Pressespiegel: Hírklikk, 27.7. 2019 – Teil 2

ES IST ZWAR WIDERWÄRTIG, WAS IN UNGARN PASSIERT, ABER ES HERRSCHT ORDNUNG

G.M. Tamás im Gespräch mit Péter Németh – Fortsetzung des Interviews

Hältst da das alles für uninteressant?

Wenn Fidesz verurteilt wird, genauer: die ungarische Regierung, noch genauer: das Orbán-Regime – was passiert dann? Ungarn wird nicht aus der EU ausgeschlossen werden, obwohl das die einzige ernsthafte Strafmaßnahme wäre. Man kann mit verschiedenen schwachbrüstigen rechtlichen Prozeduren lästig sein, Rügen erteilen, aber damit richtet man nichts aus, das ist jedem inzwischen langweilig. Im Grunde will jeder Stabilität, weil der Westen hat nicht die Macht, in Osteuropa Veränderungen zustandezubringen, da er ja auch in der eigenen Gesellschaft nichts zuwege bringt, außer Zerfall, Dekadenz, politischem Absterben. Wir befinden uns weltweit in einer erschreckenden Lage, und das leistet den zerstörerischen Kräften Vorschub. Das schlimmste diktatorische System ist nicht in Ungarn, sondern in der Türkei – anders zwar, aber wirklich schauderhaft. Weißt du, was der große Unterschied zwischen der Türkei und Ungarn ist? Dort gibt es Widerstand, hier nicht.

Das heißt, aus Budapest wird nicht Istanbul.

Nehmen wir an, daß Gergely Karácsony zum (Ober-)Bürgermeister von Budapest gewählt wird, und auch der Stadtrat und die Bezirksräte eine mehrheitlich oppositionelle Mehrheit erhalten würden. Der Hauptstadt wurde jedoch schon seit längerer Zeit jeder wichtige Einflußbereich weggenommen. (Die Behörden der Stadt) werden nichts anderes machen können als jammern, daß Orbán ihnen für dieses und jenes kein Geld gibt. Istanbul hingegen hat jede Menge Geld und Macht. In der Türkei passieren schreckliche Dinge, Journalisten und Oppositionelle werden eingesperrt – aber gleichzeitg wurden die Grundrechte nicht angetastet. Es gibt eine Zensur, aber das ist weniger gefährlich als die Übernahme oder das Zusperren sämtlicher nennenswerter Medien. Freie Zeitungen mit weißen Flecken – das gabs auch in der österreichisch-ungarischen Monarchie, dennoch konnte dort ein damals revolutionäres Blatt wie die sozialdemokratische Népszava (= Volksstimme) erscheinen. Ihre Redakteure saßen in einem fort im Gefängnis in Vác (1), aber es gab eine freie Öffentlichkeit. Diese Presseprozesse und zensurierten Artikel waren winzige Nadelstiche im Vergleich zur heutigen Situation, wo der Zensor selbst das staatliche Fernsehen redigiert und – mit einer einzigen Ausnahme – jede Zeitung, hundert Portale (2), Blogs und Fakeseiten die staatliche Hasspropaganda in den Raum schmettern. Hierzulande wurde jeder bewegungsunfähig gemacht. Soweit sind sie in der Türkei noch nicht. Dort werden gefährliche Schritte zur Einschränkung der persönlichen Freiheit unternommen, Leute werden ins Gefängnis gesteckt, aber die Macht des Präsidenten ist nicht vollkommen. Bei uns ist es umgekehrt: Keiner wird verhaftet (nicht daß ich das möchte!), aber der Regierungschef macht, was er will.

1988 wurdest du verhaftet …

Ein paar Stunden lang.

Aber du wurdest doch verfolgt.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der mich Geheimdienste nicht bespitzelt und sekkiert hätten. (3)

Jetzt hingegen wirst du nicht einmal abgehört.

Wozu auch? Sie sehen ja meine Emails und Chatprotokolle.

Die sehen sie?

Natürlich sehen sie sie, wie denn auch nicht, sofern sie das wollen. Ich glaube aber nicht, daß sie Zeit haben, sie zu lesen. So wichtig bin ich nicht. Gedanken bedeuten keine Gefahr für dieses System – im Unterschied zum Realsozialismus, der eine Staatsdoktrin besaß und in dem die Intelligenzia eine führende Rolle einnahm. Diese Rolle ist vorbei, die spielen die Intellektuellen nirgends mehr. Jetzt gibt es eine allgemeine Krise, in der ist Ungarn ein Faktor und Beispiel. Die Krise kann verschiedene Formen haben. Die eine schaut so aus, daß es viel Lärm gibt und das Parlament brennt. Die andere besteht darin, daß niemand etwas macht, alle sitzen einsam im stillen Kämmerchen, und die, die an der Macht sind, haben freie Hand.

Ist es eine politische oder eine ökonomische Krise?

Die Wirtschaftskrise hält seit 2008 an, aus der die rechtsgerichtete ungarische Regierung nach 2010 einen Teil der Mittelklasse erfolgreich herausgefischt hat. Darüber gibt es keinen Zweifel. Es ist eine verlangsamte Krise, sie ist nicht so heftig wie 2008. Daraus entwickelte sich eine langsame Rezession der ganzen Weltwirtschaft. Die Propaganda der ungarischen Regierung beginnt jetzt zu erkennen, daß sich das Wachstum in Ungarn auch verringen wird – vor allem, wenn die Autoindustrie wegen der Klimakrise auf Grund fährt. In ganz Europa herrscht Krise, Rezession, Verfall. Noch dazu geht die klimatische Situation schneller den Bach hinunter, als man bisher annahm. Um diese Entwicklung auch nur zu verlangsamen, bedürfte es einer Art von internationaler Zusammenarbeit, die wegen des vorherrschenden Chauvinismus, des Rassismus, des Zerfalls der staatlichen Strukturen unvorstellbar ist. Die politische Krise hängt wie immer mit der ökonomischen und kulturellen Krise zusammen.

Was birgt die Zukunft?

Nix. Es gibt keinen Staat, der über eine ernstzunehmende, von allen angesehene, wagemutige und stabile Führung verfügt.

Frankreich?

Mit dem unbeliebtesten Präsidenten seiner Geschichte? Ein allseits verhasster Mensch, den Gendarmerie und Militär in seinem Palast schützen.

Von Macron kann man also nichts erwarten?

Wer vertraut ihm? Gibt es da wen? Ich höre dergleichen von dir zum ersten Mal. Macron ist im Grunde nicht blöd, aber er wird sich nicht lange an der Macht halten. Er häuft Fehlentscheidungen an, und jede Initiative von ihm endet mit einem Fiasko.

Aber es gibt viele, die an die deutsch-französische Zusammenarbeit glauben.

Na klar: Das sind zwei reiche, mächtige Staaten, mit viel Bildung und Tradition, die einander gut verstehen. Sie haben Bedeutung. Aber erstens ist die deutsche Führung unsicher, weil Merkel bei den gegenwärtigen Umständen unersetzbar ist. Sie muß aber ersetzt werden, weil sie nicht gut beisammen ist und zurücktreten will. Mit ihr geht aber alles Bisherige unter. Und da war auch nicht alles in Ordnung. Gegen Macron ist jedoch ganz Frankreich in Aufruhr. Er spielt relativ geschickt alle gegeneinander aus und versucht seine Gegner zu ermüden – mit Hilfe der dienstbereit an seiner Seite stehenden Medien – aber das alles reicht nicht aus.

Du meinst, wir haben keine Zukunft?

Das ist offensichtlich. Jeder weiß das. In den westlichen Medien lese ich nichts anderes. Aus, vorbei – das lese ich.

Welchen Ausweg gibt es?

Den Faschismus.

Das meinst du aber jetzt nicht ernst.

Was denn sonst!

Also noch einmal das Gleiche?

Nein, es wird nicht so. Das Wieder-Auferstehen des klassischen Faschismus, wie es Bolsonaro in Brasilien versucht, ist unmöglich. Die totalitären Methoden der seinerzeitigen faschistischen Diktaturen kann man nicht wiederholen. Es ist auch nicht notwendig.

Die Diktaturen modernisieren sich?

Vor fast 20 Jahren erschien mein Essay „Postfaschismus“, in neun Sprachen, auch auf Ungarisch. Schon damals erkannte ich, daß sich die faschistischen Systeme unter Umgehung der gewalttätigen, totalitären Methoden zwischen demokratischen Kulissen verwirklichen lassen. Damals (im Jahr 2000) war das noch eine überraschende Behauptung. Leider hatte ich recht. Leider.

Was für Perspektiven siehst du, außer daß alles aus ist? Weil das ist recht wenig.

Wenig? Das nennst du wenig, daß deine Kinder wie die Wurst in der Pfanne braten werden? Ist das nichts?

Du beziehst dich auf die Klimaveränderung?

Ja, genau. Das könnte man lösen. Wenn die Großmächte Führer hätten. Und wenn es ein politisches System gäbe, das zu rationalem Handeln imstande wäre, um die Menschheit zu retten. Bitteschön, schauen und hören wir uns irgendeine Rede von Donald Trump an. Zum Beispiel diesen Dienstag (den 23. Juli). Da machte er eine farbige Kongreßabgeordnete mit Migrationshintergrund ohne irgendeinen Grund nieder, mit erfundenen, aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen, vor einem kreischenden, begeisterten und völlig außer sich befindlichen Publikum. So könnte man bei uns nicht einmal in einem heruntergekommenen Wirtshaus in Soroksár mit einer Darts-Zielscheibe reden. Gibt es noch irgendwo ein Niveau? Wenn ja, so in einer wirklich totalitären Diktatur – in China. Dort reden sie wirklich nicht so, dort gibt es Niveau, Qualität, Ruhe, Ausblick in die Zukunft, Vernunft, dort wird geplant, und die Wissenschaft gilt etwas und erfreut sich großen Ansehens. Die technische und wirtschaftliche Entwicklung ist beeindruckend. Das ist derzeit der erfolgreichste Staat, gleichzeitig die fürchterlichste Diktatur, wo es kein Atom von Freiheit gibt. Das Gegenteil all dessen, woran ich glaube. Nun ja, nichts ist ewig, und diese schreckliche heutige Zeit wird auch vorübergehen, aber aufgrund der klimatischen und gesellschaftlichen Krise läuft uns die Zeit davon. Wenn das nicht so wäre, würde ich sagen: Na gut, in Ordnung, wir werden sterben, aber unsere Enkel werden schon etwas Besseres hervorbringen. Aber die Forschungen der UNO stellen fest, daß die Generation meiner heute 14-jährigen Tochter kürzer leben wird als die meinige Nachkriegsgeneration.

Wegen der Klimakrise?

Auch wegen des Hungers. Offensichtlich wird es am schlimmsten in Afrika, aber auch hier ist mit Tragödien zu rechnen. Die Leute planen ihren nächsten Urlaub, aber was auf die wartet, sind Hitze, Tornados, Dürre, Waldbrände, ausgetrocknete Flüsse, Anwachsen des Meeresspiegels, Hunger und Durst, Kriege und Bürgerkriege, und Millionen von Menschen auf der Flucht. Warum wandern die Leute von hier aus? Genau deshalb, weil sie sehen, daß sie hier keine Zukunft haben. Sie haben völlig recht. (Die Armen vergessen nur, daß sie woanders auch keine haben.) Es ist traurig, aber die Emigration aus Ungarn beginnt erst jetzt wirklich.

Wirklich?

In der Tat. Die Bevölkerung Rumäniens war vor 10 Jahren 23 Millionen – heute sind es 17 Millionen. Neueren Daten zufolge ist auch diese Zahl zu optimistisch. Angeblich fehlen in Rumänien nicht nur 5-6, sondern 9 Millionen. Es gibt ganze Landkreise, wo niemand mehr lebt, verfallende Dörfer, von den Kirchen fällt der Putz ab, die Bahnhöfe sind mit einem Vorhängeschloß versperrt, und überall sind Ratten. Gleichzeitg arbeiten Staaten daran, daß sich die Lage verschlimmert. Ich rede z.B. von denjenigen Regierungen, die die Klima-Konventionen nicht unterschreiben. Wie die ungarische, oder die amerikanische. Und diejenigen, die den UNO-Pakt zur Migrationsfrage nicht unterschreiben.

Warum wohl unterschreibt Orbán diese Pakte nicht?

Aus Überzeugung.

Was ist seine Überzeugung?

Er sagt viel, was er nicht glaubt, aber es ist sicher, daß er die Migration, d.h. die geopolitisch bedingte Rassenfrage als Haupt-Problem betrachtet. Den Umstand, daß dunkelhäutige, arme Leute mit anderer Religion und Sprache hierher kommen. Was natürlich ein großes Problem ist, nur ist es nicht die Ursache, sondern die Folge (anderer Probleme).

Deshalb, weil die hierherkommen, sobald Ungarn den Klimapakt unterzeichnet?

Nein. Sondern deshalb, weil Ungarn mit dessen Unterzeichnung diejenigen Organisationen bestärken würde, die es in der Migrationsfrage unter Druck setzen. Die Orbán-Regierung muß aufgrund ihrer eigenen Logik jegliche Art von Zusammenarbeit zurückweisen. Sie lehnte die Kooperation im Falle der Ermordung der maltesischen Journalistin ab und verhinderte eine gemeinsame Eklärung (der EU) gegen die Unterdrückung der Ujguren. Die ungarische Regierung nimmt in internationalen Organisationen die Haltung des Bojkotts, der Verhinderung, des Vetos ein. Sie ist damit nicht allein. Präsident Trump ist dabei für weit mehr verantwortlich. Dessen Regime nimmt sich die Vernichtung der internationalen und föderalen Strukturen vor. Die UNO ist sehr kompetent, aber alles, was sie verkündet, ist ein Ruf in der Wüste. Diese bedeutende Organisation mit vielen Unterorganisationen hat heute keinen Einfluß mehr. Man könnte diese ganze heruntergekommene Bude einfach zusperren. Niemand hört mehr auf sie. Die UNESCO bemüht sich, Ungarns Kulturerbe zu bewahren, während die ungarische Regierung es zerstört. Vergebens. Alles wird vernichtet.

Kannst du auch irgendwas Positives vermelden?

Na klar. Die Menschen wollen frei und glücklich sein, und auf ihre Art und Weise werden sie das verweigern, was hier abläuft. Man kann viele Leute in Angst und Schrecken versetzen, und es ist leicht, eine Atmosphäre des Hasses zu schaffen, aber das alles hat eine innere moralische und geistige Grenze. Wie lange kann man das Volk glauben machen, daß die Juden, die Araber, die Zigeuner, die Piresen (4), der Westen, die Liberalen, die Marxisten, die Freimaurer, die Muslime, die Schwulen, die Außerirdischen, die Pazifisten, die Feministinnen, oder die Reptil-Menschen schuld an allem sind? Wenn wir genug Zeit hätten, würde ich mir keine Sorgen machen. Weil, lieber Gott, es gab immer wieder schlimme Zeiten in der Menschheitsgeschichte, und sie sind vorübergegangen. Aber jetzt kommt für uns das Aus. Beziehungsweise nicht für uns, sondern für unsere unglücklichen Kinder und Enkel. Um uns (und in uns) verrottet und verbrennt alles.

So so, das sind also deine positiven Gedanken.

Ich kann den verehrten Lesern nichts anderes empfehlen als daß sie sich beeilen sollten. Wenn der heutige Kapitalismus mitsamt seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technischen, politischen, kulturellen, moralischen und – als Folge all dessen – ökologischen Krise aufrecht bleibt, so brauchen wir uns nicht mit der Zukunft beschäftigen, weil wir haben keine.

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(1) Das Vácer Gefängnis wurde 1854 eröffnet und diente zunächst zur Abwicklung der Repression für die Aufständischen von 1848/49. Es etablierte sich damit als eine Art Hochsicherheitsgefängnis speziell für politische Häftlinge, die es später auch in wechselnden Gesellschaftsformen beibehielt.

(2) Portal-Websites als Kombination von Werbung, Shopping-Seiten, Blogs und Nachrichten sind in Ungarn sehr verbreitet, weil sie angesichts der Neuausrichtung der Mediengesetzgebung beim Aufkommen des Internets gegenüber reinen Informationsmedien steuerlich begünstigt waren.

(3) G.M. Tamás stammt aus Cluj, gehört zur ungarischen Minderheit in Rumänien und haute in den 70-er Jahren vor der Verfolgung der Securitate nach Ungarn ab, wo er als Dissident ins Visier des ungarischen Geheimdienstes geriet.

(4) Die Piresen sind eine erfundene Ethnie, die vom Meinungsforschungsinstitut Tarki in die Welt gesetzt wurden, um die Ausländerfeindlichkeit in Ungarn zu testen. „Würden Sie zustimmen, daß die Piresen nach Ungarn kommen und sich hier niederlassen dürfen?“ – was von ca. 60% mit „Nein“ beantwortet wurde.

Pressespiegel: Hírklikk, 27.7. 2019

ES IST ZWAR WIDERWÄRTIG, WAS IN UNGARN PASSIERT, ABER ES HERRSCHT ORDNUNG
G.M. Tamás im Gespräch mit Péter Németh
(Original hier)

Die ungarische Regierung hat mit der Außenwelt gebrochen, worin auch die Intelligenzia und die Schüler und Studenten inbegriffen sind, – das sagt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás in seinem Interview mit HÍRKLIKK. Im Zusammenhang damit formulierte er seine Überlegungen, warum Proteste im In- und Ausland wirkungslos bleiben. Er betont auch, daß man diese gegenwärtige (ungarische) Regierung mit friedlichen Mitteln nicht loswerden kann. In Ungarn gibt es einen neuen, modernen Faschismus. Aber es gibt auch größeres Unheil: Der Klimawandel wird zu einer dramatischen Situation führen. Dazu sagt G.M. Tamás: Deine Kinder werden anbrennen wie die Wurst in der Pfanne.

Am Tag des Erscheinens dieses Interviews tritt Viktor Orbán in Baile Tusnad (1) auf. Was meinst du, wird er eine angriffslustige oder eher neutrale Rede halten? Es geht um den Konflikt mit der EU und der Europäischen Volkspartei.

Es ist mir total wurscht, was Viktor Orbán in Baile Tusnad verkündet. Ich halte es nicht für wichtig. Wir kennen das Programm: Einmal ruft er auf zum Krieg, ein anderes Mal beruhigt er das Publikum wieder. Zwischen diesen beiden Polen bewegt er sich, denn die Unterdrücker-Systeme bestehen aus diesen 2 Elementen. Einmal muß man die Leute mobilisieren – aber nicht zuviel, weil das gibt Scherereien –, ein anderes Mal muß man zu Ruhe und Ordnung aufrufen. Man muß die Leute gleichzeitig bewegen und ruhigstellen.

Die Soziologin Zsófia Nagy meint, Orbán wählt absichtlich gesellschaftliche Gruppen als Feindbild aus, möglichst solche, die keine Möglichkeit zum Widerstand haben. Läßt dich dieses Problem auch kalt?

Seit dem Fall Napoleons und der Heiligen Allianz, also seit 200 Jahren, ist das die Taktik der herrschenden Klasse. Vorurteile gabs immer. Aber seit damals ist die Hasspropaganda ein wichtiger und offizieller Teil der Staatsverwaltung und des staatlichen Lebens. Ideologische Manipulation ist eine grundlegende Funktion des modernen Staates. Meistens richtet es sich gegen solche Gruppen, deren Ruinierung keine besonderen Probleme hervorruft. Dafür werden vorhandene Vorurteile gegen rassische Unterschiede oder solche des Geschlechts benutzt – (oder auch das Generationsproblem: denken wir nur an die Hetze gegen die Jugend 1968!) und verbinden die mit den beiden klassischen gesellschaftsbezogenen Gefühlen. Das eine davon ist der Brotneid, das andere die Existenzangst. Von den wohlhabenden, einflußreichen gebildeten „Fremden“ grenzen sie sich moralisch ab; die armen, gesellschaftlich ausgegrenzten, Forderungen stellenden „Fremden“ halten sie für gefährlich. Es ist im Interesse des modernen kapitalistischen Staates, die berechtigte gesellschaftliche Unzufriedenheit gegen die – scheinbar oder tatsächlich – auf der obersten und untersten gesellschaftlichen Stufe stehenden Gruppen zu lenken, wenn diese als fremd oder gesellschaftlich verwerflich gelten. Diese Taktik hat schon zu Massenmorden, massenhaften Deportationen und Bürgerkriegen geführt und tut dies auch heute (denken wir an die Rohingya, die Genozide in Ruanda und Ex-Jugoslawien), aber der Staat lernt nicht.

Aber es ist doch nicht uninteressant, was so vorgeht. Als ich das letzte Mal hier war, wurde gerade die Ruinierung CEU (2) betrieben, derzeit diejenige der Akademie der Wissenschaften (3)

Ist schon geschehen.

Ja, es ist geschehen, ich wollte nur sagen, daß diese Aktionen der Regierung auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen sind.

Das stimmt so nicht. Es gibt keine Universität, Akademie, wissenschaftliche Gesellschaft, Rektorenkonferenz, Schriftstellervereinigung, die nicht gegen dieses Zerstörungswerk aufgetreten ist. Regierungen haben protestiert, der Widerstand war gewaltig, aber das bedeutete der ungarischen Regierung nichts, weil sie hat mit der Außenwelt gebrochen, worin auch die Intelligenzia und die Schüler und Studenten inbegriffen sind. Die Meinung der britischen, französischen und deutschen Akademien, von Sorbonne, Cambridge, Oxford, Harvard und Yale würde die französische oder deutsche Regierung (immerhin Großmächte) von solchen plumpen Maßnahmen abhalten. Aber Orbán nicht. Nicht deshalb, weil er so viel Macht hat, sondern deshalb, weil er Ungarn soweit gebracht hat, daß es nicht mehr zu den zivilisierten Nationen gehört. Ihm ist das ganz gleichgültig.

Aber warum ist es den Mitgliedern der ungarischen Gesellschaft gleichgültig?

Es ist ihnen überhaupt nicht gleichgültig. Es gab ja große Demos und Proteste. Alle Organisationen der Geisteswelt verurteilten diese Vorgangsweise, auch die Konservativen. Weder in Ungarn noch in Siebenbürgen und der Vojvodina gibt es eine Universität, einen Lehrstuhl, eine wissenschaftliche Gesellschaft, die nicht protestiert hätte. Der Aufschrei ging von Sibirien bis Kalifornien. Auch Demonstrationen gab es.

Das heißt aber, daß es keine Macht in Ungarn gibt, die Orbán von seinen Absichten abbringen oder diese Regierung loswerden könnte.

Es gibt keine Chance, in keiner Hinsicht und auf keine Art, diese Regierung zu beseitigen. Das ist eben das Wesen einer Diktatur: friedlich kann man sie nicht beseitigen, es gibt keinen Herausforderer im Inneren, der Aussicht auf Erfolg hätte. Über was wundern wir uns?
Vor 30 Jahren, zur Zeit des Systemwechsels, hätten wir uns das freilich nicht gedacht. Aber seit 9 Jahren, seit 2010, haben wir ein neues System, nicht das, was ’89 entstanden ist. Es ist sinnlos, sich über das vorige zu unterhalten, das war anders. Das war ein verfassungskonformer, liberaler, pluralistischer Rechtsstaat, was man vom jetzigen nicht sagen kann.

Es ist sinnlos, sich über das zu unterhalten, für das du aktiv gekämpft hast? (4)

Nein. Es ist vorbei, aus, Schluß. Dieses System lebte von 1989 bis 2010. Ein abgeschlossenes Kapitel. Es war eine wichtige Epoche, aber sie ist abgeschlossen. Noch dazu ist es ein Zeitabschnitt, den die heute Lebenden im historischen Sinne zurückweisen, verachten, verurteilen. Weil sie ihn (nicht zu Unrecht) mit der Privatisierung, der Arbeitslosigkeit, den Kürzungen und den dauernden Debatten verbinden.

Manche würden da sagen: Wir könnten nicht ruhig hier sizen und auf die Regierung schimpfen, wenn es wirklich eine diktatorische wäre.

Das stimmt nicht. Warum zum Teufel sollten Orbán und seine Freunde beunruhigt sein über das, was wir hier besprechen, wenn das ihr System nicht im Geringsten gefährdet? Sie sind ja nicht verrückt. Von uns geht überhaupt keine Gefahr für sie aus.

Wir sind sozusagen das Feigenblatt?

Nicht einmal das. Wir sind völlig irrelevant.

Was soll ein denkender Mensch unter solchen Umständen tun?

In den 200 Jahren, seit der moderne Staat mit seinem unterdrückerischen Charakter besteht, gab es – wenn es hoch kommt – insgesamt 20 Jahre, wo so etwas wie Freiheit herrschte. 20 aus 200. In den restlichen 180 Jahren lebten die Menschen auch, und schufen einiges. Das ist alles nichts Neues. Der Mensch erledigt sein Tagwerk, versucht sich frei zu bewegen und kritisch zu denken, den Rest überläßt er der Vorsehung.

Das meinst du aber jetzt nicht ernst!

Das ist mein tödlicher Ernst.

Ich glaube es deshalb nicht, weil du ein sehr leidenschaftlicher Mensch bist.

Natürlich bin ich leidenschaftlich, aber ich bin gleichzeitig nicht naiv. Ich habe keine Illusionen. Dieses System ist von innen her nicht zu knacken. Solange die heute gültigen Regeln eingehalten werden, läßt sich da nichts machen. Auf eine friedliche Veränderung brauchen wir nicht hoffen.

Die vorherrschende Meinung ist, daß eine Veränderung nur von innen kommen kann, nicht von außen.

Von außen ginge es, aber die Betreffenden wollen das nicht.

Warum nicht?

Weil hier Ordnung herrscht. Mit Ungarn gibt es kein Gfrett, zum Unterschied von Somalia, Sudan, Tschad, Irak, Äthiopien. Dort sprechen die Waffen. Es ist zwar abstoßend, was in Ungarn passiert, aber hier herrscht Ordnung. Hier wird auch einmal ein Zusammenbruch kommen, Chaos, radikale Veränderungen – wenn es zu spät ist. Aber das wünsche ich niemandem, genausowenig, wie ich jemandem dieses eklige System wünsche, das von Gier, Materialismus, Angst und Chauvinismus zusammengehalten wird.

Das heißt, es gibt gar keinen Kampf der EU für den Rechtsstaat?

Natürlich hätten sie gerne einen Rechtsstaat, aber wichtiger als der osteuropäische Rechtsstaat ist ihnen, in der Früh Kaffee mit Milchschaum im Bett trinken zu können und nicht im Schützengraben verrecken zu müssen. Wer will Krieg? Wer will Konflikte? Wer will Armut und Elend? Niemand. Wenn man aber ein Land ernsthaft unter Druck setzt, so verursacht das Konflikte. Die EU bewegt sich sowieso auf ihre Auflösung zu. Keiner will Probleme, schon gar nicht dann, wenn es auch so schon genug Sorgen gibt.

Du sagst also, daß das Auftreten der Volkspartei gegen Fidesz (5) …

Bitte erwähne diese Europäische Volkspartei nicht, sie ist völlig bedeutungslos. Die europäischen Parteienfamilien leben vor allem in der ungarischen Presse, im Westen sind sie unbekannt. Sie wurden zu einer Art ungarischer Manie, als ein Aspekt der Orbán-Manie und der Orbán-Phobie. Ich sag’s noch einmal: Woanders interessieren die niemanden. Und zu Recht. Sie sind bedeutungslos.

Zumindest für uns sind sie unter dem Gesichtspunkt wichtig, daß sie Fidesz zur Ordnung rufen wollen.

Sie haben einen schwachen Versuch in die Richtung gemacht. Für mehr reichte es nicht.

Ist deiner Ansicht nach der Versuch bereits gescheitert?

Sicher bin ich nicht, ich glaube aber schon. Wer weiß, wie lange dieses folgenlose Hin und Her noch weitergeht.

—– 2. Teil des Interviews ——

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(1) Eine Stadt in Rumänien, im Siedlungsgebiet der ungarischen Minderheit, wo seit Anfang der 90-er Jahre eine „Sommeruniversität“ stattfindet, die aber keineswegs der Wissenschaft huldigt, sondern der Selbstdarstellung ungarischer Politiker dient, die Siebenbürgen als ihre Bühne betrachten.

(2) Central European University, von George Soros gegründete Privatuniversität, die sehr großzügig Stipendien an Studenten aus ehemals sozialistischen Staaten verteilt. Aufgrund angeblicher verbotener Finanzierung wurde diese Institution 2018 zum Umzug nach Österreich genötigt.

(3) Die Ungarische Akademie der Wissenschaften (MTA) soll in Zukunft alle Forschungsprojekte vom Ministerium für Innovation und Technologie genehmigt bekommen, was der bisherigen Funktionsweise dieser Institution widerspricht.

(4) G.M. Tamás war Gründungsmitglied des Bundes Freier Demokraten und saß mehrere Jahre als Abgeordneter im Parlament.

(5) Die Europäische Volkspartei wollte Fidesz aus ihren Reihen ausschließen, ließ es aber dann doch bleiben, weil das interne Risse bei der EVP vergrößert hätte.

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 12: El Salvador

(ER)LÖSUNG NICHT IN SICHT
Der Name dieses Staates – „Der Erlöser“ steht in ziemlichem Kontrast zum Zustand, in dem es sich befindet.
Wie wir im Folgenden sehen werden, ist das nicht die einzige Ungereimtheit, der einem in El Salvador begegnet.

1. Land der Landlosen

Da das Gebiet des heutigen El Salvador keine Bodenschätze verbirgt, war es seit jeher auf die Landwirtschaft als Quelle der Bereicherung verwiesen.

Während der spanischen Kolonialherrschaft und noch einige Jahrzehnte später war das wichtigste Exportprodukt das Indigo, neben den üblichen Kolonialprodukten wie Kaffee, Kakao usw. Als die chemische Herstellung des Indigo die natürliche verdrängte, entwickelte sich der Kaffee zum wichtigsten Exportprodukt, und das ist er bis heute geblieben.
Rund um den Kaffeeanbau und -export entwickelte sich die Elite El Salvadors, und sie achteten auf ihre Einkommensquelle insofern, als sie sich nach und nach alles brauchbare Land für die Kaffee-Plantagenwirtschaft unter den Nagel rissen. Im Jahr 1882 schließlich wurde den indigenen Gemeinden ihr Land per Dekret weggenommen. Das führte dazu, daß die indigene, bäuerliche Bevölkerung ohne Land blieb, und entweder als Taglöhner oder als Kleinpächter der Großgrundbesitzer ihr Leben fristen oder in die Städte abwandern mußte. Es führte außerdem dazu, daß die Volksnahrungsmittel teilweise eingeführt werden müssen, was sie verteuert, weil das fruchtbare Land für Cash Crops verwendet wird.

Ein Präsident, der diese für die Mehrheit der Bevölkerung unerfreuliche Entwicklung mit Sozialprogrammen abfedern wollte, wurde 1913 umgebracht.

Das Mißverhältnis zwischen Armut und Reichtum mündete, verstärkt durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, 1931/32 in einem von der kommunistischen Partei El Salvadors angezettelten und dann von den landlosen Bauern weitergetriebenen Aufstand.

Der neue starke Mann El Salvadors, Maximiliano Hernández Martínez, der sich im Dezember 1931 an die Macht geputscht hatte und auch vorher bereits den Repressionsapparat kontrolliert und ausgebaut hatte, machte kurzen Prozeß. Nachdem er den Gründer und Anführer der kommunistischen Partei El Salvadors, Agustín Farabundo Martí und einige seiner Genossen verhaften und ohne Verfahren erschießen hatte lassen, ging er mit aller ihm zur Verfügung stehender Gewalt gegen die Aufständischen vor.

Das ganze wirtschaftliche System El Salvadors, wo die Grundbesitzerklasse fast alles Land besaß und der Rest der Bevölkerung gar nichts, wollte verteidigt sein.

Bei der Niederschlagung des Aufstandes wurden Zehntausende von Menschen ohne irgendein Verfahren getötet. Dieses Vorgehen, das in El Salvador als „La Matanza“ bezeichnet wird – das Massaker, aber auch: Das große Morden – kam ganz ohne irgendwelche Beweise oder Rücksichtnahme aus. Es genügte, wenn jemand als Indigener erkennbar war, um ihn oder sie umzubringen, unabhängig vom Alter.
Die politische Klasse El Salvadors, die diesen Massenmord unterstützte, wollte ein für allemal klarstellen, daß die Nachfahren der Ureinwohner dieses Staates keinerlei Rechte besaßen, und jedes Einklagen derselben, geschweige denn Anspruch auf Land, mit dem Tod bestraft würden.

Das große Morden endete nicht mit der Niederschlagung des Aufstandes oder mit dem Jahr 1932. Hernández Martínez regierte bis zu seinem Sturz im Jahre 1944. Bis dahin blieb es lebensgefährlich, als Indigener erkennbar zu sein. Die indianischen Bewohner El Salvadors waren vogelfrei und konnten jederzeit von Militär, Polizei oder paramilitärischen Truppen liquidiert werden. Die Sprache der Ureinwohner, das Nahuat, wurde verboten.
Um zu überleben, legten die Indigenen El Salvadors ihre traditionelle Kleidung ab, gaben ihre Sprache auf und unterließen alles, was sie als Indigene kennzeichnen konnte. Das große Morden führte zur Auslöschung der indigenen Traditionen.
Ansonsten lebten sie weiter in großem Elend. Außerdem lehnte der Diktator jegliche Schulbildung für die bäuerliche Bevölkerung ab. Der Analphabetismus blieb das einzige Merkmal, das die Nachfahren der Ureinwohner von der kreolischen Oberschicht und den besser integrierten Mestizen grundlegend unterschied.

2. Die Kirche

a) Die Theologie der Befreiung in El Salvador
Als der Papst Johannes XXIII. das 2. Vatikanische Konzil einberief, um eine Erneuerung der Kirche einzuleiten, fielen die Beschlüsse dieses Konzils gerade in Lateinamerika auf sehr fruchtbaren Boden. Sie knüpften nämlich an die ruhmreicheren Traditionen der katholischen Kirche an, die vom Dominikanerpater Bartolomé de las Casas, dem „Vertreter der Indianer“ im 16. Jahrhundert begründet worden waren. Auf der Konferenz von Medellín verpflichteten sich die Bischöfe Lateinamerikas 1968 darauf, sich die Anliegen der Armen und Entrechteten zu eigen zu machen und sich um ihr Wohlergehen im Diesseits zu kümmern, anstatt sie bloß auf das Jenseits zu verweisen.

In keinem Land Lateinamerikas fanden diese Beschlüsse eine so flächendeckend positive Aufnahme wie in El Salvador. Ein guter Teil des Klerus’ El Salvadors, von den Barfuß-Geistlichen in den Dörfern bis zu den Seelsorgern in den Städten, und auch die Spitzen der Hierarchie machten sich daran, für ihre Schäfchen bessere Lebensbedingungen zu erstreiten. In Predigten, mit Initiativen zur Volksbildung, und mit Forderungen an die lokalen Behörden, doch Schulen zu errichten und die Landfrage auf die Tagesordnung zu setzen.
Sie arbeiteten dabei natürlich auch fallweise mit den in der Zwischenzeit entstandenen linken Guerillaorganisationen zusammen, die das Gleiche vorhatten.

b) Der Vatikan und El Salvador
Als Karol Wojtyla 1978 zum Papst gewählt wurde, war eines seiner wichtigsten Anliegen, die „Theologie der Befreiung“, sozusagen den Kommunismus innerhalb der Kirche, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Ihm standen dabei Ernennungen von vakanten Posten, Hirtenbriefe und sonstige Anweisungen an die Diözesen zur Verfügung. Der Vatikan hatte es auch in der Hand, staatliche Repression gegen Geistliche zu rechtfertigen, als Willen Gottes gegen Abtrünnige, die den rechten Weg verlassen hatten.

In den 80-er Jahren wurde der Spruch „Bring einen Priester um!“ zu einer Art Anweisung an die Militärs und Paramilitärs von El Salvador. Und sie befolgten diese Anweisung. Bis heute sind nur die Morde an wichtigen Vertretern der Kirche und ausländischen Priestern und Missionaren Gegenstand von Untersuchungen. Wie viele unbekannte, unbedeutende Geistliche dran glauben mußten, wurde nie erfaßt.

Als der Erzbischof von San Salvador, Óscar Romero, 1980 am Altar während der Zelebrierung eines Gottesdienstes erschossen wurde, konnte der Auftraggeber dieses Mordes, Roberto D’Aubuisson, sicher sein, dafür den Segen des Papstes zu haben. (D’Aubuisson wurde später eindeutig als der Mann im Hintergrund ermittelt, er starb nur rechtzeitig, um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden.) Der polnische Papst kann also als direkter Komplize dieses Mordes bezeichnet werden. Romeros Tod machte den Weg frei für eine Neubesetzung seines Postens. Seither sind die Erzbischöfe von San Salvador und der gesamte höhere Klerus des Landes verläßliche Unterstützer der weltlichen Macht, und im Vatikan konnten alle ruhig schlafen.
Óscar Romero ist heute heiliggesprochen und hat auch einen Platz auf der Westminster Abbey, wo Märtyrer des 20. Jahrhunderts als Statuen verewigt wurden. Seine Heiligsprechung war aber lange umstritten, weil sich die Frage auftat: Wurde er wegen seines Glaubens ermordet oder aus politischen Gründen? Nur im ersteren Fall kann er nämlich heiliggesprochen werden. Unter Ratzinger ruhte das Gesuch, erst Papst Franziskius sprach ihn 2015 erst selig und dann 2018 heilig.

c) Die Kirche heute
Inzwischen hat der Klerus in El Salvador verstanden, auf welcher Seite er zu stehen hat.
El Salvador hat das strengste Anti-Abtreibungsgesetz der Welt. Unter keinerlei Umständen ist Abtreibung erlaubt. Abtreibung wird bis zu 8 Jahren Freiheitsentzug geahndet, aber wenn eine Abtreibung als beabsichtigter Mord qualifiziert wird – was sehr üblich ist – so drohen bis zu 40 Jahren Haft.
Viele Fehlgeburten werden auch als Abtreibung eingestuft und damit eröffnet sich die Möglichkeit, auch da Strafen bis zu 40 Jahren Freiheitsentzug zu verhängen.
Alle möglichen NGOs und Menschenrechtsanwälte laufen gegen dieses Gesetz Sturm, bisher ohne Ergebnis.

Das Interessante ist: Wie kommt es zu diesem Gesetz?

Die von D’Aubuisson gegründete Partei ARENA erließ dieses Gesetz unter ihrem Präsidenten Armando Calderón Sol im Jahr 1998. Im Jahr darauf erhielt dieses Gesetz auch Verfassungsrang.
Der damalige Erzbischof von San Salvador, Fernando Sáenz Lacalle, unterstützte dieses Gesetz, ebenso wie die inzwischen zahlreich vertretenen evangelikalen Kirchen des Landes. Es war eine Art Bund zwischen der geistlichen und der weltlichen Macht in El Salvador, mit der sie ihre Zusammenarbeit besiegelten: Mit Recht und Gesetz gegen die Armen, und mit Gott!
Dieser Bund ist als eine Art Distanzierung gegenüber den Irrwegen der 70-er und 80-er Jahre zu verstehen, als sich die Kirche auf die falsche Seite begeben hatte.

3. Bürgerkrieg
Seit den 60-er Jahren bildeten sich Widestandsnester, aus Bauern, Studenten, Journalisten und anderen Unzufriedenen. El Salvador befindet sich eigentlich schon seit damals in einem Zustand des Bürgerkrieges. Es ist verkehrt, den Bürgerkrieg erst mit dem Jahr 1980 anzusetzen, wie das allgemein üblich ist.

Ein Ergebnis des allgemeinen Terrors gegen die Bevölkerung war die fälschlicherweise als „Fußballkrieg“ bezeichnete Auseinandersetzung mit Honduras im Jahr 1969. Die Regierung des ebenfalls nicht sehr prosperierenden Honduras eröffnete in diesem Jahr eine Art Hetzkampagne und Vertreibung gegen die aus El Salvador geflüchteten Bauern, die sich in den Grenzgebieten niedergelassen hatten. Das Land sei nicht deshalb knapp, weil es auch in Honduras Großgrundbesitz und Plantagenwirtschaft für Cash Crops gibt, sondern weil die Salvadorianer sich dort breitgemacht hätten, wurde den Honduranern mitgeteilt.

Im Zuge von Fußballspielen der Nationalmannschaften wurde dieser Konflikt international bekannt. Der Grund dieser Auseinandersetzung war der Terror, den die Regierungen beider Länder gegen ihre Landbevölkerung führten. Den Medien weltweit gefiel es jedoch, das als eine Art Spinnerei der Bevölkerung beider Staaten zu qualifizieren, die einfach fußballnarrisch oder nationalistisch waren. So mußte nicht die unangenehme Wahrheit bemüht werden, daß Eigentum Ausschluß bedeutet, und daß der Grund und Boden in beiden Ländern im Besitz einer privilegierten Schicht ist.

Die Auseinandersetzung zwischen Militärs, Polizei, Gendarmerie und paramilitärischen Gruppierungen einerseits, und Studentenorganisationen, Gewerkschaften, Landarbeiterorganisationen und Guerilla andererseits erreichte nach der Ermordung Romeros einen neuen Höhepunkt. Damals verließen die Kommunistische Partei und mit ihnen verbündete Gruppen den Weg der demokratischen Wahl, der aufgrund des salvadorianischen Wahlsystems und des Klientelismus nie zu Wahlsiegen führen konnte, und wählten den Weg des bewaffneten Widerstandes.

Gegen den Gewaltapparat des Staates hatten sie nie eine Chance. Viele Mitglieder des Militärs und Geheimdienstes von El Salvador waren in der School of the Americas ausgebildetet worden. Sie praktizierten eine Politik der verbrannten Erde gegenüber jeglicher Art von Widerstand. Gegen Studenten, Landarbeiter, Gewerkschafter und sonstige Subversions-Verdächtige wurde alles aufgeboten, was gut und teuer war: Entführungen, extrajudikale Hinrichtungen, Auslöschung ganzer Dörfer, Folter und Verstümmelung, usw. usf.

Es wurde dabei auch das Land verwüstet, das die Bauern genutzt hatten, sodaß heute in El Salvador viel Land brachliegt, das die landlosen Bauern nicht nutzen können und die Grundherren nicht nutzen wollen.

Der Bürgerkrieg in El Salvador hat nach offiziellen Angaben um die 75.000 Tote gefordert.

Vor diesem Terror flüchteten viele Bewohner El Salvadors: in die Nachbarländer Honduras, Guatemala, Nicaragua. Und mehr als eine Million in die USA.

4. Die Banden
Die Flüchtlinge aus El Salvador waren mehr oder weniger die unterste Schicht der lateinamerikanischen Flüchtlinge. Sie hatten gar nichts und keinen Staat, der sie irgendwie schützte. Die politische Klasse El Salvadors war froh, sie los zu sein. Sie betrachtet ja schon seit langem die Besitzlosen des Landes als überflüssig, unnötig und gefährlich für ihre eigene privilegierte Position.

Die Immigranten fingen also ganz unten an und wurden bald auf das US-Bandenwesen für die Armen und Elenden verpflichtet. Um überleben zu können, bildeten sie eigene Banden und brachten sich gegenüber Schwarzen und anderen Lateinamerikanern weiter, die alle mehr Erfahrung im Leben als Outlaw angesammelt hatten. Die Kids aus EL Salvador lernten schmerzhaft und verlustreich, wie man sich in der unmittelbaren Gewalt-Konkurrenz bewährt.

Im Jänner 1992 wurden die Friedensverträge von Chapultepec in Mexiko unterzeichnet. Sie stellten ein völlige Niederlage der Guerilla und der Landlosenbewegung dar. Alles blieb beim alten, das Land blieb bei den Großgrundbesitzern, und die Militärs und sonstigen Killer erhielten mehr oder weniger Straffreiheit. Um nicht eine ganz schiefe Optik zu erzeugen, wurden einige Schlichtungs- und Wahrheitskommissionen ins Leben gerufen.

Damit war die Duldung der El Salvadorianer in den USA vorbei – jetzt ist ja alles in Ordnung, keine Gefahr mehr in der Heimat! – und sie wurden in großen Mengen ausgewiesen und „nach Hause“ deportiert. Jede Menge armer Schlucker stand auf einmal in El Salvador auf der Straße und hatte nichts. Es ist begreiflich, daß sie zum Überleben das Einzige einsetzten, was sie aus den USA mitgebracht hatten: Organisierte Gewalt.

Die Banden beherrschen heute das Alltagsleben El Salvadors. Die größte, die Mara Salvatrucha, soll zwischen 50.000 und 100.000 Mitglieder haben. Sie operiert auch in den Nachbarländern.

Wer das nötige Kapital in El Salvador hat, kann sich bis an die Zähne bewaffnete Schutztruppen leisten. Außerdem wissen die Banden ganz genau, an welche wichtigen Leute sie sich nicht heranwagen dürfen.
So bleiben Kleingewerbetreibende als Objekt für Schutzgelderpressung, und wer nichts zu bieten hat, kann sich immer noch für Prostitution oder Mitgliedschaft in der Bande einspannen lassen. Wer nein sagt, wird bald tot in einem Straßengraben gefunden.

Der herrschenden Klasse El Salvadors kommt diese Selbstverwaltung der Armut durchaus gelegen, bei allem Gejammer. Die Maras bilden, ähnlich wie die Mafia und verwandte Organisationen in Italien, ein „Sottogoverno“, eine Sub-Regierung: Sie machen den Staatsterror gegen die Armen auf eigene Faust und kosten die Staatskasse nichts.

Gerade einmal ist ein junger Mann aus El Salvador mit seiner kleinen Tochter im Rio Bravo ertrunken, weil er unbedingt in die USA gelangen wollte.
Migration

Nun ja.
Es ist jedenfalls nachvollziehbar, warum jemand aus einem Land wie El Salvador abhauen möchte.