Ungarns neue Verfassung

DIE DEFINITION DES UNGARISCHEN MENSCHEN
In Ungarn ist zur Zeit die vierte Redaktion der neuen Verfassung am Tisch, und in der EU gehen die Wogen hoch, wie undemokratisch diese angeblich sei. Vor allem die Einschränkung der Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes ist Gegenstand der Kritik.
Über all dem wird völlig übersehen, was eigentlich die Leistung dieser Verfassung ist.
Oder was überhaupt die Leistung jeder Verfassung ist.
Eine Verfassung definiert sich ihre Bürger. Sie erklärt die Bürger eines Landes zu ihren Subjekten und schreibt ihnen vor, wer und wie sie zu sein haben. Sie verpflichtet sie auf die Grundpfeiler der Demokratie, als da sind: Freiheit und Gleichheit, und worauf sich diese hohen Werte beziehen: auf das Privateigentum nämlich. Eine Verfassung ist somit eine Art Inbesitznahme der Bürger eines Landes, und der ungeborenen Generationen, die erst noch das Licht der Welt erblicken müssen. Auch sie sind schon vorgeplant und in den Raster der kapitalistischen Gesellschaft eingespeist. Und wehe ihnen, den jungen Leuten, wenn sie sich dem nicht fügen, gegen diese Definition rebellieren. Sie werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln diszipliniert, bestraft, in Heime gesteckt oder sonstwie mit Polizeigewalt behandelt, und als Rechtsbrecher in die Zwangsjacke der jeweiligen Ordnung gefesselt.
Das als Vorbild aller demokratischen Verfassungen in Europa angesehene deutsche Grundgesetz enthält für alle Rechte, die es den Bürgern gewährt, gleichermaßen die Bestimmungen, unter welchen Umständen diese aufgehoben werden dürfen. In der als „Verteidigungsfall“ angeführten Rubrik, die sich den Anschein einer Reaktion auf einen bewaffneten Überfall von außen gibt, wird auch für den Fall vorgesorgt, daß im Inneren Aufstände ausbrechen. Damit können alle sonst in dieser Verfassung verkündeten demokratischen Rechte außer Kraft gesetzt werden und es kann mit Notverordnungen regiert werden.
Diese Art von Notstandsparagraph existiert in allen europäischen Verfassungen. Wenn der Staat selbst in Gefahr ist, so darf die Diktatur eingeführt werden. Und das wäre zum Beispiel dann, wenn die Bürger sich ihrer verfassungsmäßigen Definition widersetzen und den Gewaltapparat durch Aufstände in Bedrängnis bringen.
Zur Analyse des Deutschen Grundgesetzes und seiner Implikationen findet man hier etwas
Es wäre jedoch verfehlt, die Verfassungen über die Möglichkeit ihrer Außer-Kraft-Setzung zu verstehen. Sie leisten ja ihren Haupt-Dienst darin, im Normalbetrieb zu funktionieren: indem sie die Einheit von Staat und Untertanen, von Herrschenden und Beherrschten schaffen, die für die Marktwirtschaft unverzichtbar ist. Wenn das einmal nicht mehr funktioniert – na dann gibt es eben die Ausnahmeregelungen. Damit ist allerdings auch eingestanden, daß die Verfassung eben nicht so, wie sie vorgibt, aus der Natur des Menschen herauswächst, weil dann könnten ja solche Situationen, wo die Staatsgewalt in Gefahr gerät, gar nicht entstehen.
Alle Gesetze, die in den diversen Staaten erlassen werden, beruhen auf den Verfassungsgrundsätzen, die die Freiheit des Privateigentums, also der Freiheit der Eigentümer, andere – die Habenichtse – für die eigenen Interessen auszunützen, beruhen. Und auf der Gleichheit vor dem Gesetz, die alle Verstöße gegen das Eigentum ahndet: der Unternehmer darf genausowenig im Supermarkt stehlen wie der Obdachlose.
Die ungarische Verfassung der Fidesz-Regierung hat darüberhinaus noch eine Besonderheit: sie erklärt den ungarischen Bürger zum Christen. Wer einer anderen Religion anhängt bzw. Atheist ist, ist kein richtiger Ungar. Damit ist die Trennung zwischen Staat und Kirche aufgehoben, und die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, die Bildungs- ud Sozialinstitutionen der Kirche zu überantworten, was inzwischen in Ungarn ständig geschieht.
Ungarn ist einen Schritt weiter als die restlichen Staaten der EU, der Notstand wird bereits ausgerufen, und eine darauf zugeschnittene Verfassung erlassen.
Es bleibt abzuwarten, was darauf folgt – im In- und Ausland.
Eine genauere Analyse der ungarischen Verfassung findet sich hier.
Derselbe Text auf ungarisch.

Ein angesichts der Euro-Krise fast vergessener Schuldnerstaat

AASGEIER KREISEN ÜBER ARGENTINIEN

Argentinien erklärte seinen Bankrott, oder besser: seine Zahlungsunfähigkeit im Januar 2002, da der IWF seinem Musterschüler Argentinien einen Kredit verweigerte, der notwendig gewesen wäre, um seine gerade fälligen Staatsanleihen auszuzahlen. Die damals in Umlauf befindliche argentinische Staatsschuld belief sich zu diesem Zeitpunkt auf 82 Milliarden Dollar, was damals über 90% seines BIP entsprach. (Die 82 Milliarden werden in spanischsprachigen Quellen angeführt, in deutschen ist stets von 100 Milliarden die Rede. Woher sich die Differenz ergibt, ist unklar.) Es war der bisher größte Staatsbankrott aller Zeiten. Argentinien konnte sich so sehr verschulden, weil seine Währung durch die unter der Regierung Menem mit dem IWF ausgehandelte Dollar-Bindung des Peso Argentinien sehr kreditwürdig gemacht hatte. Es erschien keinem Akteur der Finanzwelt als bedenklich, die Stützung einer Währung von außen als verläßliches Datum zur Einschätzung seiner Kreditwürdigkeit anzusehen. Argentiniens Staatsbankrott war ein Vorläufer der Euro-Krise, er wurde jedoch damals als einmaliger Betriebsunfall des Finanzgeschäfts weggesteckt, und die globalen Akteure wandten sich von Argentinien ab und machten ihre Geschäfte anderswo.

Die Folgen des verlorenen Kredits waren für die Bevölkerung Argentiniens verheerend. Hier könnten sich die Kritiker der Austerity-Maßnahmen ein Bild machen, was noch alles auf die EU-Staaten zukommt: de te fabula narratur! Dennoch wird Argentinien von als besonders menschenfreundlich angesehenen Ökonomen wie Paul Krugmann gerne als Vorbild hingestellt, wie gut ein Staat fährt, wenn er seine Schulden einfach streicht. Wachstum tritt ein, und es geht wieder aufwärts. Das ist ein gewisser Zynismus gegenüber den verelendeten Argentiniern, aber sogar dieser „Erfolg“ ist inzwischen gefährdet.

Unter der Regierung von Néstor Kirchner wurde eine Umschuldung mit den Gläubigern Argentiniens ausgehandelt, derzufolge sie mit ungefähr einem Drittel der Nominale der von ihnen gehaltenen Papiere abgefertigt wurden. Sie mußten also auf mehr als die Hälfte ihrer Forderungen verzichten. (Ein vor Wut geifernder Artikel der FAZ behauptet gar, es sei nur ein Viertel gewesen, mit dem die Gläubiger abgespeist wurden.) So gelang es Argentinien, seine Staatsschuld auf 19% seines BIP zu reduzieren. Das Fernziel der argentinischen Regierung ist es, seine Kreditwürdigkeit wiederherzustellen, um auf die Finanzmärkte zurückzukehren, also sich neu zu verschulden.

Dieser Schuldenstreichung stimmten allerdings nur 93% der Besitzer der argentinischen Staatspapiere zu. Unter den restlichen 7% befinden sich einige Hedgefonds, die spanisch Geier-Fonds heißen, und die sich der argentinischen Staatstitel habhaft gemacht haben, als sie kurz nach dem Bankrott völlig entwertet und daher sehr günstig zu haben waren. Manche der Gläubiger befinden sich in Deutschland und bestellen offenbar regelmäßig Artikel wie den erwähnten in der FAZ, der sich in Schmähreden über die mangelnde Zahlungsmoral der argentinischen Regierungen ergeht. Zwei Drittel der solchermaßen unerledigten argentinischen Staatsschuld wird von US-Bürgern oder -Institutionen gehalten, die seit fast einem Jahrzehnt dort gegen Argentinien prozessieren.

Und da hat ein Richter im Herbst beschlossen, daß aufgrund einer Gleichbehandlungsbestimmung auf diesen Anleihen – die vom argentinischen Staat garantiert wurde – die Einigung mit den 93% als gegenstandslos zu betrachten und die Auszahlungen an diese Gläubiger zu blockieren sind. Damit wird die gesamte Umschuldung Argentiniens in Frage und ein neuerlicher Staatsbankrott in Aussicht gestellt.

Das Erkenntnis des New Yorker Richters wurde wegen der Berufung Argentiniens ausgesetzt. Nächste Woche soll in einer neuerlichen Verhandlung beschlossen werden, ob der Berufung stattgegeben wird oder nicht. Die dort versammelten Richter entscheiden nicht nur über das Schicksal Argentiniens, sondern auch über die weitere Entwicklung der Kreditwürdigkeit der Staatsschulden weltweit.

EU ohne Großbritannien?

GEHT DAS UND WILL DAS ÜBERHAUPT WER?
David Cameron hat eine Volksbefragung über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU angekündigt – für 2017.
Das sind ja noch 4 Jahre, in denen alles mögliche passieren kann. Das erste, was auffällt, ist der drohende Charakter der Ankündigung, gepaart mit der Versicherung, daß die Sache ja noch Zeit hat. Cameron will also was von der EU. Was wohl?
1. mißtraut GB dem EU-Projekt angesichts der sich auftuenden Abgründe zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten, vor allem innerhalb der Eurozone. Damit steht die britische Regierung nicht allein da. Ferner hat sie gute Gründe, anzunehmen, daß die zunehmenden Kontrollmaßnahmen für den Finanzsektor viel von dem scheuen Finanzkapital aus Europa und an andere Weltbörsen treiben könnte.
2. bezieht die britische Wirtschaft ihre ganze Bedeutung aus der EU. Die Londoner City könnte mehr oder weniger zusperren, die Börse würde auf den Status einer der vielen mittleren Börsen der Welt herabsinken, auf jeden Fall hinter Frankfurt zurückfallen, sobald Großbritannien die EU verlassen würde.
Die wirtschaftlichen Probleme, die Großbritannien hat, würden sich durch einen EU-Austritt nicht verbessern, es würden aber neue hinzukommen.
Vor allem hat die Ankündigung, mit einem Austritt zu spielen, keine gute Wirkung auf die auf dergleichen makroökonomische Wirkungen sehr hellhörigen Finanzmärkte, und das wurde Cameron ja auch vorgeworfen: Daß er den gerade mühsam irgendwie angeblich befestigten Kredit der EU von neuem gefährdet.
Cameron selbst hat wahrscheinlich keinerlei Absichten, diesen ökonomischen Salto mortale tatsächlich zu vollziehen. Er möchte sich weiter dem Kapital der ganzen Welt als Umschlagplatz dienen, sich aber gegen alle Eingriffe, Steuern usw. aus Brüssel verwehren. Ob er das erreicht, und ob das internationale Kapital dieses Angebot auch reichlich wahrnimmt, wird sich erst weisen.
Die internationalen Reaktionen zeigen zunächst einiges über die nationalen Berechnungen anderer Staaten.
Die USA ermahnen Cameron, daß sie erstens kein Interesse am Auseinanderbrechen der EU haben, da sie ein wichtiger Handelspartner der USA ist, und erinnern ihn daran, daß GB gerade als trojanisches Pferd innerhalb der EU für sie Wert hat.
Deutschland versteht die Absicht der Erpressung, die hinter der Austrittsdrohung steht, bietet gleich bereitwillig Verständnis an und wachelt mit Sonderkonditionen für den Fall, daß GB sich in anderen Fragen hinter die deutsche Position stellen möge. Hier entstehen mögliche Allianzen zwischen dem Hüter der Eurozone und dem des Pfundes …
Italiens Monti wiederum sieht in Camerons Ankündigung Widerstand gegen Deutschlands und Frankreichs dominante Stellung und „Diktate“, während Frankreich sich über die unverschämte Erpressung, die es – zu Recht – darin erkennt, aufregt, allerdings sehr folgenlos, weil es keine ähnliche Erpressung parat hat.
Eine entzückende Völkerfamilie, die EU, isn’t it?
Die Journaille wiederum ergeht sich je nach Land und politischer Orientierung entweder in genüßlich ausgewalzten Schilderungen des miesen Charakters von Cameron und seiner angeblichen innenpolitischen Bedrängnis, die ihn zu derlei angeblichen Kamikaze-Schritten treibt. Oder sie greift gleich zur nationalistischen Hetze der Art: „So schleichts euch doch, ihr Deppen!“ – als ob die EU wegen der Vorlieben irgendwelcher Zeitungsschmierer zustandegekommen wäre.
Berechnungen aller Art, Dienst am Kapital, nationalistische Nebelgranaten, und handfeste Erpressungsversuche – ein harmonisches Bild beim Friedensnobelpreisträger 2012.