Pressespiegel: Hírklikk, 27.7. 2019 – Teil 2

ES IST ZWAR WIDERWÄRTIG, WAS IN UNGARN PASSIERT, ABER ES HERRSCHT ORDNUNG

G.M. Tamás im Gespräch mit Péter Németh – Fortsetzung des Interviews

Hältst da das alles für uninteressant?

Wenn Fidesz verurteilt wird, genauer: die ungarische Regierung, noch genauer: das Orbán-Regime – was passiert dann? Ungarn wird nicht aus der EU ausgeschlossen werden, obwohl das die einzige ernsthafte Strafmaßnahme wäre. Man kann mit verschiedenen schwachbrüstigen rechtlichen Prozeduren lästig sein, Rügen erteilen, aber damit richtet man nichts aus, das ist jedem inzwischen langweilig. Im Grunde will jeder Stabilität, weil der Westen hat nicht die Macht, in Osteuropa Veränderungen zustandezubringen, da er ja auch in der eigenen Gesellschaft nichts zuwege bringt, außer Zerfall, Dekadenz, politischem Absterben. Wir befinden uns weltweit in einer erschreckenden Lage, und das leistet den zerstörerischen Kräften Vorschub. Das schlimmste diktatorische System ist nicht in Ungarn, sondern in der Türkei – anders zwar, aber wirklich schauderhaft. Weißt du, was der große Unterschied zwischen der Türkei und Ungarn ist? Dort gibt es Widerstand, hier nicht.

Das heißt, aus Budapest wird nicht Istanbul.

Nehmen wir an, daß Gergely Karácsony zum (Ober-)Bürgermeister von Budapest gewählt wird, und auch der Stadtrat und die Bezirksräte eine mehrheitlich oppositionelle Mehrheit erhalten würden. Der Hauptstadt wurde jedoch schon seit längerer Zeit jeder wichtige Einflußbereich weggenommen. (Die Behörden der Stadt) werden nichts anderes machen können als jammern, daß Orbán ihnen für dieses und jenes kein Geld gibt. Istanbul hingegen hat jede Menge Geld und Macht. In der Türkei passieren schreckliche Dinge, Journalisten und Oppositionelle werden eingesperrt – aber gleichzeitg wurden die Grundrechte nicht angetastet. Es gibt eine Zensur, aber das ist weniger gefährlich als die Übernahme oder das Zusperren sämtlicher nennenswerter Medien. Freie Zeitungen mit weißen Flecken – das gabs auch in der österreichisch-ungarischen Monarchie, dennoch konnte dort ein damals revolutionäres Blatt wie die sozialdemokratische Népszava (= Volksstimme) erscheinen. Ihre Redakteure saßen in einem fort im Gefängnis in Vác (1), aber es gab eine freie Öffentlichkeit. Diese Presseprozesse und zensurierten Artikel waren winzige Nadelstiche im Vergleich zur heutigen Situation, wo der Zensor selbst das staatliche Fernsehen redigiert und – mit einer einzigen Ausnahme – jede Zeitung, hundert Portale (2), Blogs und Fakeseiten die staatliche Hasspropaganda in den Raum schmettern. Hierzulande wurde jeder bewegungsunfähig gemacht. Soweit sind sie in der Türkei noch nicht. Dort werden gefährliche Schritte zur Einschränkung der persönlichen Freiheit unternommen, Leute werden ins Gefängnis gesteckt, aber die Macht des Präsidenten ist nicht vollkommen. Bei uns ist es umgekehrt: Keiner wird verhaftet (nicht daß ich das möchte!), aber der Regierungschef macht, was er will.

1988 wurdest du verhaftet …

Ein paar Stunden lang.

Aber du wurdest doch verfolgt.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der mich Geheimdienste nicht bespitzelt und sekkiert hätten. (3)

Jetzt hingegen wirst du nicht einmal abgehört.

Wozu auch? Sie sehen ja meine Emails und Chatprotokolle.

Die sehen sie?

Natürlich sehen sie sie, wie denn auch nicht, sofern sie das wollen. Ich glaube aber nicht, daß sie Zeit haben, sie zu lesen. So wichtig bin ich nicht. Gedanken bedeuten keine Gefahr für dieses System – im Unterschied zum Realsozialismus, der eine Staatsdoktrin besaß und in dem die Intelligenzia eine führende Rolle einnahm. Diese Rolle ist vorbei, die spielen die Intellektuellen nirgends mehr. Jetzt gibt es eine allgemeine Krise, in der ist Ungarn ein Faktor und Beispiel. Die Krise kann verschiedene Formen haben. Die eine schaut so aus, daß es viel Lärm gibt und das Parlament brennt. Die andere besteht darin, daß niemand etwas macht, alle sitzen einsam im stillen Kämmerchen, und die, die an der Macht sind, haben freie Hand.

Ist es eine politische oder eine ökonomische Krise?

Die Wirtschaftskrise hält seit 2008 an, aus der die rechtsgerichtete ungarische Regierung nach 2010 einen Teil der Mittelklasse erfolgreich herausgefischt hat. Darüber gibt es keinen Zweifel. Es ist eine verlangsamte Krise, sie ist nicht so heftig wie 2008. Daraus entwickelte sich eine langsame Rezession der ganzen Weltwirtschaft. Die Propaganda der ungarischen Regierung beginnt jetzt zu erkennen, daß sich das Wachstum in Ungarn auch verringen wird – vor allem, wenn die Autoindustrie wegen der Klimakrise auf Grund fährt. In ganz Europa herrscht Krise, Rezession, Verfall. Noch dazu geht die klimatische Situation schneller den Bach hinunter, als man bisher annahm. Um diese Entwicklung auch nur zu verlangsamen, bedürfte es einer Art von internationaler Zusammenarbeit, die wegen des vorherrschenden Chauvinismus, des Rassismus, des Zerfalls der staatlichen Strukturen unvorstellbar ist. Die politische Krise hängt wie immer mit der ökonomischen und kulturellen Krise zusammen.

Was birgt die Zukunft?

Nix. Es gibt keinen Staat, der über eine ernstzunehmende, von allen angesehene, wagemutige und stabile Führung verfügt.

Frankreich?

Mit dem unbeliebtesten Präsidenten seiner Geschichte? Ein allseits verhasster Mensch, den Gendarmerie und Militär in seinem Palast schützen.

Von Macron kann man also nichts erwarten?

Wer vertraut ihm? Gibt es da wen? Ich höre dergleichen von dir zum ersten Mal. Macron ist im Grunde nicht blöd, aber er wird sich nicht lange an der Macht halten. Er häuft Fehlentscheidungen an, und jede Initiative von ihm endet mit einem Fiasko.

Aber es gibt viele, die an die deutsch-französische Zusammenarbeit glauben.

Na klar: Das sind zwei reiche, mächtige Staaten, mit viel Bildung und Tradition, die einander gut verstehen. Sie haben Bedeutung. Aber erstens ist die deutsche Führung unsicher, weil Merkel bei den gegenwärtigen Umständen unersetzbar ist. Sie muß aber ersetzt werden, weil sie nicht gut beisammen ist und zurücktreten will. Mit ihr geht aber alles Bisherige unter. Und da war auch nicht alles in Ordnung. Gegen Macron ist jedoch ganz Frankreich in Aufruhr. Er spielt relativ geschickt alle gegeneinander aus und versucht seine Gegner zu ermüden – mit Hilfe der dienstbereit an seiner Seite stehenden Medien – aber das alles reicht nicht aus.

Du meinst, wir haben keine Zukunft?

Das ist offensichtlich. Jeder weiß das. In den westlichen Medien lese ich nichts anderes. Aus, vorbei – das lese ich.

Welchen Ausweg gibt es?

Den Faschismus.

Das meinst du aber jetzt nicht ernst.

Was denn sonst!

Also noch einmal das Gleiche?

Nein, es wird nicht so. Das Wieder-Auferstehen des klassischen Faschismus, wie es Bolsonaro in Brasilien versucht, ist unmöglich. Die totalitären Methoden der seinerzeitigen faschistischen Diktaturen kann man nicht wiederholen. Es ist auch nicht notwendig.

Die Diktaturen modernisieren sich?

Vor fast 20 Jahren erschien mein Essay „Postfaschismus“, in neun Sprachen, auch auf Ungarisch. Schon damals erkannte ich, daß sich die faschistischen Systeme unter Umgehung der gewalttätigen, totalitären Methoden zwischen demokratischen Kulissen verwirklichen lassen. Damals (im Jahr 2000) war das noch eine überraschende Behauptung. Leider hatte ich recht. Leider.

Was für Perspektiven siehst du, außer daß alles aus ist? Weil das ist recht wenig.

Wenig? Das nennst du wenig, daß deine Kinder wie die Wurst in der Pfanne braten werden? Ist das nichts?

Du beziehst dich auf die Klimaveränderung?

Ja, genau. Das könnte man lösen. Wenn die Großmächte Führer hätten. Und wenn es ein politisches System gäbe, das zu rationalem Handeln imstande wäre, um die Menschheit zu retten. Bitteschön, schauen und hören wir uns irgendeine Rede von Donald Trump an. Zum Beispiel diesen Dienstag (den 23. Juli). Da machte er eine farbige Kongreßabgeordnete mit Migrationshintergrund ohne irgendeinen Grund nieder, mit erfundenen, aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen, vor einem kreischenden, begeisterten und völlig außer sich befindlichen Publikum. So könnte man bei uns nicht einmal in einem heruntergekommenen Wirtshaus in Soroksár mit einer Darts-Zielscheibe reden. Gibt es noch irgendwo ein Niveau? Wenn ja, so in einer wirklich totalitären Diktatur – in China. Dort reden sie wirklich nicht so, dort gibt es Niveau, Qualität, Ruhe, Ausblick in die Zukunft, Vernunft, dort wird geplant, und die Wissenschaft gilt etwas und erfreut sich großen Ansehens. Die technische und wirtschaftliche Entwicklung ist beeindruckend. Das ist derzeit der erfolgreichste Staat, gleichzeitig die fürchterlichste Diktatur, wo es kein Atom von Freiheit gibt. Das Gegenteil all dessen, woran ich glaube. Nun ja, nichts ist ewig, und diese schreckliche heutige Zeit wird auch vorübergehen, aber aufgrund der klimatischen und gesellschaftlichen Krise läuft uns die Zeit davon. Wenn das nicht so wäre, würde ich sagen: Na gut, in Ordnung, wir werden sterben, aber unsere Enkel werden schon etwas Besseres hervorbringen. Aber die Forschungen der UNO stellen fest, daß die Generation meiner heute 14-jährigen Tochter kürzer leben wird als die meinige Nachkriegsgeneration.

Wegen der Klimakrise?

Auch wegen des Hungers. Offensichtlich wird es am schlimmsten in Afrika, aber auch hier ist mit Tragödien zu rechnen. Die Leute planen ihren nächsten Urlaub, aber was auf die wartet, sind Hitze, Tornados, Dürre, Waldbrände, ausgetrocknete Flüsse, Anwachsen des Meeresspiegels, Hunger und Durst, Kriege und Bürgerkriege, und Millionen von Menschen auf der Flucht. Warum wandern die Leute von hier aus? Genau deshalb, weil sie sehen, daß sie hier keine Zukunft haben. Sie haben völlig recht. (Die Armen vergessen nur, daß sie woanders auch keine haben.) Es ist traurig, aber die Emigration aus Ungarn beginnt erst jetzt wirklich.

Wirklich?

In der Tat. Die Bevölkerung Rumäniens war vor 10 Jahren 23 Millionen – heute sind es 17 Millionen. Neueren Daten zufolge ist auch diese Zahl zu optimistisch. Angeblich fehlen in Rumänien nicht nur 5-6, sondern 9 Millionen. Es gibt ganze Landkreise, wo niemand mehr lebt, verfallende Dörfer, von den Kirchen fällt der Putz ab, die Bahnhöfe sind mit einem Vorhängeschloß versperrt, und überall sind Ratten. Gleichzeitg arbeiten Staaten daran, daß sich die Lage verschlimmert. Ich rede z.B. von denjenigen Regierungen, die die Klima-Konventionen nicht unterschreiben. Wie die ungarische, oder die amerikanische. Und diejenigen, die den UNO-Pakt zur Migrationsfrage nicht unterschreiben.

Warum wohl unterschreibt Orbán diese Pakte nicht?

Aus Überzeugung.

Was ist seine Überzeugung?

Er sagt viel, was er nicht glaubt, aber es ist sicher, daß er die Migration, d.h. die geopolitisch bedingte Rassenfrage als Haupt-Problem betrachtet. Den Umstand, daß dunkelhäutige, arme Leute mit anderer Religion und Sprache hierher kommen. Was natürlich ein großes Problem ist, nur ist es nicht die Ursache, sondern die Folge (anderer Probleme).

Deshalb, weil die hierherkommen, sobald Ungarn den Klimapakt unterzeichnet?

Nein. Sondern deshalb, weil Ungarn mit dessen Unterzeichnung diejenigen Organisationen bestärken würde, die es in der Migrationsfrage unter Druck setzen. Die Orbán-Regierung muß aufgrund ihrer eigenen Logik jegliche Art von Zusammenarbeit zurückweisen. Sie lehnte die Kooperation im Falle der Ermordung der maltesischen Journalistin ab und verhinderte eine gemeinsame Eklärung (der EU) gegen die Unterdrückung der Ujguren. Die ungarische Regierung nimmt in internationalen Organisationen die Haltung des Bojkotts, der Verhinderung, des Vetos ein. Sie ist damit nicht allein. Präsident Trump ist dabei für weit mehr verantwortlich. Dessen Regime nimmt sich die Vernichtung der internationalen und föderalen Strukturen vor. Die UNO ist sehr kompetent, aber alles, was sie verkündet, ist ein Ruf in der Wüste. Diese bedeutende Organisation mit vielen Unterorganisationen hat heute keinen Einfluß mehr. Man könnte diese ganze heruntergekommene Bude einfach zusperren. Niemand hört mehr auf sie. Die UNESCO bemüht sich, Ungarns Kulturerbe zu bewahren, während die ungarische Regierung es zerstört. Vergebens. Alles wird vernichtet.

Kannst du auch irgendwas Positives vermelden?

Na klar. Die Menschen wollen frei und glücklich sein, und auf ihre Art und Weise werden sie das verweigern, was hier abläuft. Man kann viele Leute in Angst und Schrecken versetzen, und es ist leicht, eine Atmosphäre des Hasses zu schaffen, aber das alles hat eine innere moralische und geistige Grenze. Wie lange kann man das Volk glauben machen, daß die Juden, die Araber, die Zigeuner, die Piresen (4), der Westen, die Liberalen, die Marxisten, die Freimaurer, die Muslime, die Schwulen, die Außerirdischen, die Pazifisten, die Feministinnen, oder die Reptil-Menschen schuld an allem sind? Wenn wir genug Zeit hätten, würde ich mir keine Sorgen machen. Weil, lieber Gott, es gab immer wieder schlimme Zeiten in der Menschheitsgeschichte, und sie sind vorübergegangen. Aber jetzt kommt für uns das Aus. Beziehungsweise nicht für uns, sondern für unsere unglücklichen Kinder und Enkel. Um uns (und in uns) verrottet und verbrennt alles.

So so, das sind also deine positiven Gedanken.

Ich kann den verehrten Lesern nichts anderes empfehlen als daß sie sich beeilen sollten. Wenn der heutige Kapitalismus mitsamt seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technischen, politischen, kulturellen, moralischen und – als Folge all dessen – ökologischen Krise aufrecht bleibt, so brauchen wir uns nicht mit der Zukunft beschäftigen, weil wir haben keine.

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(1) Das Vácer Gefängnis wurde 1854 eröffnet und diente zunächst zur Abwicklung der Repression für die Aufständischen von 1848/49. Es etablierte sich damit als eine Art Hochsicherheitsgefängnis speziell für politische Häftlinge, die es später auch in wechselnden Gesellschaftsformen beibehielt.

(2) Portal-Websites als Kombination von Werbung, Shopping-Seiten, Blogs und Nachrichten sind in Ungarn sehr verbreitet, weil sie angesichts der Neuausrichtung der Mediengesetzgebung beim Aufkommen des Internets gegenüber reinen Informationsmedien steuerlich begünstigt waren.

(3) G.M. Tamás stammt aus Cluj, gehört zur ungarischen Minderheit in Rumänien und haute in den 70-er Jahren vor der Verfolgung der Securitate nach Ungarn ab, wo er als Dissident ins Visier des ungarischen Geheimdienstes geriet.

(4) Die Piresen sind eine erfundene Ethnie, die vom Meinungsforschungsinstitut Tarki in die Welt gesetzt wurden, um die Ausländerfeindlichkeit in Ungarn zu testen. „Würden Sie zustimmen, daß die Piresen nach Ungarn kommen und sich hier niederlassen dürfen?“ – was von ca. 60% mit „Nein“ beantwortet wurde.

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