Serie „Lateinamerika heute“. Teil 13: Uruguay

DIE SCHWEIZ SÜDAMERIKAS

Anfänge: Niemandsland
Während der Kolonialzeit entbehrte das Territorium des heutigen Uruguay jeglicher Bedeutung. Es finden sich nämlich dort keine Bodenschätze oder sonst etwas, das man unter den damaligen Bedingungen zu Geld machen konnte. Es war eine Art Grenzmark des spanischen Kolonialreichs gegen das portugiesische, mit unklaren Grenzen nach Norden und Osten hin.
Hin und wieder fielen portugiesische Menschenjäger ein, aber auch diese Besuche hatten Seltenheit: Das „Ostufer“, wie die Provinz im Osten des Rio Uruguay genannt wurde, war weit entfernt von den Metropolen des damaligen Brasilien, und die Gegend war dünn besiedelt.
Die Unabhängigkeitskriege einten zunächst die beiden Ufer des Río de la Plata gegen das spanische Mutterland. Später aber entwickelten sich zentralistische und föderalistische Vorstellungen zu einem Zankapfel zwischen Buenos Aires und dem Ostufer. Diesen Streit nutzten portugiesisch-brasilianische Truppen, um ihrerseits dieses Gebiet zu beanspruchen. Im Streit um die Gegend zwischen dem Rio de la Plata und der Stadt Porto Alegre verblutete und verschuldete sich vor allem das junge Argentinien, das sich diesen Krieg nicht leisten konnte.
So wurde schließlich unter Vermittlung Großbritanniens, die einen schwachen und willigen Staat an strategisch wichtiger Stelle wollten, das heutige Uruguay 1830 als unabhängiger Staat gegründet.
Bis heute gibt es Grenzstreitigkeiten zu Brasilien, und bis ins 20. Jahrhundert galt Großbritannien als eine Art Schutz-, aber auch Kontrollmacht Uruguays. Von dieser Schutzmacht wurde Uruguay in den Krieg des Dreibunds (1864-70) gegen Paraguay getrieben, der dieses Land völlig zerstörte.

Land ohne Leute
Die Gründer Uruguays, eines Staates von fremden Gnaden, waren allesamt Militärs, die in den verschiedenen Kriegen, Revolten und gegen die brasilianische Besatzung gekämpft hatten. Als neue Herren des Landes gingen sie ans Werk und teilten das Land unter sich auf. Eingeborene wurden verfolgt, versklavt und ausgerottet.
Bis heute ist Uruguay ein Land der Latifundien. Der größte Teil der Flächen von Uruguay – die alle recht flach und fruchtbar sind – wird von Rindern und Schafen bewohnt. Der daneben auch betriebene Ackerbau wird mit modernen Geräten unter möglichst geringem Einsatz von Menschen betrieben.
Die menschliche Bevölkerung Uruguays versammelt sich in den Städten: Von den dreieinhalb Millionen Einwohnern leben fast 2 im Großraum von Montevideo. Der Rest verteilt sich auf kleinere Städte, von denen nur zwei die 100.000-Einwohner-Grenze überschreiten.

Bunte gegen Weiße
An der Stellung zur Schutzmacht und zum Grundbesitz arbeiteten sich die beiden Parteien ab, die das Land mit jahrzehntelangen Bürgerkriegen überzogen, weil sich immer eine oder die andere Seite bei der Aufteilung des Kuchens übergangen fühlte.

Diese beiden Interessensgruppen bemühten sich gar nicht um besondere Programme, und benannten sich konsequenterweise nach Farben, die sie in der Schlacht aufgezogen hatten. Ihre Führer betrachteten Uruguay als ein Schachbrett, auf dem man sich durchsetzen mußte, und gerieten sich auch untereinander in die Haare. Nach jahrzehntelangen Bürgerkriegen unter Einbeziehung der Nachbarstaaten, die auch Flüchtlingswellen auslösten, einigten sich schließlich Großgrundbesitzer und Vertreter des inzwischen erstarkten Handelskapitals und Bürgertums von Montevideo auf eine Art Verteilungsschlüssel und Zusammenarbeit. Mit dem Präsidenten Battle beginnt auch der Umbau der Bunten Partei zu einer Art Wohlfahrtsstaat-Partei, mit Sozialgesetzgebung und Arbeitsrecht.
Hier zeigt sich eine Besonderheit Uruguays: Der Gegensatz zwischen Großgrundbesitz und städtischer Bourgeoisie nahm nie die Ausmaße an wie in anderen Nachfolgestaaten des spanischen Kolonialreiches. Uruguay zeichnet sich bis heute durch rege Zusammenarbeit zwischen den Eliten aus, wo das landwirtschaftliche Kapital in Industrie und Handel investiert wird, und umgekehrt das Handelskapital an der Modernisierung der Landwirtschaft beteiligt war.

Agrarwohlstand
Und siehe da, es stellte sich heraus, daß sich mit dem Export der Agrikulturprodukte – hauptsächlich Fleisch und Wolle – ein gutes Geschäft machen ließ, wenn nicht alle paar Jahre das Vieh durch marodierende Truppen dezimiert wurde. Uruguay verzeichnete in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts einen bescheidenen Wohlstand, der auch durch Einführung von Arbeitsschutzgesetzen und politischen Reformen sozialen Frieden bescherte. Im Schatten zweier Weltkriege funktionierte das Modell, und mit den Erlösen aus dem Wolle-, Leder- und Lebensmittelexport ließen sich auch die nötigen Importe finanzieren.

Uruguay stellt bis heute eine gewisse Besonderheit oder Anomalie des Weltmarkts dar. Auf Grundlage des Großgrundbesitzes und einer auf dem so organisierten Agrarsektor beruhenden Wirtschaft hat sich dieses Land ohne besondere Schuldenkrisen bis heute weitergebracht.
Die Grundherren betreiben auf Grundlage großer Flächen eine extensive Landwirtschaft, mit moderner Technologie, kommen aber mehrheitlich ohne Monsanto und ähnliche Manipulationen des Ertrages aus. Sie können ihre Produkte daher als „Bio“ verkaufen. Die hauptsächlichen Abnehmer uruguayischer Agrarprodukte sind Argentinien, Kanada und die EU.

An Uruguay kann man sehen, wie sich auf großen Flächen rationell produzieren läßt, ohne Agrarchemie aller Art ein- und den Endverbraucher diesem Zeug auszusetzen.
Obwohl einige seine Agrarproduzenten in den letzten Jahren auch auf den Chemie-Zug aufgesprungen sind, scheint dort inzwischen die Einsicht um sich zu greifen, daß man sich mit dem Ersatz von Qualität durch Masse eine wichtige Marktposition verspielt.

Handelsmetropole
Bereits in der Kolonialzeit war Montevideo ein wichtiger Hafen, unter anderem für den Sklavenhandel. Die afrikanischen Gefangenen wurden über Montevideo, den Paraná und den Rio Paraguay zu den Bergwerksdistrikten im spanischen Kolonialreich, im heutigen Peru und Bolivien transportiert. Vor allem nach der Unabhängigkeit baute Uruguay seinen Handel zwischen Großbritannien und den nunmehr unabhängigen Staaten Südamerikas aus. Es wurde zu einer Art Drehscheibe zwischen Brasilien, Argentinien, Großbritannien und dem Inneren des Kontinents. Außerdem wurde es eine wichtige Anlaufstelle für Migranten aus Europa. Gegenüber dem gegenüber am Rio de la Plata gelegenen Buenos Aires hatte Montevideo den Vorteil, weniger in die Machtkämpfe der Nach-Unabhängigkeitskriege hineingezogen zu werden.

Schließlich trug zur Entwicklung als Handelsmetropole auch die armenische Immigration bei. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sich viele Armenier in Montevideo niedergelassen, und die armenische Immigration stieg nach dem armenischen Völkermord von 1915 sprunghaft an. Die Armenier brachten internationale Handelsverbindungen und ein eigenes Kreditwesen mit, und trugen dazu bei, daß Montevideo weit mehr fremden Reichtum an sich ziehen konnte, als es seinem eigenen Hinterland entsprach.
Uruguay war auch das erste Land der Welt, das das armenische Genozid anerkannte.
Aufgrund seiner liberaleren Gesetzgebung zog Uruguay auch viel Tourismus aus Argentinien an. Montevideo, Colonia de Sacramento und Punta del Este wurden zu Wochenend-Destinationen der argentinischen Oberschicht, die einiges an Geld in deren Vergnügungsvierteln ließen.
Mit britischem und einheimischem Kapital wurde ein Eisenbahnnetz ausgebaut. Die flache bis hügelige Landschaft und das gemäßigte Klima (in Uruguay gibt es auch im Winter keinen Frost) setzte dem Ausbau eines Eisenbahn- und Straßennetzes wenig Hindernisse entgegen, sodaß die nötige Infrastruktur zustande kam, um die Agrarprodukte zu den Häfen, und Importwaren in alle Richtungen des Landes zu bringen.

Industrie und Gewerkschaften
Nach dem zweiten Weltkrieg setzte eine Industrialisierung ein. Seither wurde eine bedeutende Lebensmittelindustrie und sonstige Konsumgüterindustrie aufgebaut, die über den Inlandsbedarf hinaus auch über Exporte Devisen ins Land spült.
Eine weitere Besonderheit Uruguays ist, daß diese Industrie nicht über Kredite und Auslandsverschuldung aufgebaut wurde, sondern daß sich im Land selbst genug Kapital fand, um diese Industrialisierung zu stemmen.
Die Arbeiterklasse Uruguays ist also ein Produkt der jüngeren Geschichte. Daher haben die Gewerkschaften erst ab den 50-er Jahren nennenswerten Einfluß in Uruguay.
Die erste Gewerkschaft Uruguays, die anarchistische FORU (Regionaler Arbeiterbund Uruguays) wurde 1905 gegründet. Nach der russischen Oktoberrevolution spalteten sich kommunistisch orientierte Teile ab. Alle diese Gewerkschaften waren zwar legal, aber schwach und hatten wenig Einfluß. Erstens hatten sie wenige Mitglieder, die zweitens in verschiedensten Sektoren organisiert waren, von Landarbeitern über Handels- bis Hausangestellte oder Lehrer. Erst in den 60-er Jahren wurde die landesweite Gewerkschaft CNT (Nationaler Zusammenschluß der Arbeit) aus verschiedenen Einzelgewerkschaften gegründet, und setzte sich eine Agrarreform – also das Infragestellen des bisherigen Latifundien-Systems – und Verstaatlichung von Infrastruktur und Kühlhäusern zum Ziel.
Diese Gewerkschaft hatte also das Ziel, die bisherigen Besitzverhältnisse in Uruguay zu verändern.

Die Tupamaros und die Militärdiktatur 1973-1985

Aus dem Schoß der Gewerkschaftsbewegung formierte sich eine revolutionäre Studentenbewegung, die sich „Tupamaros“ nannte. Sie knüpften damit an eine uruguayische Guerillaarmee gegen die spanische Kolonialmacht aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts an, die sich nach dem indianischen Aufständischen Tupac Amaru (auf der Anden-Hochebene) gegen die spanische Kolonialmacht benannte. Sie waren das Vorbild der Bewegung 2. Juni, der RAF und der Roten Brigaden in Europa.
Die Tupamaros waren zunächst eine aktive Studenten- und Gewerkschaftsbewegung, bis sie sich 1968 aufgrund staatlicher Repression in einen Stadtguerilla umwandelten und zum bewaffneten Kampf übergingen. In einem Land, in dem außerhalb der Städte nur Vierbeiner leben, ist das eine logische Entwicklung. (Der Theoretiker der Stadtguerilla in Lateinamerika war der Brasilianer Carlos Marighella.) Der Höhepunkt ihrer Aktivitäten war der Überfall auf die der Kleinstadt Pando im Jahr 1969, wo einiges an Geld erbeutet wurde. Auch ein CIA-Agent wurde von ihnen entführt, verhört und die Ergebnisse dieses Verhörs der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Tupamaros beschlossen eine duale Strategie, mit einem außerparlamentarischem und einem legalen Flügel.
Es ist hier festzuhalten, daß die lateinamerikanischen Studenten-Revolutionäre, in erster Linie die Tupamaros, das Vorbild der europäischen waren.
Die Gefahr eines Wahlsieges bzw. einer Machtübernahme der linken Revolutionäre war schließlich der Grund für den Militärputsch von 1973. Die Militärregierung, die bis 1985 an der Macht war, arbeitete mit dem CIA im Rahmen der „Operation Condor“ zur Bekämpfung linker Bewegungen in Lateinamerika zusammen. Der sich zum Diktator erklärende, ursprünglich gewählte Präsident Bondaberry war erklärter Anhänger diktatorischen Regierens. Dennoch setzte ihn das Militär 1979 ab, weil er ihnen nicht die nötigen Freiheiten im Rahmen einer Verfassungsänderung zugestehen wollte.

Die uruguayische Diktatur zeichnet sich wiederum durch einige Besonderheiten aus.

Erstens gelang es den Militärs nie, die zivile Regierung völlig auszuschalten.
Während der Diktatur wurden Wahlen abgehalten, die aber von der Bevölkerung boykottiert wurden, da keine relevante Partei zugelassen war. Außerdem wurde ein Versuch gemacht, eine neue Verfassung zu erlassen, die die Militärregierung abgesegnet und als Regierungsform etabliert hätte. Diese Verfassung wurde einer Volksabstimmung ausgesetzt und von den Wahlberechtigten zurückgewiesen.
Die Militärregierung versuchte sich also durch Volksentscheid zu legitimieren und scheiterte dabei.
Zweitens führte die Übernahme durch das Militär zu einem Niedergang der uruguayischen Wirtschaft, deren größte Trumpfkarte stets Offenheit und freier Handel gewesen waren. Die Beschränkungen des Militärregimes, Kontrollen über Personen- und Warenverkehr und Unsicherheit über die weitere Entwicklung schreckten viele Handelspartner ab. Während der Militärdiktatur verzeichnete die uruguayische Wirtschaft einen Abschwung, das ausländische Kapital mied das Land.

Das war schließlich auch der Grund, die Militärherrschaft zu beenden und zum System der gewählten Regierungen zurückzukehren. Die Politiker und Militärs entschieden das frei, ohne Druck von außen, nachdem die linken Kritiker ausgeschaltet worden waren.
Während der Militärherrschaft wurden einige Hunderte Oppositionelle verhaftet, ermordet oder verschwanden spurlos. Die uruguayische Militärdiktatur erscheint dennoch, nach Zahlen und Methoden, relativ zurückhaltend im Vergleich zu anderen Staaten des Südzipfels Südamerikas.

Ihre Machthaber nutzten allerdings den Freiraum, der ihnen für den Kampf gegen die Subversion zugestanden worden war, auch für interne Machtkämpfe. Einige bürgerliche Politiker wurden von Todesschwadronen weggeräumt, auch im benachbarten Argentinien.
Die neue zivile Regierung einigte sich 1986 auf ein Gesetz der Nicht-Verfolgung der Militärs, die am Aufräumen gegen die Opposition teilgenommen hatten.
Die Unterlegenen entschieden sich für den parlamentarischen Weg und gründeten die „Breite Front“, ein Konglomerat aus linken, Umweltschutz- und sogar christlichen Gruppen, die seit 2005 in Uruguay regiert, und die beiden traditionellen Parteien Uruguays in die Opposition gedrängt hat.

Uruguay heute
Uruguay ist nach internationalen Studien der Staat Lateinamerikas mit der höchsten Alphabetisierungsrate und der geringsten Korruption Lateinamerikas. Auch in Sachen Medizin, Sozialwesen usw. kriegt Uruguay ausgezeichnete Noten.
An Uruguay bewahrheitet sich das Urteil seines bekanntesten Autors, Eduardo Galeano, über die „Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“: Uruguays Glück war es, daß seine Erde keine besonderen Reichtümer verbarg, deshalb gibt es dort auch nicht die extreme Armut, die in vielen andere Staaten Lateinamerikas üblich ist.

Uruguay hat übrigens eine der liberalsten Drogengesetzgebungen der Welt – der Besitz und Konsum von Marihuana ist straffrei, und sogar Anbau und Handel sind erlaubt.
Außenpolitisch positioniert sich die heutige Regierung Uruguays vorsichtig gegen die US-Hinterhof-Politik und deren Vertreter in Lateinamerika, sehr zum Ärger des ehemaligen Parteikollegen Luis Almagro, der heute als Vorsitzender der OAS die USA hofiert und deren Einmischung in Venezuela begrüßt.
Es steht zu erwarten, daß Uruguay bald in die Turbulenzen zwischen seinen Nachbarstaaten, dem aussichtslos überschuldeten Argentinien und dem von Faschisten und Größenwahnsinnigen regierten Brasilien gerät.

Pressespiegel: Hírklikk, 27.7. 2019 – Teil 2

ES IST ZWAR WIDERWÄRTIG, WAS IN UNGARN PASSIERT, ABER ES HERRSCHT ORDNUNG

G.M. Tamás im Gespräch mit Péter Németh – Fortsetzung des Interviews

Hältst da das alles für uninteressant?

Wenn Fidesz verurteilt wird, genauer: die ungarische Regierung, noch genauer: das Orbán-Regime – was passiert dann? Ungarn wird nicht aus der EU ausgeschlossen werden, obwohl das die einzige ernsthafte Strafmaßnahme wäre. Man kann mit verschiedenen schwachbrüstigen rechtlichen Prozeduren lästig sein, Rügen erteilen, aber damit richtet man nichts aus, das ist jedem inzwischen langweilig. Im Grunde will jeder Stabilität, weil der Westen hat nicht die Macht, in Osteuropa Veränderungen zustandezubringen, da er ja auch in der eigenen Gesellschaft nichts zuwege bringt, außer Zerfall, Dekadenz, politischem Absterben. Wir befinden uns weltweit in einer erschreckenden Lage, und das leistet den zerstörerischen Kräften Vorschub. Das schlimmste diktatorische System ist nicht in Ungarn, sondern in der Türkei – anders zwar, aber wirklich schauderhaft. Weißt du, was der große Unterschied zwischen der Türkei und Ungarn ist? Dort gibt es Widerstand, hier nicht.

Das heißt, aus Budapest wird nicht Istanbul.

Nehmen wir an, daß Gergely Karácsony zum (Ober-)Bürgermeister von Budapest gewählt wird, und auch der Stadtrat und die Bezirksräte eine mehrheitlich oppositionelle Mehrheit erhalten würden. Der Hauptstadt wurde jedoch schon seit längerer Zeit jeder wichtige Einflußbereich weggenommen. (Die Behörden der Stadt) werden nichts anderes machen können als jammern, daß Orbán ihnen für dieses und jenes kein Geld gibt. Istanbul hingegen hat jede Menge Geld und Macht. In der Türkei passieren schreckliche Dinge, Journalisten und Oppositionelle werden eingesperrt – aber gleichzeitg wurden die Grundrechte nicht angetastet. Es gibt eine Zensur, aber das ist weniger gefährlich als die Übernahme oder das Zusperren sämtlicher nennenswerter Medien. Freie Zeitungen mit weißen Flecken – das gabs auch in der österreichisch-ungarischen Monarchie, dennoch konnte dort ein damals revolutionäres Blatt wie die sozialdemokratische Népszava (= Volksstimme) erscheinen. Ihre Redakteure saßen in einem fort im Gefängnis in Vác (1), aber es gab eine freie Öffentlichkeit. Diese Presseprozesse und zensurierten Artikel waren winzige Nadelstiche im Vergleich zur heutigen Situation, wo der Zensor selbst das staatliche Fernsehen redigiert und – mit einer einzigen Ausnahme – jede Zeitung, hundert Portale (2), Blogs und Fakeseiten die staatliche Hasspropaganda in den Raum schmettern. Hierzulande wurde jeder bewegungsunfähig gemacht. Soweit sind sie in der Türkei noch nicht. Dort werden gefährliche Schritte zur Einschränkung der persönlichen Freiheit unternommen, Leute werden ins Gefängnis gesteckt, aber die Macht des Präsidenten ist nicht vollkommen. Bei uns ist es umgekehrt: Keiner wird verhaftet (nicht daß ich das möchte!), aber der Regierungschef macht, was er will.

1988 wurdest du verhaftet …

Ein paar Stunden lang.

Aber du wurdest doch verfolgt.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der mich Geheimdienste nicht bespitzelt und sekkiert hätten. (3)

Jetzt hingegen wirst du nicht einmal abgehört.

Wozu auch? Sie sehen ja meine Emails und Chatprotokolle.

Die sehen sie?

Natürlich sehen sie sie, wie denn auch nicht, sofern sie das wollen. Ich glaube aber nicht, daß sie Zeit haben, sie zu lesen. So wichtig bin ich nicht. Gedanken bedeuten keine Gefahr für dieses System – im Unterschied zum Realsozialismus, der eine Staatsdoktrin besaß und in dem die Intelligenzia eine führende Rolle einnahm. Diese Rolle ist vorbei, die spielen die Intellektuellen nirgends mehr. Jetzt gibt es eine allgemeine Krise, in der ist Ungarn ein Faktor und Beispiel. Die Krise kann verschiedene Formen haben. Die eine schaut so aus, daß es viel Lärm gibt und das Parlament brennt. Die andere besteht darin, daß niemand etwas macht, alle sitzen einsam im stillen Kämmerchen, und die, die an der Macht sind, haben freie Hand.

Ist es eine politische oder eine ökonomische Krise?

Die Wirtschaftskrise hält seit 2008 an, aus der die rechtsgerichtete ungarische Regierung nach 2010 einen Teil der Mittelklasse erfolgreich herausgefischt hat. Darüber gibt es keinen Zweifel. Es ist eine verlangsamte Krise, sie ist nicht so heftig wie 2008. Daraus entwickelte sich eine langsame Rezession der ganzen Weltwirtschaft. Die Propaganda der ungarischen Regierung beginnt jetzt zu erkennen, daß sich das Wachstum in Ungarn auch verringen wird – vor allem, wenn die Autoindustrie wegen der Klimakrise auf Grund fährt. In ganz Europa herrscht Krise, Rezession, Verfall. Noch dazu geht die klimatische Situation schneller den Bach hinunter, als man bisher annahm. Um diese Entwicklung auch nur zu verlangsamen, bedürfte es einer Art von internationaler Zusammenarbeit, die wegen des vorherrschenden Chauvinismus, des Rassismus, des Zerfalls der staatlichen Strukturen unvorstellbar ist. Die politische Krise hängt wie immer mit der ökonomischen und kulturellen Krise zusammen.

Was birgt die Zukunft?

Nix. Es gibt keinen Staat, der über eine ernstzunehmende, von allen angesehene, wagemutige und stabile Führung verfügt.

Frankreich?

Mit dem unbeliebtesten Präsidenten seiner Geschichte? Ein allseits verhasster Mensch, den Gendarmerie und Militär in seinem Palast schützen.

Von Macron kann man also nichts erwarten?

Wer vertraut ihm? Gibt es da wen? Ich höre dergleichen von dir zum ersten Mal. Macron ist im Grunde nicht blöd, aber er wird sich nicht lange an der Macht halten. Er häuft Fehlentscheidungen an, und jede Initiative von ihm endet mit einem Fiasko.

Aber es gibt viele, die an die deutsch-französische Zusammenarbeit glauben.

Na klar: Das sind zwei reiche, mächtige Staaten, mit viel Bildung und Tradition, die einander gut verstehen. Sie haben Bedeutung. Aber erstens ist die deutsche Führung unsicher, weil Merkel bei den gegenwärtigen Umständen unersetzbar ist. Sie muß aber ersetzt werden, weil sie nicht gut beisammen ist und zurücktreten will. Mit ihr geht aber alles Bisherige unter. Und da war auch nicht alles in Ordnung. Gegen Macron ist jedoch ganz Frankreich in Aufruhr. Er spielt relativ geschickt alle gegeneinander aus und versucht seine Gegner zu ermüden – mit Hilfe der dienstbereit an seiner Seite stehenden Medien – aber das alles reicht nicht aus.

Du meinst, wir haben keine Zukunft?

Das ist offensichtlich. Jeder weiß das. In den westlichen Medien lese ich nichts anderes. Aus, vorbei – das lese ich.

Welchen Ausweg gibt es?

Den Faschismus.

Das meinst du aber jetzt nicht ernst.

Was denn sonst!

Also noch einmal das Gleiche?

Nein, es wird nicht so. Das Wieder-Auferstehen des klassischen Faschismus, wie es Bolsonaro in Brasilien versucht, ist unmöglich. Die totalitären Methoden der seinerzeitigen faschistischen Diktaturen kann man nicht wiederholen. Es ist auch nicht notwendig.

Die Diktaturen modernisieren sich?

Vor fast 20 Jahren erschien mein Essay „Postfaschismus“, in neun Sprachen, auch auf Ungarisch. Schon damals erkannte ich, daß sich die faschistischen Systeme unter Umgehung der gewalttätigen, totalitären Methoden zwischen demokratischen Kulissen verwirklichen lassen. Damals (im Jahr 2000) war das noch eine überraschende Behauptung. Leider hatte ich recht. Leider.

Was für Perspektiven siehst du, außer daß alles aus ist? Weil das ist recht wenig.

Wenig? Das nennst du wenig, daß deine Kinder wie die Wurst in der Pfanne braten werden? Ist das nichts?

Du beziehst dich auf die Klimaveränderung?

Ja, genau. Das könnte man lösen. Wenn die Großmächte Führer hätten. Und wenn es ein politisches System gäbe, das zu rationalem Handeln imstande wäre, um die Menschheit zu retten. Bitteschön, schauen und hören wir uns irgendeine Rede von Donald Trump an. Zum Beispiel diesen Dienstag (den 23. Juli). Da machte er eine farbige Kongreßabgeordnete mit Migrationshintergrund ohne irgendeinen Grund nieder, mit erfundenen, aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen, vor einem kreischenden, begeisterten und völlig außer sich befindlichen Publikum. So könnte man bei uns nicht einmal in einem heruntergekommenen Wirtshaus in Soroksár mit einer Darts-Zielscheibe reden. Gibt es noch irgendwo ein Niveau? Wenn ja, so in einer wirklich totalitären Diktatur – in China. Dort reden sie wirklich nicht so, dort gibt es Niveau, Qualität, Ruhe, Ausblick in die Zukunft, Vernunft, dort wird geplant, und die Wissenschaft gilt etwas und erfreut sich großen Ansehens. Die technische und wirtschaftliche Entwicklung ist beeindruckend. Das ist derzeit der erfolgreichste Staat, gleichzeitig die fürchterlichste Diktatur, wo es kein Atom von Freiheit gibt. Das Gegenteil all dessen, woran ich glaube. Nun ja, nichts ist ewig, und diese schreckliche heutige Zeit wird auch vorübergehen, aber aufgrund der klimatischen und gesellschaftlichen Krise läuft uns die Zeit davon. Wenn das nicht so wäre, würde ich sagen: Na gut, in Ordnung, wir werden sterben, aber unsere Enkel werden schon etwas Besseres hervorbringen. Aber die Forschungen der UNO stellen fest, daß die Generation meiner heute 14-jährigen Tochter kürzer leben wird als die meinige Nachkriegsgeneration.

Wegen der Klimakrise?

Auch wegen des Hungers. Offensichtlich wird es am schlimmsten in Afrika, aber auch hier ist mit Tragödien zu rechnen. Die Leute planen ihren nächsten Urlaub, aber was auf die wartet, sind Hitze, Tornados, Dürre, Waldbrände, ausgetrocknete Flüsse, Anwachsen des Meeresspiegels, Hunger und Durst, Kriege und Bürgerkriege, und Millionen von Menschen auf der Flucht. Warum wandern die Leute von hier aus? Genau deshalb, weil sie sehen, daß sie hier keine Zukunft haben. Sie haben völlig recht. (Die Armen vergessen nur, daß sie woanders auch keine haben.) Es ist traurig, aber die Emigration aus Ungarn beginnt erst jetzt wirklich.

Wirklich?

In der Tat. Die Bevölkerung Rumäniens war vor 10 Jahren 23 Millionen – heute sind es 17 Millionen. Neueren Daten zufolge ist auch diese Zahl zu optimistisch. Angeblich fehlen in Rumänien nicht nur 5-6, sondern 9 Millionen. Es gibt ganze Landkreise, wo niemand mehr lebt, verfallende Dörfer, von den Kirchen fällt der Putz ab, die Bahnhöfe sind mit einem Vorhängeschloß versperrt, und überall sind Ratten. Gleichzeitg arbeiten Staaten daran, daß sich die Lage verschlimmert. Ich rede z.B. von denjenigen Regierungen, die die Klima-Konventionen nicht unterschreiben. Wie die ungarische, oder die amerikanische. Und diejenigen, die den UNO-Pakt zur Migrationsfrage nicht unterschreiben.

Warum wohl unterschreibt Orbán diese Pakte nicht?

Aus Überzeugung.

Was ist seine Überzeugung?

Er sagt viel, was er nicht glaubt, aber es ist sicher, daß er die Migration, d.h. die geopolitisch bedingte Rassenfrage als Haupt-Problem betrachtet. Den Umstand, daß dunkelhäutige, arme Leute mit anderer Religion und Sprache hierher kommen. Was natürlich ein großes Problem ist, nur ist es nicht die Ursache, sondern die Folge (anderer Probleme).

Deshalb, weil die hierherkommen, sobald Ungarn den Klimapakt unterzeichnet?

Nein. Sondern deshalb, weil Ungarn mit dessen Unterzeichnung diejenigen Organisationen bestärken würde, die es in der Migrationsfrage unter Druck setzen. Die Orbán-Regierung muß aufgrund ihrer eigenen Logik jegliche Art von Zusammenarbeit zurückweisen. Sie lehnte die Kooperation im Falle der Ermordung der maltesischen Journalistin ab und verhinderte eine gemeinsame Eklärung (der EU) gegen die Unterdrückung der Ujguren. Die ungarische Regierung nimmt in internationalen Organisationen die Haltung des Bojkotts, der Verhinderung, des Vetos ein. Sie ist damit nicht allein. Präsident Trump ist dabei für weit mehr verantwortlich. Dessen Regime nimmt sich die Vernichtung der internationalen und föderalen Strukturen vor. Die UNO ist sehr kompetent, aber alles, was sie verkündet, ist ein Ruf in der Wüste. Diese bedeutende Organisation mit vielen Unterorganisationen hat heute keinen Einfluß mehr. Man könnte diese ganze heruntergekommene Bude einfach zusperren. Niemand hört mehr auf sie. Die UNESCO bemüht sich, Ungarns Kulturerbe zu bewahren, während die ungarische Regierung es zerstört. Vergebens. Alles wird vernichtet.

Kannst du auch irgendwas Positives vermelden?

Na klar. Die Menschen wollen frei und glücklich sein, und auf ihre Art und Weise werden sie das verweigern, was hier abläuft. Man kann viele Leute in Angst und Schrecken versetzen, und es ist leicht, eine Atmosphäre des Hasses zu schaffen, aber das alles hat eine innere moralische und geistige Grenze. Wie lange kann man das Volk glauben machen, daß die Juden, die Araber, die Zigeuner, die Piresen (4), der Westen, die Liberalen, die Marxisten, die Freimaurer, die Muslime, die Schwulen, die Außerirdischen, die Pazifisten, die Feministinnen, oder die Reptil-Menschen schuld an allem sind? Wenn wir genug Zeit hätten, würde ich mir keine Sorgen machen. Weil, lieber Gott, es gab immer wieder schlimme Zeiten in der Menschheitsgeschichte, und sie sind vorübergegangen. Aber jetzt kommt für uns das Aus. Beziehungsweise nicht für uns, sondern für unsere unglücklichen Kinder und Enkel. Um uns (und in uns) verrottet und verbrennt alles.

So so, das sind also deine positiven Gedanken.

Ich kann den verehrten Lesern nichts anderes empfehlen als daß sie sich beeilen sollten. Wenn der heutige Kapitalismus mitsamt seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technischen, politischen, kulturellen, moralischen und – als Folge all dessen – ökologischen Krise aufrecht bleibt, so brauchen wir uns nicht mit der Zukunft beschäftigen, weil wir haben keine.

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(1) Das Vácer Gefängnis wurde 1854 eröffnet und diente zunächst zur Abwicklung der Repression für die Aufständischen von 1848/49. Es etablierte sich damit als eine Art Hochsicherheitsgefängnis speziell für politische Häftlinge, die es später auch in wechselnden Gesellschaftsformen beibehielt.

(2) Portal-Websites als Kombination von Werbung, Shopping-Seiten, Blogs und Nachrichten sind in Ungarn sehr verbreitet, weil sie angesichts der Neuausrichtung der Mediengesetzgebung beim Aufkommen des Internets gegenüber reinen Informationsmedien steuerlich begünstigt waren.

(3) G.M. Tamás stammt aus Cluj, gehört zur ungarischen Minderheit in Rumänien und haute in den 70-er Jahren vor der Verfolgung der Securitate nach Ungarn ab, wo er als Dissident ins Visier des ungarischen Geheimdienstes geriet.

(4) Die Piresen sind eine erfundene Ethnie, die vom Meinungsforschungsinstitut Tarki in die Welt gesetzt wurden, um die Ausländerfeindlichkeit in Ungarn zu testen. „Würden Sie zustimmen, daß die Piresen nach Ungarn kommen und sich hier niederlassen dürfen?“ – was von ca. 60% mit „Nein“ beantwortet wurde.

Pressespiegel: Hírklikk, 27.7. 2019

ES IST ZWAR WIDERWÄRTIG, WAS IN UNGARN PASSIERT, ABER ES HERRSCHT ORDNUNG
G.M. Tamás im Gespräch mit Péter Németh
(Original hier)

Die ungarische Regierung hat mit der Außenwelt gebrochen, worin auch die Intelligenzia und die Schüler und Studenten inbegriffen sind, – das sagt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás in seinem Interview mit HÍRKLIKK. Im Zusammenhang damit formulierte er seine Überlegungen, warum Proteste im In- und Ausland wirkungslos bleiben. Er betont auch, daß man diese gegenwärtige (ungarische) Regierung mit friedlichen Mitteln nicht loswerden kann. In Ungarn gibt es einen neuen, modernen Faschismus. Aber es gibt auch größeres Unheil: Der Klimawandel wird zu einer dramatischen Situation führen. Dazu sagt G.M. Tamás: Deine Kinder werden anbrennen wie die Wurst in der Pfanne.

Am Tag des Erscheinens dieses Interviews tritt Viktor Orbán in Baile Tusnad (1) auf. Was meinst du, wird er eine angriffslustige oder eher neutrale Rede halten? Es geht um den Konflikt mit der EU und der Europäischen Volkspartei.

Es ist mir total wurscht, was Viktor Orbán in Baile Tusnad verkündet. Ich halte es nicht für wichtig. Wir kennen das Programm: Einmal ruft er auf zum Krieg, ein anderes Mal beruhigt er das Publikum wieder. Zwischen diesen beiden Polen bewegt er sich, denn die Unterdrücker-Systeme bestehen aus diesen 2 Elementen. Einmal muß man die Leute mobilisieren – aber nicht zuviel, weil das gibt Scherereien –, ein anderes Mal muß man zu Ruhe und Ordnung aufrufen. Man muß die Leute gleichzeitig bewegen und ruhigstellen.

Die Soziologin Zsófia Nagy meint, Orbán wählt absichtlich gesellschaftliche Gruppen als Feindbild aus, möglichst solche, die keine Möglichkeit zum Widerstand haben. Läßt dich dieses Problem auch kalt?

Seit dem Fall Napoleons und der Heiligen Allianz, also seit 200 Jahren, ist das die Taktik der herrschenden Klasse. Vorurteile gabs immer. Aber seit damals ist die Hasspropaganda ein wichtiger und offizieller Teil der Staatsverwaltung und des staatlichen Lebens. Ideologische Manipulation ist eine grundlegende Funktion des modernen Staates. Meistens richtet es sich gegen solche Gruppen, deren Ruinierung keine besonderen Probleme hervorruft. Dafür werden vorhandene Vorurteile gegen rassische Unterschiede oder solche des Geschlechts benutzt – (oder auch das Generationsproblem: denken wir nur an die Hetze gegen die Jugend 1968!) und verbinden die mit den beiden klassischen gesellschaftsbezogenen Gefühlen. Das eine davon ist der Brotneid, das andere die Existenzangst. Von den wohlhabenden, einflußreichen gebildeten „Fremden“ grenzen sie sich moralisch ab; die armen, gesellschaftlich ausgegrenzten, Forderungen stellenden „Fremden“ halten sie für gefährlich. Es ist im Interesse des modernen kapitalistischen Staates, die berechtigte gesellschaftliche Unzufriedenheit gegen die – scheinbar oder tatsächlich – auf der obersten und untersten gesellschaftlichen Stufe stehenden Gruppen zu lenken, wenn diese als fremd oder gesellschaftlich verwerflich gelten. Diese Taktik hat schon zu Massenmorden, massenhaften Deportationen und Bürgerkriegen geführt und tut dies auch heute (denken wir an die Rohingya, die Genozide in Ruanda und Ex-Jugoslawien), aber der Staat lernt nicht.

Aber es ist doch nicht uninteressant, was so vorgeht. Als ich das letzte Mal hier war, wurde gerade die Ruinierung CEU (2) betrieben, derzeit diejenige der Akademie der Wissenschaften (3)

Ist schon geschehen.

Ja, es ist geschehen, ich wollte nur sagen, daß diese Aktionen der Regierung auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen sind.

Das stimmt so nicht. Es gibt keine Universität, Akademie, wissenschaftliche Gesellschaft, Rektorenkonferenz, Schriftstellervereinigung, die nicht gegen dieses Zerstörungswerk aufgetreten ist. Regierungen haben protestiert, der Widerstand war gewaltig, aber das bedeutete der ungarischen Regierung nichts, weil sie hat mit der Außenwelt gebrochen, worin auch die Intelligenzia und die Schüler und Studenten inbegriffen sind. Die Meinung der britischen, französischen und deutschen Akademien, von Sorbonne, Cambridge, Oxford, Harvard und Yale würde die französische oder deutsche Regierung (immerhin Großmächte) von solchen plumpen Maßnahmen abhalten. Aber Orbán nicht. Nicht deshalb, weil er so viel Macht hat, sondern deshalb, weil er Ungarn soweit gebracht hat, daß es nicht mehr zu den zivilisierten Nationen gehört. Ihm ist das ganz gleichgültig.

Aber warum ist es den Mitgliedern der ungarischen Gesellschaft gleichgültig?

Es ist ihnen überhaupt nicht gleichgültig. Es gab ja große Demos und Proteste. Alle Organisationen der Geisteswelt verurteilten diese Vorgangsweise, auch die Konservativen. Weder in Ungarn noch in Siebenbürgen und der Vojvodina gibt es eine Universität, einen Lehrstuhl, eine wissenschaftliche Gesellschaft, die nicht protestiert hätte. Der Aufschrei ging von Sibirien bis Kalifornien. Auch Demonstrationen gab es.

Das heißt aber, daß es keine Macht in Ungarn gibt, die Orbán von seinen Absichten abbringen oder diese Regierung loswerden könnte.

Es gibt keine Chance, in keiner Hinsicht und auf keine Art, diese Regierung zu beseitigen. Das ist eben das Wesen einer Diktatur: friedlich kann man sie nicht beseitigen, es gibt keinen Herausforderer im Inneren, der Aussicht auf Erfolg hätte. Über was wundern wir uns?
Vor 30 Jahren, zur Zeit des Systemwechsels, hätten wir uns das freilich nicht gedacht. Aber seit 9 Jahren, seit 2010, haben wir ein neues System, nicht das, was ’89 entstanden ist. Es ist sinnlos, sich über das vorige zu unterhalten, das war anders. Das war ein verfassungskonformer, liberaler, pluralistischer Rechtsstaat, was man vom jetzigen nicht sagen kann.

Es ist sinnlos, sich über das zu unterhalten, für das du aktiv gekämpft hast? (4)

Nein. Es ist vorbei, aus, Schluß. Dieses System lebte von 1989 bis 2010. Ein abgeschlossenes Kapitel. Es war eine wichtige Epoche, aber sie ist abgeschlossen. Noch dazu ist es ein Zeitabschnitt, den die heute Lebenden im historischen Sinne zurückweisen, verachten, verurteilen. Weil sie ihn (nicht zu Unrecht) mit der Privatisierung, der Arbeitslosigkeit, den Kürzungen und den dauernden Debatten verbinden.

Manche würden da sagen: Wir könnten nicht ruhig hier sizen und auf die Regierung schimpfen, wenn es wirklich eine diktatorische wäre.

Das stimmt nicht. Warum zum Teufel sollten Orbán und seine Freunde beunruhigt sein über das, was wir hier besprechen, wenn das ihr System nicht im Geringsten gefährdet? Sie sind ja nicht verrückt. Von uns geht überhaupt keine Gefahr für sie aus.

Wir sind sozusagen das Feigenblatt?

Nicht einmal das. Wir sind völlig irrelevant.

Was soll ein denkender Mensch unter solchen Umständen tun?

In den 200 Jahren, seit der moderne Staat mit seinem unterdrückerischen Charakter besteht, gab es – wenn es hoch kommt – insgesamt 20 Jahre, wo so etwas wie Freiheit herrschte. 20 aus 200. In den restlichen 180 Jahren lebten die Menschen auch, und schufen einiges. Das ist alles nichts Neues. Der Mensch erledigt sein Tagwerk, versucht sich frei zu bewegen und kritisch zu denken, den Rest überläßt er der Vorsehung.

Das meinst du aber jetzt nicht ernst!

Das ist mein tödlicher Ernst.

Ich glaube es deshalb nicht, weil du ein sehr leidenschaftlicher Mensch bist.

Natürlich bin ich leidenschaftlich, aber ich bin gleichzeitig nicht naiv. Ich habe keine Illusionen. Dieses System ist von innen her nicht zu knacken. Solange die heute gültigen Regeln eingehalten werden, läßt sich da nichts machen. Auf eine friedliche Veränderung brauchen wir nicht hoffen.

Die vorherrschende Meinung ist, daß eine Veränderung nur von innen kommen kann, nicht von außen.

Von außen ginge es, aber die Betreffenden wollen das nicht.

Warum nicht?

Weil hier Ordnung herrscht. Mit Ungarn gibt es kein Gfrett, zum Unterschied von Somalia, Sudan, Tschad, Irak, Äthiopien. Dort sprechen die Waffen. Es ist zwar abstoßend, was in Ungarn passiert, aber hier herrscht Ordnung. Hier wird auch einmal ein Zusammenbruch kommen, Chaos, radikale Veränderungen – wenn es zu spät ist. Aber das wünsche ich niemandem, genausowenig, wie ich jemandem dieses eklige System wünsche, das von Gier, Materialismus, Angst und Chauvinismus zusammengehalten wird.

Das heißt, es gibt gar keinen Kampf der EU für den Rechtsstaat?

Natürlich hätten sie gerne einen Rechtsstaat, aber wichtiger als der osteuropäische Rechtsstaat ist ihnen, in der Früh Kaffee mit Milchschaum im Bett trinken zu können und nicht im Schützengraben verrecken zu müssen. Wer will Krieg? Wer will Konflikte? Wer will Armut und Elend? Niemand. Wenn man aber ein Land ernsthaft unter Druck setzt, so verursacht das Konflikte. Die EU bewegt sich sowieso auf ihre Auflösung zu. Keiner will Probleme, schon gar nicht dann, wenn es auch so schon genug Sorgen gibt.

Du sagst also, daß das Auftreten der Volkspartei gegen Fidesz (5) …

Bitte erwähne diese Europäische Volkspartei nicht, sie ist völlig bedeutungslos. Die europäischen Parteienfamilien leben vor allem in der ungarischen Presse, im Westen sind sie unbekannt. Sie wurden zu einer Art ungarischer Manie, als ein Aspekt der Orbán-Manie und der Orbán-Phobie. Ich sag’s noch einmal: Woanders interessieren die niemanden. Und zu Recht. Sie sind bedeutungslos.

Zumindest für uns sind sie unter dem Gesichtspunkt wichtig, daß sie Fidesz zur Ordnung rufen wollen.

Sie haben einen schwachen Versuch in die Richtung gemacht. Für mehr reichte es nicht.

Ist deiner Ansicht nach der Versuch bereits gescheitert?

Sicher bin ich nicht, ich glaube aber schon. Wer weiß, wie lange dieses folgenlose Hin und Her noch weitergeht.

—– 2. Teil des Interviews ——

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(1) Eine Stadt in Rumänien, im Siedlungsgebiet der ungarischen Minderheit, wo seit Anfang der 90-er Jahre eine „Sommeruniversität“ stattfindet, die aber keineswegs der Wissenschaft huldigt, sondern der Selbstdarstellung ungarischer Politiker dient, die Siebenbürgen als ihre Bühne betrachten.

(2) Central European University, von George Soros gegründete Privatuniversität, die sehr großzügig Stipendien an Studenten aus ehemals sozialistischen Staaten verteilt. Aufgrund angeblicher verbotener Finanzierung wurde diese Institution 2018 zum Umzug nach Österreich genötigt.

(3) Die Ungarische Akademie der Wissenschaften (MTA) soll in Zukunft alle Forschungsprojekte vom Ministerium für Innovation und Technologie genehmigt bekommen, was der bisherigen Funktionsweise dieser Institution widerspricht.

(4) G.M. Tamás war Gründungsmitglied des Bundes Freier Demokraten und saß mehrere Jahre als Abgeordneter im Parlament.

(5) Die Europäische Volkspartei wollte Fidesz aus ihren Reihen ausschließen, ließ es aber dann doch bleiben, weil das interne Risse bei der EVP vergrößert hätte.