Das Vorrücken des Islamischen Staates

DSCHIHAD

Da sind wir also angelangt im 21. Jahrhundert, mit allgemeiner Schulpflicht, Aufklärung und Trennung von Staat und Kirche: perspektivlose Jugendliche aus Europa machen sich auf in den Nahen Osten, um dann dort genußvoll Leute zu enthaupten, zu kreuzigen und das auch noch mit moderner Technik der gesamten Welt in Wort und Bild mitzuteilen.

Rekapitulieren wir doch einmal die Vorgeschichte zu dieser Entwicklung.

1. Das Setzen auf den radikalen islamischen Fanatismus. Religion als Mittel der Politik

Die USA und deren in der NATO organisierte europäische Verbündete haben in ihrem Kampf gegen den Kommunismus und alles andere, was sich der von ihnen gestifteten Weltordnung, der pax americana widersetzt hat, immer auf die islamische Karte gesetzt.
Um der Sowjetunion „ihr Vietnam“ zu verschaffen, wurden die Gotteskrieger in Afghanistan mit allem Nötigen ausgerüstet und als „Freiheitskämpfer“ bejubelt. Gleichzeitig lief eine Kampagne gegen den Gottesstaat der Mullahs im Iran. Es störte anscheinend niemanden, daß die gleiche Mentalität hier hofiert, dort verteufelt wurde – alles nur unter dem Gesichtspunkt: sind sie für oder gegen uns?
In den Palästinensergebieten wurden die Aktivitäten der Muslimbrüderschaft toleriert, ja sogar unterstützt, um die Palästinenser zu spalten und die säkular und prosowjetisch orientierte Fatah zu schwächen. Der Gründer der Hamas, Scheich Jassin, den das israelische Militär 2004 durch zielgerichtete Raketen tötete, wurde bis Mitte der 80er Jahre von den israelischen Behörden nicht nur toleriert, sondern sogar aktiv gefördert. Die Fatah bezichtigte ihn de „Kollaboration mit dem Zionismus“. Auch Israel setzte also damals auf die islamische Karte, gegen den säkularen panarabischen Nationalismus.

Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater mehrer US-Präsidenten, wurde 1998 in einem Interview gefragt, ob dieses Setzen auf den islamischen Fundamentalismus nicht vielleicht ein Eigentor gewesen sei? Das war immerhin 5 Jahre nach dem ersten (Sprengstoff-)Anschlag auf das World Trade Center, der 6 Tote und über Tausend Verletzte forderte:

„Was denn wichtiger gewesen sei, fragte der einstige Carter-Vertraute empört zurück, »die Taleban oder der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums? Einige muslimische Hitzköpfe oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?« Die Darstellung des islamischen Fundamentalismus als weltweite Bedrohung – schon damals durchaus gängig – nannte Brzezinski 1998 schlicht »Blödsinn«.“

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die USA – in Zusammenarbeit mit anderen NATO-Staaten – einige Regierungen im arabischen Raum demontiert, die keine Anhänger des radikalen Islam waren und ihren Staat nach anderen Kriterien regiert haben, wie Saddam Hussein und Ghaddafi. Die USA und ihre Mitarbeiter haben dort religiöse Parteien installiert, wie im Irak, oder religiöse Gruppierungen unterstützt, wie in Libyen.
In Syrien wurden nach dem Ausbruch der Unruhen alle Parteien ins Recht gesetzt, die gegen das – ebenfalls säkulare – Regime von Assad waren. Manche wurden direkt vom Westen unterstützt, andere mit Billigung der USA von Katar und Saudi-Arabien.

Mit der Beibehaltung des Guantanamo-Lagers, und später mit der Hinrichtung von Osama Bin Laden 2011 wurde der islamischen Welt signalisiert: Ihr könnt machen, was ihr wollt – solange es nicht gegen die USA gerichtet ist! Die Einrichtung der Scharia – in Saudi-Arabien seit jeher üblich, im Iran seit der Revolution, in Ägypten seit Sadat – kein Problem! Mit euren Leuten könnt ihr machen, was ihr wollt. Aber unsere Interessen tastet nicht an!
Einzig mit den Schiiten ist die Sache nicht so klar, da sie alle irgendwie mit dem Iran in Verbindung stehen, oder solcher Verbindungen verdächtigt werden, und daher den USA prinzipiell unangenehm sind. Im Irak mußten sich die USA notgedrungen mit den Schiiten arrangieren, waren aber immer unzufrieden mit der Regierung, die sie installiert hatten, vor allem wegen deren Naheverhältnis zum Iran. Das ist wichtig, um die Nicht-Reaktion der USA zu begreifen, als die IS-Kämpfer im Irak vorrückten: die USA hielten sie eine Zeitlang anscheinend für ein probates Mittel, um sich der irakischen Führung zu entledigen.

Als der Bürgerkrieg in Syrien losging, war die westliche Politik und in ihrem Gefolge die Journaille einig: gegen Assad ist uns alles recht! Dies trotz der Tatsache, daß Syrien kein wirkliches Tabu des Westens gebrochen hatte, außer seinem Bündnis mit dem Iran. Sogar der Bürgerkrieg im Libanon wurde durch syrischen Einfluß beendet. Dennoch galt Syrien als ein „Regime“, dessen sich die USA entledigen wollte – koste es, was es wolle.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt des syrischen Bürgerkriegs: er wurde von Strategen der USA als eine Möglichkeit gesehen, die islamischen Fanatiker und Gotteskrieger als eine Art Magnet anzuziehen und an einem Ort zu konzentrieren. Das Schlachthaus Syrien sollte als eine Art Mistkübel dienen, in dem sich die islamischen Störenfriede gegenseitig fertigmachen, um andere Weltgegenden von ihnen zu „befreien“.
Diese Vorstellung hat sich angesichts der jüngeren Ereignisse sehr gründlich blamiert.

2. Die überflüssige Jugend

Die Europäische Union hat gerade durch den Erfolg des bei ihr versammelten Kapitals jede Menge überflüssiger Menschen produziert. Das ist ein Ergebnis dessen, wie das Kapital vorgeht: immer mehr lebendige, also von Menschen verrichtete Arbeit wird durch Maschinen – oder inzwischen durch Computer und Internet – ersetzt, weil dadurch die Gewinne der Unternehmen gesteigert werden. Das wird unter den sehr anerkannten Parolen „Produktivität“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ öffentlich gelobt und quasi heiliggesprochen. Das heißt nichts anderes als: immer mehr Menschen werden durch Maschinen oder Softwareprogramme überflüssig gemacht. Diese aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedenen werden dann als Belastung der sozialen Netze besprochen und durch Bücher wie Thilo Sarrazins Bestseller als Ballast für den Rest der „Nation“ an den Pranger gestellt.

Besonders betroffen ist durch diese Entwicklung die Jugend. Die nachwachsenden Arbeitskräfte können von dem bereits gesättigten Arbeitsmarkt nicht oder nur teilweise aufgesogen werden. Die von der Werbung hofierten „Kids“ gelten nur solange etwas, als sie zahlungsfähig sind. Mehr und mehr jungen Leuten wird von allen Seiten – Arbeitsämter, Medien, Polizei – beschieden, daß sie niemand brauchen kann und sie eigentlich nur im Weg sind. Die Jugendarbeitslosigkeit füllt diverse Studien der EU, die Politiker sehen sie als „Problem“, aber das ganze System ist so geartet, daß es für dieses Problem keine Lösung gibt. Es sind ihrer zu viele, und fertig.
Sobald sie sich mit dieser Perspektive des Elends, – gegenüber allen Propagandalügen völlig unabhängig von ihrer Ausbildung – nicht abfinden und entweder kriminell oder aufmüpfig werden, sehen sie sich der geballten Macht des Staates gegenüber, der über die Eigentumsordnung wacht.

Die Ermordung Carlo Giulianis 2001 war der Auftakt zu einer von den Medien abgesegneten und seither flächendeckend praktizierten Umgangsform mit Armut und Protest der Jugendlichen. Die Aufstände in der Banlieue 2005, die Unruhen in Großbritannien 2011, das Vorgehen gegen die „Empörten“ in Spanien 2011/2012 – all das hat aller Welt, vor allem aber den Betroffenen, vor Augen geführt, daß sie nichts gelten, ihre Anliegen nichtig sind, und daß sie dafür verhaftet, verprügelt, eingesperrt oder auch umgebracht werden können, ohne daß unser feines System von Freedom and Democracy dagegen irgendeine Handhabe bieten würde.

Daraus haben einige den Schluß gezogen, daß es besser ist, in den syrischen Bürgerkrieg zu ziehen. Er bietet einiges: Von Nullitäten, die nichts zu melden haben und Ohnmächtigen, die der Behördenwillkür ausgeliefert sind, können sie sich zu Herren über Leben und Tod verwandeln. Sie können andere Leben auslöschen und sich dadurch zu Mächtigen stilisieren. Aus dem unbedeutenden Omar X. in der französischen Banlieue oder dem Ramiz Y. aus einem Londoner Vorort wird so ein Henker, ein „Macher“, ein Vollstrecker.

Der syrische Dschihad bedient so ein sehr bürgerliches Bedürfnis, das nach Anerkennung: ein unbedeutender Mensch, der nichts hat und nichts kann, verschafft sich über Mord und Totschlag diejenige Stellung, die ihm die normale bürgerliche Gesellschaft verweigert hat, und wird zu einem Richter über Gut und Böse, und über die Berufung auf den einen und wahren Herrn zu einem Pantokrator, dem Richter über das Weltgeschehen.

3. Die Entwicklung in der muslimischen Welt

Die Vertreter des Islam begreifen ihre Religion als die Vollendung allen Glaubens, als die einzige monotheistische Religion der Welt. „Islam“ bedeutet Unterwerfung, Hingabe gegenüber dem einzigen und allmächtigen Gott. Alle anderen Religionen sind gegenüber dieser Vollendung inferior – entweder, sie sind Vorstufen des Islam, wie die Christen und Juden, oder sie sind Leugner derselben und deswegen zu vernichten. So steht es im Koran.
Da der Islam die höchste Stufe des Glaubens ist, so ist es ein Privileg, in diesen Glauben hinein geboren zu sein. Aus dem Islam gibt es keinen Austritt. Wer seine höhere Berufung verleugnet, fällt dem Gericht anheim. Wird er gefaßt, so ist er hinzurichten. Auf jeden Fall ist er vogelfrei, jeder kann ihn umlegen. (Ähnliches gab es im christlichen Glauben, wenn jemand von Papst in Acht und Bann getan wurde.)

Für den sunnitischen Islam gilt die Schia seit jeher als Häresie. Die Schiiten lehnen das Kalifat ab – es ist für sie eine unrechtmäßige Besetzung des höchsten Thrones des Islam. Sie warten auf den Erlöser – den Mahdi –, der den wahren Islam für alle einrichtet.

Das war alles nicht so tragisch, solange in den meisten muslimischen Staaten Regierungen an der Macht waren, die die Religion zu einer Privatsache erklärten, oder eine eigenständige Interpretation des Koran zum allgemeingültigen Dogma erhoben – wie Ghaddafi im Grünen Buch.

1970 erschien das Buch „Der islamische Staat“, in dem die Predigten Chomeinis in Nadschaf zusammengefaßt waren. Darin wird die Aufhebung der Trennung zwischen Staat und Kirche und die Wiedereinführung des islamischen Rechtes gefordert – nicht nur für den Iran. Chomeinis Ansicht war, daß der Islam nur in Form eines Gottesstaates existieren könne. Alles andere sei Verrat an den islamischen Glaubensprinzipien.

Die islamische Revolution 1979 und die Umsetzung von Chomeinis Vorstellungen im Iran setzten die saudische Führung unter Druck. Es konnte doch nicht sein, daß diese Ketzer auf der anderen Seite des Golfs sich päpstlicher als der Papst gaben und zu einer Art Vorbild für die islamische Welt machten! Also wurde betont, daß auch in Saudi-Arabien Kirche und Staat vereint seien, die Rechtssprechung verschärft, der Königswürde der Titel „Hüter der Heiligen Stätten“ hinzugefügt und ein Stiftungsprogramm für Koranschulen im Ausland aufgelegt, das durch seine Erfolge in Pakistan der Weltöffentlichkeit bekannt wurde: dort wurden die Taliban „erschaffen“.
Ab 1979 kamen mehrere Dinge zusammen, die eine militante Auslegung der islamischen Glaubenslehre begünstigten: Die als Fatwa erlassene Aufforderung an alle Muslime, sich am Dschihad gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans zu beteiligen, der Sieg der iranischen Revolution und auch die Besetzung der großen Moschee in Mekka, die mit über 300 Toten endete. Warum eigentlich nur gegen die sowjetische Besatzung eines Landes kämpfen? Was machen eigentlich diese ganzen Ausländer hier, die unsere Sitten verderben, unsere traditionelle Ökonomie ruinieren, ihre Frauen in aufreizender Weise zur Schau stellen, Alkohol und Prostitution einschleppen, usw. usf.? Eine Art Wettbewerb der militanten Moralwachteln ging los, einander an Orthodoxie und Militanz zu übertreffen.

Das Rennen um das Primat der Dschihadisten machte schließlich Al Kaida. Erstens waren ihre Anschläge nach dem Prinzip „Nicht kleckern, klotzen!“ ungleich wirkungsvoller als die der Konkurrenz. Außerdem brachte Ayman Al-Zawahiris Auslegung des Selbstmordattentats als legitimem Mittel des Dschihads so richtig Leben in die Bude, und eröffnete neue Formen des Terrors. Dazu kam die Entwicklung des Internets, das es Sinnsuchern auf dem ganzen Globus ermöglichte, in den Genuß ihrer Ergüsse, Predigten und Koraninterpretationen zu kommen. Der Dschihad erfaßte die ganze Welt.

Es war eine sehr dümmliche, Wildwestfilmen entlehnte Vorstellung der US-Politiker, durch die Beseitigung Bin Ladens diesen Prozeß in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Ein Hydra-Effekt trat ein: für den einen abgeschlagenen Kopf wuchsen unzählige andere, die den seligen Osama noch übertreffen wollen. So beantworten sich die neuen Gotteskrieger die Frage: Warum ist der Islam so schwach und kann dem verderblichen Einfluß der Ungläubigen nicht widerstehen? damit, daß sie jede Menge innere Feinde ausfindig machen: lauwarme Muslime, die ihren Glauben verraten, und andere Konfessionen, die sich wie Maden im Speck in der muslimischen Welt eingehaust haben und ständig als Kollaborateure der westlichen Mächte betätigen. Die Dschihadisten wurden zu Takfiren und beschlossen eine gründliche Säuberung aller Territorien, in denen sie sich breit gemacht hatten – mit demonstrativen öffentlichen Hinrichtungen, damit die Botschaft auch bei allen ankommt.

Als Ayman Al-Zawahiri voriges Jahr in einer Erklärung alle Gotteskrieger aufforderte, die Selbstzerfleischung aufzugeben und ihren Kampf auf die „Kreuzzügler gegen den Islam“, also den westlichen Imperialismus zu richten, war er bei seinem Zielpublikum durchgefallen. Was bildet sich der ein?! Und die Protagonisten des Islamischen Staates sagten sich von Al Kaida los und definierten ihr eigenes Programm:

Islamischer Staat – ja, das ist eine Sache. Aber dieser Staat hat jetzt keine Grenzen mehr und ist nicht auf irgendein Territorium beschränkt. Das Kalifat wird wieder errichtet, und die Weltherrschaft wird angestrebt. Islam für alle! Das ist das Ziel der aktuellen Dschihadisten.

Es wird schwer sein, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen.
– Der Kapitalismus und die Klassengesellschaft, die immer mehr Leute aussortieren und ihnen ihre Nutzlosigkeit auch noch als persönlichen Makel vorwerfen,
– das staatsbürgerlich-untertänige Bewußtsein, das alle Unzufriedenheit in Rechtskategorien einsortiert und nach Schuldigen sucht, die sich natürlich auch immer finden,
– und der höhere Sinn, den so eine Religion in schweren Zeiten stiftet
– all das arbeitet dieser Art von Idiotie in die Hände.

Der Argentinien-Krimi, neueste Folge

DER COUNTDOWN LÄUFT

„Es sind noch 23 Tage bis zu dem Zeitpunkt, an dem Argentinien die Zahlungen auf Schuldtitel einstellen könnte/müßte, die nach US- und europäischem Recht ausgegeben wurden.“ (El País, 11.7.)

Das ist die Frist, innerhalb Argentinien seine Schuld bei dem 1% der Gläubiger bezahlen müßte, die vor dem US-Gericht Recht auf die volle Auszahlung der Nominale plus Zinsen der von ihnen gehaltenen argentinischen Schuldtitel erhalten haben. Diese Gläubiger sind dadurch zu Erstgläubigern geworden, ihre Forderungen genießen damit Priorität gegenüber allen anderen. Die ihnen geschuldete Summe beträgt 1,3 Milliarden Dollar. Solange Argentinien diese 1,3 Milliarden nicht bezahlt, können diese Gläubiger alle Vermögenswerte Argentiniens pfänden. Das läßt sich international nicht so leicht durchsetzen, wie die bisherigen Versuche zeigen, dem argentinischen Staat gehörende Flugzeuge oder Schiffe zu beschlagnahmen.

Die bisherigen Vergleiche der argentinischen Regierung mit denjenigen 93 % der Gläubiger, die der Umschuldung zugestimmt haben, haben jedoch als Auszahlungsort die USA, wodurch auch die letzte Tranche der Schuldentilgung, die Argentinien überwiesen hat, vom Gericht beschlagnahmt worden ist. Argentinien kann also seine Schuld bei diesen 93% der Gläubiger nicht abzahlen, solange die 1% bei den Geierfonds – im weiteren der Einfachheit halber GF – nicht bezahlt sind.
Auch das herablassend-großzügige Angebot, das die GF Argentinien gemacht haben – die argentinische Regierung könnte einen Teil dieser Schuld in Staatsanleihen bezahlen – ändert am prinzipiellen Hammer dieser Schuldforderung nichts: Würde Argentinien diese 1,3 Milliarden auszahlen, so würden weitere 15 Milliarden von den restlichen 6% der Gläubiger eingeklagt werden, die den seinerzeitigen Vergleichen nicht zugestimmt haben und ebenfalls die volle Auszahlung der Schuld fordern. Und damit wären auch die Umschuldungen mit den restlichen 93 % der Gläubiger hinfällig und die ihnen gegenüber inzwischen auf 120 Milliarden angewachsene Schuld Argentiniens wäre wieder gültig.

Mit der Auszahlung der 1,3 Milliarden würde Argentinien also eine Schuld von 136,3 Milliarden Dollar anerkennen.
Wenn Argentinien nicht zahlt und dadurch wiederum bankrott ist, würde das die – sehr eingeschränkte, aber doch gegebene – Konvertibilität des Peso beenden. Alles ausländische Kapital, sofern flüssig, würde Argentinien sofort verlassen. Die Reserven der argentinischen Nationalbank sind viel zu gering, um durch Interventionskäufe einen solchen Vertrauensverlust aufzufangen. Damit wäre der ganze Außenhandel dieses – nach rund 20 Jahren IWF-Partnerschaft ziemlich desindustrialisierten – Landes gefährdet: Argentinien könnte nur mehr auf Tauschbasis importieren. Vor allem die Energieversorgung wäre gefährdet.

In ein paar Tagen wird in Brasilien über die Aufnahme Argentinien in die BRICS, die Errichtung einer Entwicklungsbank und eines Währungsfonds entschieden.

An der Behandlung Argentiniens wird weltweit viel Kritik laut, die sich beinahe ausnahmslos auf das Prinzip der Souveränität beruft und im Urteil des amerikanischen Gerichts eine Verletzung desselben erkennt. Das Ideal der Gemeinschaft gleichberechtigter Nationen wird gegen die Wirklichkeit der imperialistischen Weltordnung gekehrt.
Interessanterweise gab es seinerzeit keine Kritik von Menschen- und Völkerrechts-Anhängern, als Argentinien die Dollarparität mit dem IWF vereinbarte und Staatsanleihen mit Gerichtsstand USA auf den Weltbörsen ausgab. Das liegt zum einen an der geänderten Weltlage, aber zum anderen eben daran, daß in einem solchen Schritt niemand die Verletzung des Souveränitätsprinzips erkannte, die ihm innewohnte.

Ein Beispiel für diese Art von untertäniger Kritik, die sich sehr anklägerisch und rechtsbewußt gibt, liefert die argentinische Menschenrechts-Ikone Adolfo Pérez Esquivel:

„Es ist notwendig, das Gesetz anzuwenden, aber immer auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen »rechtlich« und »rechtmäßig«, zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, und anzuerkennen, daß dem Recht“ (welchem?) „zufolge die Binnenschuld gegenüber dem Volk Priorität hat: der Kampf gegen den Hunger, die Armut und die Ausgrenzung großer Sektoren der Bevölkerung.“ (El País, 11.7.)

Nun ja. Dafür hat er ja auch den Nobelpreis bekommen: für seine Fähigkeit, luftige und durch nichts gedeckte Rechtstitel aus dem Ärmel zu ziehen und unters Volk zu schleudern – und damit den Glauben an die prinzipielle Güte der Weltordnung in „großen Sektoren der Bevölkerung“ aufrecht zu erhalten.

Edward Schewardnadse, 1928-2014

BERUF: KONKURSVERWALTER

Auf den letzten sowjetischen Außenminister finden sich keine Nachrufe in den maßgeblichen russischen Zeitungen. Lediglich in einigen Zeitungen in ehemals sowjetischen Republiken wird er – auch eher kurz – als Weggefährte Gorbatschows bei seinem Projekt des „Umbaus“ der Sowjetunion gewürdigt, das in der Auflösung der SU endete.
In westlichen Ländern hingegen weiß man, was dieser Mann als Liquidator geleistet hat:

„Mit seinem Namen verbunden sind … : der sowjetische Rückzug aus Afghanistan, der Erfolg der Abrüstungspolitik, die Duldung und Förderung der politischen Umwälzungen in Osteuropa, die Vereinigung Deutschlands und die Zusammenarbeit mit den USA und den anderen Ländern des Westens gegen den Irak in der Golfkrise.“ (Spiegel Online, 7.7.)

Mit einem Wort, die Schwächung und das Verschwinden der Sowjetunion wird ihm in den Heimatländern von Freedom and Democracy zugutegehalten. Zu Recht, denn er war ja bis zum Schluß stolz darauf, der ehemals sozialistischen Welt die Freiheit gebracht zu haben und betrachtete alle unerfreulichen Folgen des Wandels als Kollateralschäden.
Bereits als Innenminister der georgischen Sowjetrepublik machte er sich einen Namen als „Reformer“.
Zur Erinnerung: „Reformer“ nannte man damals diejenigen Politiker-Parteibonzen, die marktwirtschaftliche Elemente in die sozialistische Planwirtschaft und demokratische Elemente in die „starren Machtstrukturen“ einführen wollten. Sie waren, wie man nachträglich sagen kann, Wühlmäuse im System da drüben und wurden als solche in westlichen Medien gelobt und gepriesen, und es wurde darum gebangt, ob sie sich auch „durchsetzen“ würden.
Der gute Ruf als Reformer genügte, damit ihn Gorbatschow kurz nach Amtsantritt nach Moskau berief und zum Außenminister machte – ein Amt, daß er auch sehr schöpferisch-reformerisch ausfüllte. Wenige Außenminister haben es je fertigggebracht, von Amtsantritt bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Amt derartig gründlich gegen die Interessen des eigenen Staates vorzugehen.
Irgendeine späte Einsicht scheint ihn noch befallen zu haben: „Es ist interessant, daß kurz vor dem Ende Schewardnadses in Rußland ein Dokumentarfilm lief und großes Interesse erweckte, in dem der Politiker sich der faktischen Zerstörung der Sowjetischen Armee zugunsten der USA beschuldigte.“ (EJ, weißrussische Tageszeitung, 7.7.)

Weil er sich auf der großen Bühne so gut bewährt hatte, kehrte er nach der Auflösung der SU nach Georgien zurück, wo gerade der erste gewählte Präsident, der vormalige Dissident Gamsachurdia, einen veritablen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen hatte, der schließlich zur Abspaltung einiger Landesteile führte. Den bis heute nicht geklärten Tod Gamsachurdias schob Schewardnadse Verrätern in dessen eigenen Reihen in die Schuhe. Georgien blieb zerrissen. Auf Schewardnadse wurden mehrere Attentate verübt. Schließlich wurde er in der sogenannten Rosenrevolution von seinen eigenen Polit-Zöglingen weggeputscht. (Der Name dieses Events rührt von einem Gedicht Gamsachurdias her, auf den sich Schewardnadses Nachfolger Saakaschvili stets bezog.) Schewardnadse lebte dann einige Zeit im Ausland, um seine Gesundheit zu schonen.
2012 bezeichnete er es als Fehler, Saakaschvili an die Macht gelassen zu haben.

Ja, es gibt eben keine großen Erfolge ohne kleine Mißgeschicke! Schewardnadse hielt es sich bis zum Schluß zugute, daß er wesentlich mitgeholfen hatte, daß heute in Rußland, Georgien und dieser ganzen Gegend Demokratie und die Marktwirtschaft herrschen.

Kleinere Fehler macht man bei solchen großen Unternehmungen immer wieder, das geht nicht anders.