt hatten, dass der schlechte Zustand der Infrastruktur die Sicherheit von Arbeitern und Reisenden gefährdet.
Der Fernsehsender Open TV hat enthüllt, dass die Geschäftsführung der Hellenic Train damit gedroht hat, die Vertreter der griechischen Zugführer-Gewerkschaft, die sich aus Lokführern zusammensetzt, wegen Verleumdung anzuzeigen.
Diese Gewerkschaft hatte am 31. Oktober des Vorjahres ein außergerichtliches Verfahren gefordert, um von der Unternehmensleitung »die sofortige Wiederherstellung der seit Jahren verschlechterten Bahninfrastruktur, Fernsteueranlagen, Lichtsignale und Netzsicherheit« zu fordern, um durch diese Maßnahmen die »Gesundheit und Sicherheit« der Arbeitnehmer zu gewährleisten.
Die Unternehmensleitung erklärte, die Vorwürfe seien verleumderisch und die Urheber der Vorwürfe hätten mit Konsequenzen zu rechnen.

Der Ingenieur Athanasios Ziliaskopoulos wurde von der Regierung als Mitglied des Expertenkomitees ausgewählt, das die Ursachen des Tempe-Unfalls untersuchen soll. Syriza als Oppositionspartei hat in einer Erklärung darauf hingewiesen, dass eine solche Ernennung »ein Hohn ist«, weil Ziliaskopoulos im Zeitraum 2010-2015 Vorstandsvorsitzender von“ (der damals staatlichen Eisenbahngesellschaft) „TrainOSE war – das heißt, als das Unternehmen seinen Privatisierungsprozess mit dem Verkauf von 49% seiner Vermögenswerte begann. Anschließend leitete der Ingenieur das TAIPED (»Verwertungsfonds für das öffentliche Privatvermögen«, das Gremium, das das Privatisierungsprogramm in Griechenland verwaltet).
Allerdings wird aus dem Schreiben von Syriza auch klar, dass die Privatisierung von TrainOSE, obwohl sie 2010 begann, 2016 abgeschlossen wurde, also als die Linkskoalition regierte.“

Syriza war also genauso an dieser Privatisierung beteiligt, oder sogar in wichtigerer Position, als der ominöse Ingenieur, der jetzt offenbar zwecks Verwischens von Spuren eingesetzt wird.

„Die Bahngewerkschaften behaupten, unter Ziliaskopoulos sei beschlossen worden, daß die Bahngesellschaft keine »Fernleitzentrale« bauen werde – d.h., ein Bahnverkehrs-Aufsichtsamt, das die ETCS-Technologie (European Traffic Control System) integriert, ein automatisiertes System, dessen Ziel es ist, den Verkehr vor möglichen menschlichen Fehlern zu schützen.“

Es wäre ja nicht nur mit einem Bau einer solchen Zentrale getan gewesen. Jede einzelne Zugstrecke und jeder einzelne Bahnhof hätte damit verbunden werden müssen.

„Obwohl Griechenland und die Europäische Union 20 Millionen Euro für die Modernisierung der Züge und des Acharnes Railway Center (dem wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt in der Nähe der Hauptstadt) ausgegeben haben, wurde ein solches Leitsystem nie in Betrieb genommen.“

Es wurde ja auch, wie dem Artikel zu entnehmen ist, nie installiert.

„Als Konsequenz, so die Version der Gewerkschaftsvertreter, seien die Bahnhofsvorstände gezwungen worden, manuell mit Funkgerät, Papier und Kurbel zu arbeiten – am sogenannten „Nullpunkt“, wo sich die internationalen Linien mit Nahverkehrszügen kreuzen.“

Angesichts solcher Zustände fragt man sich, was mit diesen 20 Millionen geschehen ist, die angeblich in das Zugssystem investiert worden sind?

Ähnlich sieht es in anderen Abteilungen des öffentlichen Sektors aus:

„Im Januar 2019 gab der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zu, Griechenland »gedankenlose Sparmaßnahmen« aufgezwungen zu haben. »Wir haben Griechenland unzureichend unterstützt«, erklärte er vor der Plenarsitzung der Eurokammer. Drei Jahre später verkündet die Lehrerin Tsiftsi dem Korrespondenten von EL País: »Es gibt keine gute Bildung, es gibt keine guten Krankenhäuser, es gibt keinen sicheren Transport … Das Einzige, was wir in diesem Land haben, sind die Menschen. Wenn wir überleben, ist es pures Glück.«“

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„Der Hellenic Republic Asset Development Fund (=TAIPED) schrieb Anfang 2016 TrainOSE zum Verkauf aus. Am 14. Juli 2016 gab die Privatisierungsbehörde bekannt, das einzige vorliegende Gebot, das der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane, in Höhe von 45 Mio. Euro, anzunehmen. Am 18. Januar 2017 wurde der Verkaufsvertrag unterschrieben. Der Eigentumsübergang erfolgte zum 14. September 2017. Zum 1. Juli 2022 erhielt das Unternehmen den neuen Namen Hellenic Train.“
(Wikipedia, Hellenic Train)

Bei denen italienischen Staatsbahnen, was man so liest, sind die Zustände ähnlich. Die Privatisierung diente also nur dem Schuldendienst für Griechenland und verschaffte den italienischen Staatsbahnen eine zusätzliche Adresse für Stützungen aus der EU, die dann entweder in Verwaltungskosten oder ins laufende Geschäft (notwendigste Reparaturen) oder in private Taschen gesteckt werden konnten.

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Erinnerung an ein anderes Zugsunglück mit noch mehr Toten, auch „made in EU“:

Zeit ist Geld – Geschwindigkeit als Geschäftsmittel: DIE MOBILITÄT UND IHR PREIS

Hier kommen auch noch Geschäftskalkulationen hinzu, aber die Parallelen bei der „Bewältigung“ sind unübersehbar: Dort soll der Lokführer, hier der Bahnhofsvorstand verantwortlich gemacht werden, damit weder die Geschäfts- noch die Sparkalkulationen ins Visier geraten.

Der Kampf um Lateinamerika

UNRUHE IM HINTERHOF

Lateinamerika galt lange als der Hinterhof der USA. Dort wurde das System der konzessionierten Souveränität gegenüber dem Kolonialsystem der alten Welt entwickelt, ausgebaut und dann als Modell der Globalisierung auf die ganze Welt ausgebreitet. Besonders aktuell war das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Seither ist jedoch einiges geschehen. Vor allem das ökonomische Erstarken Chinas hat dort die Karten neu gemischt.

1. Argentiniens Bankrott und der Vormarsch Chinas

Einen bedeutenden Einschnitt in der wirtschaftlichen Entwicklung Südamerikas bedeutete der Bankrott Argentiniens 2001/2002. Das Land war ein Musterknabe des IWF gewesen, der inzwischen verstorbene Präsident Menem und der Wirtschaftsminister Cavallo hatten den argentinischen Peso an den Dollar geknüpft und dadurch die galoppierende Inflation in den Griff bekommen.
Diese als Currency Board hochgelobte Methode, Weichwährungen durch eine stabile Wechselkurspolitik zu stützen, galt damals als der Weisheit letzter Schluß und wurde in Wirtschaftsforen beklatscht. Er gab Argentinien die Möglichkeit, sich auf den Börsen von Frankfurt und New York zu verschulden, indem es dort auf Dollar lautende Staatsanleihen ausgab. Diese Wertpapiere erschienen den Investoren als sicher, weil durch die Dollarbindung die Zahlungsfähigkeit des Staates Argentinien gesichert schien. Es war aber ein Trugschluß, wie sich in diesem Millenium herausstellte, weil diese Bindung nur auf den Vereinbarungen mit dem IWF gegründet war, also weder auf der Wirtschaftsleistung Argentiniens noch auf irgendwelchen Garantien seitens der USA. Daher platzten diese Anleihengeschäfte nach dem Sturz des Präsidenten De La Rúa, der Peso entwertete sich und Argentinien war international nicht mehr zahlungsfähig. Das hatte sehr unerfreuliche Auswirkungen auf die argentinische Wirtschaft, die durch die Bedingungen, die der IWF an die Aufrechterhaltung des Currency Board geknüpft hatte, extrem importabhängig geworden war.

Was das alles für Argentinien bedeutete, kann man an den weiter unten angeführten Artikeln zu Argentinien entnehmen.

Für den Rest Lateinamerikas, vor allem Südamerikas, waren diese Entwicklungen eine Lehre. Sie wandten sich vermehrt vom IWF ab und einem neuen Kreditgeber zu, der wundersamerweise zu diesem Zeitpunkt am Horizont auftauchte: Der chinesischen Entwicklungsbank mit Sitz in Schanghai.
Diese Bank ist eine Art Anti-IWF oder Anti-Weltbank-Institution, die dazu ins Leben gerufen wurde, um – zusammen mit Chinas Außenhandelsbank – die bei China aufgehäuften Devisenreserven in greifbare Exporterfolge und ebenso greifbare Sicherstellung von notwendigen Importen zu sichern. Zum Unterschied vom IWF und Weltbank, die zwar US-dominierte, aber dennoch internationale Institutionen sind, sind diese Banken ausschließlich chinesische Institutionen und dienen daher anerkanntermaßen in erster Linie den Interessen der chinesischen Politik.
Sie finanzieren Infrastrukturprojekte wie den Bau von Straßen, Brücken oder Eisenbahnen, im Rahmen der sogenannten „neuen Seidenstraße“, die im Original einfach Verbindungs- und Straßenbauinitiative heißt. Außerdem finanzieren sie Unternehmen zur Energiegewinnung, investieren als Land Grabber in den Agrarsektor und vergeben Exportstützungskredite, mit deren Hilfe sie den lateinamerikanischen Markt mit Konsumgütern förmlich überschütten.

China hat daher Schritt für Schritt Lateinamerika sowohl als Rohstofflieferant als auch als Markt dem Zugriff der USA entzogen.

Dadurch ist auch in verschiedenen Staaten Lateinamerikas eine neue Händler-Elite entstanden, die sich auf den Handel mit China spezialisiert hat. Besonders augenfällig ist das z.B. in Bolivien, wo die eigentlich als großer Slum entstandene Zwillingsstadt zu La Paz, El Alto, zu einer kommerziellen Drehscheibe für den Chinahandel geworden ist und die alten, USA-orientierten Eliten schrittweise zurückgedrängt hat.
Damit wurden auch die Staaten Lateinamerikas intern aufgemischt. Die USA versuchen, ihren schwindenden Einfluß durch Bündnis mit den traditionellen Eliten und unter Zuhilfenahme von Sekten wieder zurückzuerlangen, was sich in Putschen und Unruhen äußert.

Eine weitere Waffe im Kampf um Einfluß ist das Thema „Korruption“ und die Zuhilfenahme der Justiz. Davon später einmal.

2. Der politische Einfluß Chinas in Lateinamerika

Außer dem ökonomischen Vormarsch hat China – in Zusammenarbeit mit Rußland – auch politisch einiges geleistet. Nach dem Putschversuch gegen Chávez 2002 und der Entlassung der darin verwickelten Angestellten der Erdölindustrie wurde die Erdölproduktion nur dank tatkräftiger Hilfe chinesischer – und iranischer! – Spezialisten weiter am Laufen gehalten. Nach Jahrzehnten der Obstruktion, Embargos und militärischer Bedrohung funktioniert der Erdölsektor Venezuelas nur dank chinesischer Investitionen weiter. China arbeitet daran, die Erdölreserven Venezuelas zu erschließen, den Erdölsektor zu modernisieren und die Exportkapazitäten zu erhöhen.
Um zu verstehen, warum das so langsam vonstatten geht, sei daran erinnert, daß Venezuela mit dem Iran und Kuba das Problem teilt, daß nach dem Bruch mit den USA die ganze Industrie auf das metrische System umgestellt werden mußte. Stück für Stück müssen alle Geräte, Raffinerien usw. umgebaut oder ganz ausgetauscht werden, da keine Ersatzteile mehr aus den USA importiert werden können.
Dieser Umbau geht übrigens nicht nur in Venezuela vonstatten. Auch die mit Hilfe Chinas groß gewordene Erdölindustrie, Bauindustrie und Flotte Brasiliens hat sich von den US-Firmen und Normen abgewandt und sich Know-Hows aus Rußland und der EU bedient.

Kuba schließlich hält sich bis heute nur dank russischer und chinesischer Unterstützung in verschiedenen Sektoren, nachdem Venezuela als großer Spender in Lateinamerika selbst in Bedrängnis geraten ist.

3. Rußlands Vormarsch in Lateinamerika

Rußlands Einfluß ist sowohl logistischer als auch militärischer Natur. Die Aufrüstung der venezolanischen Sicherheitskräfte war ein entscheidender Faktor, warum die USA und die Nachbarstaaten Venezuelas von einem Einmarsch absahen, wie er von den USA rund um das Guaidó-Theater erwogen wurde. (Es reichte nur zu einem operettenhaften Invasionsversuch.) Auch die Blockade von Tankern nach Venezuela wurde durch russisches Militär vereitelt. In Argentinien leistete Rußland sogar etwas Wirtschaftshilfe zum Aufbau einer bis dahin nicht exitenten Fisch- und Meeresfrüchteindustrie.
Vor allem aber unterstützen russische Firmen (und im Hintergrund dazu sogar bis zum Vorjahr deutsche) die Industrie in verschiedenen Sektoren der Energiewirtschaft.
Während der Pandemie tobten Kämpfe um die in Lateinamerika zugelassenen Impfstoffe. Damals gelang den Pharmafirmen Rußlands und Chinas ein Durchbruch auf dem Pharmasektor.

Alle diese Kämpfe sind nicht entschieden und befinden sich in einer heißen Phase.

Bisherige Artikel zu dem Thema:

Argentinien:
Das weltweite Finanzsystem – ARGENTINIENS SCHULDEN, WIEDER EINMAL (2022)
Argentiniens Schulden – SCHULDEN MÜSSEN GÜLTIG BLEIBEN (2021)
Pressespiegel: Rebelión, 5.2. – ARGENTINIEN IST IN DER SCHULDENFRAGE NICHT NACH SCHERZEN ZUMUTE (2020)
Wahlen in schwieriger Zeit – ARGENTINIEN; SEIN PRÄSIDENT UND SEINE SCHULDEN (2019)
Serie „Lateinamerika heute“. Teil 5: Argentinien – „DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE (2018)
Macris Schwanengesang? – ARGENTINIEN BITTET DEN IWF UM KREDIT (2018)
Argentinien schifft wieder ab – RICHTUNGSWECHSEL IN ARGENTINIEN: MAURICIO MACRI, EIN HELD AUF ABRUF (2016)
Argentinien, der Weltmarkt und das Welt-Finanzsystem – FLEUNDSCHAFT! (2015)
Der Argentinien-Krimi, neueste Folge – DER COUNTDOWN LÄUFT (2014)
Argentinien am Scheideweg – DAS WELTWEITE KREDITSYSTEM WACKELT WIEDER EINMAL (2014)
Ein angesichts der Euro-Krise fast vergessener Schuldnerstaat – AASGEIER KREISEN ÜBER ARGENTINIEN (2013)
Die Weltfinanzbehörde läßt einen Musterschüler durchfallen – DER IWF, TEIL 6: ARGENTINIENS ZAHLUNGSUNFÄHIGKEIT (2011)
Ein großes Pyramidenspiel? – ARGENTINISCHE BANKIERS ZUR EURO-SCHULDENKRISE (2011)