Pressespiegel El País, 15.10.: Die UNO und Israel

DER SPRECHER DER BLAUHELME IM LIBANON: »ISRAEL KANN NICHT DAS SCHICKSAL EINER MISSION DIKTIEREN, DIE DIE INTERNATIONALE GEMEINSCHAFT WILL«

Andrea Tenenti weist darauf hin, dass israelische Angriffe auf UN-Streitkräfte Teil von Netanyahus Kampagne für deren Abzug seien und dass seine Truppen Unifil-Stellungen als menschliche Schutzschilde genutzt hätten.“

Es geht hier um nicht mehr und nicht weniger, als daß Israel die UNO direkt angereift, weil sie sie als Hindernis für ihr Staats-Erweiterungs-Programm betrachtet.
Solange die UNO dort herumsitzt, sind die besetzten Gebiete nach wie vor nicht als Territorium Israels anerkannt, und das soll sich offenbar ändern.

„Andrea Tenenti, der Sprecher der UN-Mission im Südlibanon (Unifil), empfängt diese Zeitung in einem kleinen Hauptquartier, das sich »in einem historischen Zusammentreffen« neben der ukrainischen Botschaft befindet, Hinweis auf die andere Invasion, die heutzutage die geopolitische Agenda bestimmt.

Der Ort des Interviews (Baabda, eine Stadt südöstlich von Beirut, weit entfernt von den Orten, an denen die Blauhelme weiterhin stationiert sind) zeigt die heikle Situation, in der sich Unifil befindet: Die israelische Armee, die vor zwei Wochen in den Südlibanon einmarschierte, hat die UNO-Mission wiederholt angegriffen. In den vergangenen Tagen forderte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu den »sofortigen« Rückzug mit einer kaum verhüllten Drohung: Dies sei »der einfachste Weg«, weiteren Schaden zu verhindern.

Unter normalen Bedingungen wäre der Sprecher am Hauptstützpunkt in Naqura, ganz in der Nähe der Blauen Linie, der Trennlinie – es handelt sich nicht um eine formelle Grenze –, mit deren Überwachung Unifil beauftragt ist. Aber es wurde von Israel angegriffen, weshalb das etwa 800-köpfige Zivilpersonal der Mission, wie auch er, aus dem Südlibanon evakuiert wird.

Diejenigen, die noch dort sind, sind die mehr als 10.000 Soldaten aus rund 50 Ländern – unter dem Kommando des Spaniers Aroldo Lázaro Sáenz –, deren Gegenwart und Zukunft im Mittelpunkt des Interviews stehen.

Die Mission erlebt ihren heikelsten Moment seit dem letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006, als die Truppen auf ihren Posten blieben. Tenenti verteidigt, dass sie dies auch jetzt tun, unter anderem, weil Israel »das Schicksal einer Mission, die der UN-Sicherheitsrat jedes Jahr erneuert, nicht diktieren kann«, und weist darauf hin, dass es die israelischen Truppen waren und nicht die Hisbollah, wie Netanjahu behauptet, die die Unifil-Positionen als menschliche Schutzschilde nutzten. Er fordert außerdem einen »ernsthaften Dialog« darüber, wie die unerfüllte UN-Resolution 1701 umgesetzt werden kann, denn die Alternative könnte ein offener regionaler Konflikt sein.“

Diese unerfüllte Resulotion ist von 2006, nur zur Information, und folgte auf andere Resulutionen zur territorialen Integrität des Libanon, die alle bis heute nicht umgesetzt sind, weshalb sich die UNO-Truppen dort aufhalten.

„El País: Israel hat offiziell den Abzug von Unifil beantragt. Was müsste passieren, damit die Truppen ihre Stellungen aufgeben?

Tenienti: Wir haben uns vor ein paar Tagen sehr klar ausgedrückt, und an diesem Sonntag hat der Generalsekretär [der UN, António Guterres] in einer bestimmten Weise auf Netanyahus Bitte reagiert. Auch als die israelische Armee uns aufforderte, einige Positionen in der Nähe der Blauen Linie zu verlassen, gab es eine klare Botschaft: wir werden bleiben. Es war eine einstimmige Entscheidung aller derzeit 50 truppenstellenden Länder: Es ist wichtig, eine internationale Präsenz im Süden aufrechtzuerhalten.
Wir sind auf Wunsch des Sicherheitsrats und der libanesischen Behörden hier. Wir haben uns entschieden zu bleiben, nicht nur, weil es Teil des Mandats ist, sondern weil eine internationale Präsenz erforderlich ist, um das Geschehen zu überwachen.
Derzeit sind unsere Überwachungsmöglichkeiten sehr begrenzt, da es für die Truppen bei anhaltendem Beschuss gefährlich sein kann, nach draußen zu gehen, und es von größter Bedeutung ist, ihre Sicherheit zu garantieren. Es ist aber auch die Pflicht der beteiligten Parteien, dies zu garantieren.“

Mit „beteiligte Parteien“ sind sowohl die Hisbollah als auch die libanesische Armee gemeint, aber vor allem die israelische Armee.

In den letzten Tagen kam es in Naqura, dem Hauptquartier der Mission, zu mehreren Angriffen gegen sie, teilweise von der israelischen Armee, bei denen Blauhelme verletzt wurden. Ein Turm wurde von einem Merkava-Panzer angegriffen, ebenso Überwachungskameras und die Beleuchtungsanlage. An einer anderen Position flog eine Drohne ganz nah an der Stelle vorbei, an der die Soldaten Zuflucht suchten. Und am Sonntag drangen zwei Panzer in eine Stellung ein und blieben dort 45 Minuten lang, wobei sie die Umfassungsmauern durchbrachen …
Es handelt sich um schwerwiegende Vorfälle, die einen klaren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht sowie gegen die (Resolution) 1701 darstellen. Und sie erschweren es der Mission, der Bevölkerung zu helfen.
Unifil ist keine humanitäre Mission, aber wir haben der Bevölkerung immer geholfen. Daher ist es sehr schwierig, den Tausenden von Menschen zu helfen, die im Südlibanon festsitzen und Wasser, Nahrung und Grundbedürfnisse benötigen.“

Das ist es offenbar, was Israel am meisten stört, ebenso wie in Gaza, daß die UNO-Mission sich der Vertreibungspolitik widersetzt und sie aus israelischer Sicht durch ihre Hilfeleistungen sogar hintertreibt.

„El País: Wenn die Möglichkeiten, die Bevölkerung zu überwachen und ihnen zu helfen, so begrenzt sind, hat das Bleiben dann ein symbolisches Element?

Tenienti: Das ist wichtig, denn es kann nicht sein, dass ein Mitgliedstaat das Schicksal einer Mission diktiert, die die internationale Gemeinschaft wünscht.
Wenn der Libanon beschließen würde, »geht bitte!«, würden wir gehen, weil wir auf Wunsch der libanesischen Regierung handeln. Aber es sind nicht die israelischen Behörden, die hier zu entscheiden haben. Das ist ganz klar.
Und die Überwachung ist wichtig, denn obwohl unsere Kapazität sehr begrenzt ist, haben wir immer noch 10.000 Soldaten an 50 Standorten entlang der Blauen Linie und im Einsatzgebiet. Wir können immer noch sehen, was passiert, und wir haben Radargeräte, die Bombenanschläge melden. Es bleibt also eine relevante Mission und wir werden dort bleiben, solange die Sicherheitsbedingungen erfüllt sind. Dann muss der Sicherheitsrat entscheiden.“

Diese Sätze sind unklar formuliert. Weswegen El País nachhakt:

„El País: Was wären diese Bedingungen?

Tenienti: Eine Risikobewertung müsste durchgeführt werden, wenn wir nichts überwachen könnten und ständig angegriffen würden. Dann müsste der Sicherheitsrat entscheiden. Das bedeutet nicht, dass wir gehen. Vielleicht werden sie sich für andere Optionen entscheiden.
Im Jahr 2006 dauerte der Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel 34 Tage“

– und ruinierte die Infrastruktur des Libanon sehr gründlich, wovon er sich bis heute nicht erholt hat –

„und wir verließen das Land nie, obwohl Israel libanesisches Territorium betrat. Nach dem Waffenstillstand wurde die Resolution 1701 angenommen, was mich zu dem Punkt bringt, dass 1701 die Resolution zur Beendigung des Konflikts war und dies auch jetzt noch sein kann, da alle ihre Elemente immer noch gültig sind.
Sie wurden nicht umgesetzt, das stimmt. Das meiste davon war schwierig umzusetzen. Aber wir sind immer noch hier, um dies zu garantieren. Es sind die betreffenden Parteien, die sich hier ins Zeug legen müßten. Die Umsetzung hängt von ihnen ab, nicht von uns. Bringen Sie mindestens 50.000 libanesische Truppen in den Südlibanon, stellen Sie sicher, dass es im Süden keine Waffen gibt, dass es keine weiteren Verletzungen des libanesischen Land- und Luftgebiets gibt …“

Hier merkt man eine Schwachstelle dieser Resolution – der Libanon liegt ökonomisch am Boden und kann sich kein so umfangreiches Heer leisten, um 50.000 Leute in den Süden zu schicken und dort dauerhaft zu stationieren. So kommt es, daß praktisch die Hisbollah einen guten Teil des Gewaltapparates des Libanon ausmacht, in einer Art Privatisierung von Staatsaufgaben.

„Ein weiterer relevanter Teil ist, dass die Blaue Linie nicht die Grenze ist. Wir arbeiten seit vielen Jahren daran, diesen Punkt sichtbar zu machen. Es sind noch viele Fragen offen, weil beide Seiten bestimmte Gebiete beanspruchen. Dies geschah zwischen 2006 und dem 6. Oktober letzten Jahres (dem Tag vor dem Hamas-Angriff). Es gab Probleme, aber auch eine gewisse Stabilität. Dorthin müssen wir zurückkommen. Und das ist jetzt die größte Sorge, nicht nur für uns, sondern für die internationale Gemeinschaft. Dieser potenzielle regionale Konflikt. Die internationale Gemeinschaft muss ernsthafter und energischer eingreifen. Es gilt zu verhandeln und eine Lösung zu finden.

El País: Israel argumentiert, dass Unifil völlig ineffizient gewesen sei. Das wird dadurch untermauert, daß Israel seit der Invasion Videos von Hisbollah-Tunneln in der Nähe der UNO-Stützpunkte veröffentlicht.

Tenienti: Zunächst einmal können wir diese Zahlen oder Tunnel nicht unabhängig überprüfen, aber wir haben uns immer klar ausgedrückt. Wir haben den Sicherheitsrat über alle Ereignisse und Dinge informiert, die wir beobachten. Es gibt Bereiche, auf die wir keinen Zugriff haben. Die Privatsphäre ist für uns versperrt. Das Mandat erlaubte es den Einsatzkräften nicht, Häuser zu durchsuchen. Wir sind hier, um die libanesische Armee dabei zu unterstützen. Wir können also definitiv einiges von diesen Aufgaben übernehmen, aber nicht alle.
Gleichzeitig ist das Waffenproblem real. Es gab Verhandlungen und Vermittlungen mit den verschiedenen Parteien und wir haben in den letzten 18 Jahren versucht, daran zu arbeiten. Und dann kam natürlich der Oktober 2023 und wir konnten nicht weitermachen. Aber ich wiederhole, die mangelnde Implementierung ist nicht auf das Versagen von Unifil zurückzuführen. Außerdem wurden viele Dinge nicht getan, weil wir nicht über die entsprechenden Kapazitäten verfügten.“

Das kann sich sowohl auf Mannstärke und Bewaffnung als auch auf UN-Befugnisse beziehen.

„Darüber hinaus fanden in diesen 18 Jahren dreiseitige Treffen statt, die den wichtigsten Mechanismus zur Vertrauensbildung darstellten und bei denen sich die israelische und die libanesische Armee jeden Monat im selben Raum trafen. Es war ein echter Erfolg für zwei Länder, die sich im Krieg befinden und nicht miteinander reden. Es war sehr hilfreich in Situationen, die etwas Größeres hätten auslösen können.
Also ja, es besteht Bedarf, mehr zu tun. Aber wenn es diesen Bedarf gibt und der Sicherheitsrat und die internationale Gemeinschaft beschließen, dies zu tun, brauchen wir natürlich eine Vereinbarung im Sicherheitsrat, der beide Seiten zustimmen. Es ist interessant, dass sowohl Israel als auch der Libanon sagen, dass 1701 umgesetzt werden muss. Sie sind sich also einig, dass es immer noch gültig ist. Aber sie muß umgesetzt werden. Nicht nur mit Worten, sondern mit Taten.

El País: Wäre eine Änderung der Mission in Kapitel 7 [der Charta der Vereinten Nationen, die die Anwendung von Gewalt erlaubt] eine Option, wie Israel es vorschlägt?

Tenienti: Es muss vom Sicherheitsrat beschlossen werden, aber es würde bedeuten, alle notwendigen Mittel einzusetzen, um die Stabilität in einem Land wiederherzustellen, daher bedarf es der Zustimmung des Libanon.
Ich denke, es wäre sehr schwierig. Man braucht eine pragmatische Lösung. Und dafür braucht man auch Truppen. Wären Italien, Frankreich, Spanien oder wer auch immer bereit, hier Truppen zu stationieren, die Gewalt anwenden müssen?
Was wären die Ergebnisse? Es ist, als würde man sich selbst verteidigen. Würde es noch mehr Gewalt auslösen als der Versuch, mit friedlichen Mitteln eine Lösung zu finden?

El País: Kapitel 6, die Grundlage der derzeitigen Mission, erlaubt die Selbstverteidigung. Fallen die Angriffe, die Unifil in den letzten Tagen erhalten hat, nicht in diese Kategorie? Warum haben sie nicht darauf zurückgegriffen?

Tenienti: Ja, die Möglichkeit wäre da. Aber es ist etwas, das eingesetzt werden kann, wenn eine ernsthafte Bedrohung für unsere Friedenstruppen besteht …“

Diesbezüglich ist ja bereits einiges geschehen. Tote, Verletzte und unverhüllte Drohungen …

„El País: Ich beziehe mich nicht auf den letzten, sondern auf die Angriffe, die Unifil als vorsätzlich deklariert hat.

Tenienti: Ja, absolut. Der Kommandeur vor Ort muss entscheiden, ob eine Reaktion angebracht ist, oder er sieht, dass eine Reaktion nur noch mehr Gewalt auslösen und noch mehr Menschen töten oder verletzen würde.
Bei der Selbstverteidigung muss man sehr pragmatisch vorgehen. Wir wollen nicht Teil des Konflikts werden. Es ist nicht die Aufgabe der Friedenstruppe, mehr Gewalt auszulösen. Sie kann eingesetzt werden, aber wir müssen sie von Fall zu Fall analysieren.

El País: Fühlen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt?

Tenienti: Absolut. Die Unterstützung war sehr stark. Es gab ein Unterstützungsschreiben der EU und der Mitgliedstaaten an die Friedenstruppen. Biden selbst sagte, dass Friedenstruppen nicht angegriffen werden sollten. Auch der Papst. Natürlich sind das nur Worte, aber es zeigt, dass sich alle darüber einig sind, dass das, was passiert, nicht die Art und Weise ist, wie ein Land gegen die Friedenstruppen in dieser Region vorgehen sollte, denn ein Angriff auf sie ist nicht nur ein Angriff auf die 50 Länder, sondern ein schwerer Angriff gegen die internationale Staatengemeinschaft.
Wird sich die Situation ändern? Ich weiß es nicht, aber es ist ein Anfang und könnte zu einigen Verhandlungen führen.“

Klingt nicht sehr überzeugt.

„Resolution 1701 könnte die tragfähige Vereinbarung zur Umsetzung sein. Möglicherweise sind Änderungen erforderlich, aber eine ernsthafte Debatte ist notwendig, denn ich wiederhole, ein regionaler Konflikt könnte die Folge sein, wenn dieser Konflikt jetzt nicht beendet wird.“

Der regionale Konflikt ist doch längst da.

„El País: Netanjahu wirft den Unifil-Truppen vor, zum menschlichen Schutzschild der Hisbollah zu werden

Tenienti: Was wir in diesen Tagen gesehen haben, ist, dass israelische Truppen in unseren Stützpunkt eingedrungen sind. Es ist für Friedenstruppen sehr gefährlich, eine der kämpfenden Gruppen auf ihrem Stützpunkt zu haben. Sie können angegriffen werden. Warum? Weil sich darin israelische Truppen befinden.
Als sie nur noch wenige Meter von den Iren und den Polen entfernt waren, gerieten damit unsere Stellungen in Gefahr. Schauen wir uns also die Fakten an. Ich werde es nicht beurteilen, ich werde es nicht analysieren, weil es nicht meine Rolle ist. Aber ich würde die Leute einfach bitten, sich anzuschauen, was in diesen Tagen passiert und ob die Argumente der Israelis richtig sind oder nicht.

El País: Und haben Sie eine Situation identifiziert, in der Milizionäre der Hisbollah aus der Nähe der Unifil-Truppen schossen?

Tenienti: Nicht in den letzten Tagen. In diesem Moment befindet sich die israelische Armee auf libanesischem Territorium. Zuvor schoss die Hisbollah auf Israel. Jetzt gegen die israelischen Streitkräfte im Libanon, wo wir sind. Natürlich ist es schwieriger und gefährlicher geworden.

El País: Sehen Sie die klare Absicht, die Unifil-Truppen anzugreifen, als Signal an die Truppen, abzuziehen?

Tenienti: Nun, sie sagten uns, wir sollten gehen, also war die Botschaft klar …

El País: Ja, aber es ist etwas anderes zu sagen: »Wir möchten, dass das passiert«, als die Truppen anzugreifen.

Tenienti: Die Worte waren: »Ihr müßt abziehen.« Die Taten sind, dass es von ihnen Angriffe gegen unsere Truppen gegeben hat. Der Sprecher der (israelischen Armee) sagte gestern (am 13.10.), dass sie diese Vorfälle tatsächlich untersuchen würden, um herauszufinden, was passiert sei. Nehmen wir an, im Zweifelsfalle für den Angeklagten, Zweifel, dass einige Truppen nicht wussten, was sie taten.
Aber ich weiß nicht …
Ist es für irgendjemanden besser, niemanden dort zu haben?“

Keine Zeugen und freie Hand für die Okkupation fremden Territoriums, das wäre so ein Hintergedanke …

Pressespiegel El País, 29.9.: Nachruf

„HASSAN NASRALLAH, DER GEISTLICHE, DER DIE HISBOLLAH AUF DIE POLITISCHE BÜHNE GEBRACHT HAT

Der Anführer der libanesischen Parteimiliz verhalf der Organisation zu einem wichtigen Machtanteil in den Institutionen und scheute sich nicht, mit Waffen zu drohen, um mögliche Entscheidungen, die ihren Interessen zuwiderlaufen, zu blockieren.

Der schwarze Turban, der für die Schiiten auf die Abstammung eines Geistlichen von Mohammend hinweist, schmückte das Haupt von Hassan Nasrallah, dem Generalsekretär der libanesischen schiitischen Milizpartei Hisbollah, der diesen Freitag von der israelischen Armee mit einem Bombardement auf einen Außenbezirk von Beirut ermordet wurde.“

Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Hauptströmungen des Islam, Sunniten und Schiiten, ist das Problem der religiösen Legitimation als Sprachrohr Allahs, die die Sunniten über Lehre und Inspiration ableiten, die Schiiten über die Abstammung.
Die Schiiten verfügen daher über einen (erblichen) Klerus, die Sunniten nicht.

„Unter seinen Anhängern galt er als Sayyid (= Nachfahre Mohammeds), der Ehrentitel, mit der viele Schiiten ihn bezeichneten.“

Es bleibt offen, ob er sich diese Abstammung nur zuschrieb oder ob da wirklich etwas dran war. Es klang jedenfalls gut.
Wahrscheinlich ist eher ersteres, weil sein Vater war kein Geistlicher. Er selbst hatte deshalb also eigentlich keine Berechtigung, die geistliche Laufbahn zu beschreiten.
Man sieht, hier wurde auch von den gestrengen Mullahs im Iran ein Auge zugedrückt, um diesen wichtigen Verbündeten mit der nötigen Aura auszustatten.

„Bei den Bestattungen der Märtyrer war sein Gesicht ebenso präsent wie die gelben Fahnen der Hisbollah. Der berühmte Spruch »Wir werden deinem Ruf folgen, O Hussein!« (der im schiitischen Islam verehrte Enkel Mohammeds) wurde zu „Wir werden deinem Ruf folgen, oh Nasrallah!“
Sein Gesicht war im Westen ein Synonym für Terrorismus und für die Libanesen ein Ausdruck der Schande, weil sie ihn beschuldigten, den Staat übernommen zu haben.“

Das war auch so, lag aber nicht nur an der Hisbollah, sondern auch an der Verfaßtheit des libanesischen Staates. Siehe dazu den Beitrag zum Libanon.

„Nasrallahs Person repräsentierte allerdings auch die Würde jener Sunniten in der arabischen Welt, die den Iran verabscheuen, aber der Miliz Beifall spenden, die Israel während des Bombardements von Gaza die Stirn bot.
Seine frühen Jahre verbrachte er an zwei vergessenen Orten. Der erste ist der »Elendsgürtel« im Osten Beiruts: das Elendsviertel Scharschabuk in der Nähe des Vororts Karantine, wo er vor 64 Jahren geboren wurde und »alle« arm waren, wie er sich im Mai erinnerte.“

Karantina grenzt unmittelbar östlich an den vor einigen Jahren explodierten Hafen von Beirut an und war das Viertel, wo in der Spätzeit des Osmanischen Reiches eine Quarantänestation für die ankommenden Schiffe eingerichtet wurde.
Auch heute sind dort alle ziemlich arm.
Das seinerzeitige Baracken- und Zeltviertel Scharschabuk ist heute anscheinend ein Depot für Altmetall und Schrottautos.

„Er war das älteste von neun Kindern, sein Vater betrieb einen Obstladen und dieses „jeder“ bezog sich auch auf sie. Arme und Schiiten, die marginalisierte Minderheit des Islam.
1975, als der Bürgerkrieg ausbrach, der 15 Jahre andauern sollte, kehrte die Familie des libanesischen Geistlichen in ihren Heimatort Bazouriye im Süden des Landes zurück. Es ist eine dieser Städte mit schiitischer Mehrheit nahe der Grenze zu Israel, die als Hochburg der Hisbollah gelten und aus der in den letzten Tagen Tausende von Menschen (auf Befehl oder aus Angst) an geflohen sind, – aus dieser Grenzregion, die regelmäßig zur Kriegsfront wird.“

Bazouriye liegt östlich von Tyros, zur israelischen Grenze sind es ca. 20 km.

„Das Elend, die Ausgrenzung der Schiiten und der palästinensischen Flüchtlinge, die in seinem Geburtsviertel leben – allesamt »unterdrückt«, ein zentrales Konzept in seiner Rede und in der Staatsideologie seines Hauptverbündeten Iran – prägten die Biografie Nasrallahs.
Der gläubige Teenager hielt schon sehr früh an seiner schiitischen Identität fest – und an einer anderen Idee, die schließlich einer der Gründe für die Existenz seiner Organisation wurde: dem Widerstand gegen die israelische Besetzung des Libanon.
Im Alter von 15 Jahren schloss er sich der libanesischen Widerstandsbewegung (Amal) an, die vom iranischen Geistlichen Musa as-Sadr gegründet wurde und deren Anhänger sich selbst »die Enteigneten« nennen. Als Al Sadr 1978 verschwand,“

– er kehrte von einen Libyen-Reise nicht zurück. Bis heute wird Gaddafi für seine Ermordung verantwortlich gemacht –

„strebte er nach einer Modernisierung des Schiitentums und war eine Schlüsselfigur in dessen Entwicklung hin zu einer politischen Partei.“

Das Verschwinden as-Sadrs ereignete sich, man rufe es sich in Erinnerung, im Jahr vor der iranischen Revolution, mit der die Schia sich erstmals als Staatsmacht etablierte. Seither sieht sich der Iran als Schutzmacht aller unterdrückten Schiiten der Welt, so wie Israel als Schutzmacht der verfolgten Juden.
Aber im Jahr 1978 waren die Schiiten tatsächlich überall Underdogs der islamischen Welt.

„1976 reiste Nasrallah zu einem der spirituellen Zentren des Schiismus: dem Seminar in Nadschaf im Irak. Ihr Direktor war Mohammed Baqir as-Sadr, ein enger Vertrauter des späteren iranischen Führers Ayatollah Khomeini, den der Student damals kennenlernte.
Zwei Jahre später wurde er vom Regime Saddam Husseins aus dem Irak vertrieben,“

– nicht nur Nasrallah, sondern die ganze schiitische Partie von Khomeini bis zu anderen Exilanten, wurde 1978 aus dem Irak ausgewiesen.
Erstens, weil sie gegen den säkulären Gedanken der Baath-Partei wetterten und damit das auf der sunnitischen Minderheit beruhende System Saddam Husseins gefährdeten, und zweitens, weil der Irak damals eine Annäherung an den Schah suchte, um die ewigen Grenzstreitigkeiten mit dem Iran auf friedlichem Wege zu lösen und deshalb die Anti-Schah-Opposition nicht mehr brauchen konnte –

„aber zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits die Aufmerksamkeit seines späteren Mentors und Vorgängers als Anführer der Hisbollah, Abbas Al-Musawi, auf sich gezogen, der 1992 von Israel ermordet wurde.

Diese Begegnungen prägten sein Denken. Ein Ereignis war entscheidend für seine Hingabe an Ayatollah Khomeini: die Gründung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979.
Das Regime, dessen erster oberster Führer Khomeini war, begründete die Doktrin des Welāyat-e Faqih, der Theokratie, die dem islamischen Recht verpflichtet ist und den Klerus an die Spitze der politischen und staatlichen Macht stellen.
Zwischen dem in Nadschaf gelehrten schiitischen Quietismus, der die Trennung von Politik und Religion verteidigte, und dem Welāyat-e Faqih von Khomeini und dem iranischen Seminar von Ghom – wo Nasrallah in den 1980er Jahren auch studierte – entschied sich der Libanese für Letzteres.“

Das ist nachvollziehbar, denn der Stillhalte-Modus der irakisch-schiitischen Kleriker von Nadschaf – der ihnen im Irak der Baath-Partei-Regierungen überhaupt die Aufrechterhaltung ihres Lehrbetriebs in Nadschaf ermöglicht hatte – hätte eben weiter den Status der Schiiten als Underdogs des Libanon festgeschrieben.

„1982 verließ er Amal und schloss sich der Hisbollah, der Partei Gottes, an, einer Miliz, die mit iranischer Unterstützung und Ausbildung gegründet worden war.
Zehn Jahre später, als Nasrallah zum Generalsekretär ernannt wurde, registrierte sich die Organisation als politische Partei, eine Entscheidung, die ihrem neuen, damals 32-jährigen Führer zugeschrieben wurde.
Bei den Kommunalwahlen 1992 kandidierte diese Partei in zwölf Bezirken und gewann alle. Seit 2005 ist die Hisbollah an den Regierungen des Landes beteiligt und hat 2006 ein Minderheits-Veto als Preis für die Koalition mit der Regierung der Nationalen Einheit eingeführt, die nach dem Krieg mit Israel in diesem Sommer gebildet wurde. Zum ersten Mal erhielt die Hisbollah zwei Ministerämter.

Israel

Nasrallahs Führung in der Hisbollah war schon lange vorher etabliert.

Der Rückzug Israels aus dem Südlibanon im Jahr 2000, der teilweise auf die militärischen Aktionen der Organisation zurückgeführt wurde, und der Rückzug nach dem kurzen Krieg von 2006 umgaben den Anführer der Parteimiliz mit der Aura eines Befreiers.
Viele seiner Glaubensbrüder sahen in ihm »den einzigen Muslim, der Israel auf dem Schlachtfeld besiegt hat«, wie ihn die arabische Website Al Bawaba vor Jahren beschrieb.

Sein Porträt ziert Häuser und Geschäfte in den schiitischen Vierteln von Beirut, der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes, wo ihn viele als Helden verehren.
Sein erstgeborener Sohn Hadi wurde 1997 im Alter von 18 Jahren von Israel ermordet und israelische Medien gehen davon aus, daß seine Tochter am Freitag bei dem Bombenanschlag ums Leben kam. Die USA und Israel betrachteten ihn aufgrund der von der Hisbollah begangenen Selbstmordattentate und Entführungen als Anführer einer Terroristengruppe.“

Lies: Der israelische Terrorismus ist gerechtfertigt und daher keiner, sondern legitime Selbstverteidigung.

„Der Geistliche lebte jahrelang im Verborgenen und wandte sich von einem unbekannten Ort aus, meist live, an seine Anhänger.
Am 8. Oktober 2023, einen Tag nach dem Hamas-Angriff und als israelische Flugzeuge als Vergeltung die ersten Bomben auf Gaza abwarfen, setzte er einen Schritt, der ihn laut Israel am Ende das Leben kostete: Die Hisbollah feuerte Raketen auf die Schebaa-Farmen ab, ein Gebiet, das sie beansprucht und über dessen Status die USA in derselben Resolution verhandeln, mit der der Krieg von 2006 endete.“

Mit „Schebaa-Farmen“ wird ein unbewohntes Gebiet im Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Libanon und Israel bezeichnet, das seit 1967 von Israel besetzt wird, das dort Militärstützpunkte errichtet hat.
Die Frage der Schebaa-Farmen ist deshalb heikel, weil sie nicht nur Israels Besetzung libanesischer Gebiete berührt, sondern auch die israelische Besetzung – und Beanspruchung! – der Golan-Höhen.

„Das Kreuzfeuer (fünfmal heftiger von Israel als von der Hisbollah) verursachte Hunderte von Toten, bis die Regierung von Benjamin Netanjahu mit einem massiven Bombenangriff (550 Tote, der tödlichste Tag in der Geschichte des Libanon und so viele wie in den letzten 11 Monaten davor) antwortete. Seither nutzt Israel seine strategische Überlegenheit, um Hisbollah-Führer bis hin zum obersten zu ermorden.

Als charismatischer und guter Redner war Nasralá vor allem ein Pragmatiker, ein Spezialist darin, gegensätzliche Positionen zu beziehen und die Interessen der Hisbollah über ihre Ideale zu stellen.
Im Libanon zögerte er nicht, die … Macht zu nutzen, die ihm Waffen und sein Status als Staat im Staat verleihen, um zu verhindern, daß Institutionen Entscheidungen trafen, die der Hisbollah geschadet hätten.
Sei es, indem sie wie 2008 ihre Milizionäre auf die Straße bringen; oder durch Blockierung der Untersuchung der Hafenexplosion in Beirut, da der Richter politisch motiviert war; oder indem der nächste Präsident per Veto zum Fall gebracht wurde.

Seine Rede zur Verteidigung der Unterdrückten hinderte ihn beispielsweise nicht daran, seinen syrischen Verbündeten Baschar al-Assad offen und militärisch zu unterstützen, (…)“

Zuvor hatte die Hisbollah die Aufstände des Arabischen Frühlings gegen Diktatoren in anderen Ländern der Region gelobt. Bis sie ihren Verbündeten Assad berührten, den Führer, der Wochen zuvor damit prahlte, daß diese Aufstände Syrien niemals erreichen würden.
Die palästinensische HAMAS-Bewegung war tatsächlich mit der Vertreibung ihrer Führung aus Damaskus konfrontiert, gerade weil sich die HAMAS nicht dem Schulterschluss mit Assad anschloß.“

Anfang 2012 verließ Chalid Maschal im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges, in dem sich die Hamas gegen Präsident Baschar al-Assad stellte, sein Exil in Damaskus und übersiedelte nach Katar. (Wikipedia, Chalid Maschal)
Ismail Haniyya hingegen hielt sich damals in der Türkei auf.

Eine interessante Rückerinnerung der Autoren des Artikels über die damalige Spaltung in der Anti-Israel-Koalition. Immerhin ist die HAMAS eine sunnitische, die Hisbollah eine schiitische Organisation und beide begreifen sich als religiöse Organisationen, halten also damit an dieser Unterscheidung fest.

„Diese Widersprüchlichkeit Nasrallahs trübte sein Image.
11 Monate Raketenbeschuss gegen Israel und die Weigerung, seine Offensive zu stoppen, während weiterhin Bomben auf Gaza fallen – obwohl seine Kommandeure einer nach dem anderen fielen und der Mossad es mit der tödlichen Ferndetonation von Tausenden von Pagern und Funkgeräten demütigte und schwächte – stellten es wieder her.

Für den Westen ist ein Terrorist gestorben, der zu lange mit dem Schicksal gespielt hatte. Für viele im Nahen Osten hat Nasrallah den Preis dafür bezahlt, daß sie sich für die Palästinenser eingesetzt haben, während es sonst fast niemand tat.“

Pressespiegel El País, 30.8.: Zur Verhaftung Durovs

„LÜGEN, PANIK UND LEAKS IN RUSSLAND NACH DER VERHAFTUNG VON PAVEL DUROV, DEM GRÜNDER VON TELEGRAM

Das Regime befürchtet, daß die Verhaftung die nationale Sicherheit gefährdet, weil es Informationen über den Krieg in der Ukraine oder Geheimnisse aus den dunklen Büros Moskaus hat. Als der Gründer von Telegram letzten Samstag in Frankreich verhaftet wurde, gerieten sowohl der Kreml als auch sein Verteidigungsministerium und letztendlich der allmächtige russische Staat in Panik und gaben ihren Mitarbeitern einen absurden Befehl: »Löschen Sie alle Chats.«

Absurd, weil es genauso wirkungslos wäre wie das Herausziehen der Kabel vom Computer oder das Ausschalten des Telefons: Telegram funktioniert nicht so und die Daten seiner Nutzer bleiben in der Cloud des Unternehmens gespeichert. Diese Geste zeigte jedoch, daß Rußland eine äußerst sensible Angelegenheit der nationalen Sicherheit in die Hände eines Enfant terrible, Pavel Dúrov, gelegt hat: seine Telekommunikation, von der Front bis zu den dunklen Büros Moskaus.“

Was wohl mit diesen „dunklen Büros“ gemeint ist? Offenbar sind für den Autor alle Büros in Rußland dunkel, weil ja Russen drinnen sitzen!

„»Pavel Durov wurde verhaftet. Dieser Angriff auf das Nachrichtensystem, von dem die Hälfte des Militäreinsatzes in der Ukraine abhängt, war vorhersehbar. Hat da bisher niemand an so etwas gedacht?!«, prangerte auf seinem eigenen Telegram-Kanal einer der wenigen russischen Kriegskorrespondenten an, die Putin in seinem Büro empfängt, Alexander Sladkov.“

Offenbar läuft ein guter Teil der Kommunikation zwischen den Kommandostellen und der Front über diesen Dienst.
Sladkov ist Korrespondent des russischen Staatsfernsehens. So wenige sind die Korrspondenten gar nicht, die Putin regelmäßig empfängt, um sich mit ihnen auszutauschen. Er selber hat offenbar auch nicht daran gedacht und einen eigenen Telegram-Kanal betrieben.

„»Es gibt viele Witze darüber, daß die Verhaftung von Pavel Durov mit der Verhaftung des Kommunikationschefs der russischen Streitkräfte gleichzusetzen ist. Nun, ein großer Teil der Kontrolle der Truppen hängt von Telegram ab«, räumte Kremlberater Alexej Rogozin ein. »So verrückt es auch erscheinen mag: Geheimdienstdaten, Artillerieanpassungen, Videoübertragungen aus Hubschraubern und vieles mehr.«“

Die russische Armee hat sich offenbar auf die Verschlüsselungstechniken von Telegram verlassen. Man vergesse nicht, daß die nicht von Pavel, sondern seinem Bruder Nikolaj stammen, der nach wie vor in Rußland lebt.

„Am anderen Ende des Telefons antwortet auf die Anfragen von El País Michail Klimarjov, Direktor der Gesellschaft zum Schutz des Internets.“

Klimarjov ist ein exilierter Russe, der nicht „das Internet“ schützen, sondern russische Internetzensur bekämpfen will, mit seiner Organisation „Internet Without Borders“. Er ist also ein Dissident und, ähnlich wie Durov, ein Anhänger eines „freien“ Internets.

„»Der Einsatz von Telegram für militärische Zwecke zeugt von einem klaren Mangel an Professionalität und einem Scheitern«, sagt der russische Telekommunikationsexperte aus dem Exil.
»Die Ukrainer haben Signal [einen anderen Messaging-Dienst mit offenem Code] übernommen und das Ruder herumgerissen. Sie haben den Code übernommen“

– vermutlich nicht nur übernommen, sondern umgestaltet –

„und ihre eigenen Server bereitgestellt«, erklärt der Aktivist. »Rußland kann es auch schaffen, aber es wird Zeit brauchen. Signal funktioniert nicht so gut wie Telegram und jetzt müssen sich Tausende von Menschen umstellen, die ein anderes Telekommunikationssystem brauchen, aber an Telegram gewöhnt sind«, sagt Klimarjov.

»Höchstwahrscheinlich werden [die russischen Streitkräfte] versuchen, die Änderung sofort vorzunehmen, aber es ist klar, daß Durovs Verhaftung die Kampfkraft der russischen Armee verringert hat«, bemerkt der Dissident. »Sie sind in einer schwierigen Situation.«

Gesperrt bis 2020

Telegram war in Rußland wegen Nichtkollaboration mit seinen Sicherheitskräften bis zum 18. Juni 2020 verboten – bis zu dem Tag, an dem die Behörde, mit der der Kreml das Internet zensiert, Roskomnadzor, überraschend ihr Veto gegen Durows Plattform aufhob.“

Diese Formulierung ist insofern irreführend, als Telegram nur zwischen Anfang 2018 und Juni 2020 gesperrt war, von seiner Gründung 2013 bis 2018 jedoch legal verwendet werden durfte.

„Wenige Wochen später ersetzte das gesamte Kreml-Staatsnetzwerk seine Kommunikation mit westlicher Software wie WhatsApp und Skype durch Telegram. Es handelte sich um eine allgemeine Anordnung, die sowohl die Organe der Präsidialverwaltung als auch die Fernsehsender betraf, mit denen Putin seine Propaganda im Ausland verbreitet, wie diese Zeitung bestätigen konnte.“

Das ist in der Tat beachtlich, denn Durov saß mit seiner Firma damals bereits in Dubai. Offenbar hielten die russischen Behörden Telegram für sicher und unknackbar und vertrauten auf die Verschlüsselungs-Taktiken.
Daß die physische Person des Betreibers sich als Sicherheitsrisiko erweisen könnte, wurde offenbar von den Gemeindienst-Spezialisten nicht bedacht. Vladimir Vladimirovitsch hat hier gepatzt.
Vermutlich laufen inzwischen in Moskau Versuche, Telegram zu zerstören und die Daten auf den Servern in Dubai und anderswo zu vernichten.

„Margarita Simonjan, Direktorin eines dieser Medien, Russia Today, forderte alle auf, ihre Telegram-Nachrichten zu löschen, sobald die Verhaftung bekannt wurde, und spielte auf einen Mythos über diesen Internet-Dienst an. »Durov wurde festgenommen, um die Schlüssel [zu den Chats] zu stehlen«, schrieb Simonjan präzise auf ihrem Telegram-Kanal.

In Wirklichkeit gibt es keinen »universellen Schlüssel«, mit dem Dritte, also Außenstehende, alle Nachrichten nach eigenem Ermessen lesen können, da ihre Verschlüsselungs–Schlüssel zum Zeitpunkt des Sendens zwischen den Benutzern erstellt werden.“

Ähnlich wie seinerzeit bei der Enigma-Maschine, wird also jede Botschaft neu verschlüsselt.
Am Knacken der Enigma-Maschine waren auch viele Personen beteiligt und es dauerte jahrelang.
Es geht also jetzt ein Wettlauf los. Wer schafft es eher: Die westlichen Geheimdienste, sich Zugang zu den Telegram-Daten zu verschaffen, oder den russischen, sie erstens für sich zu kopieren und nachher Telegram unzugänglich zu machen?

„Diese angeblichen Schlüssel forderte der russische Föderale Sicherheitsdienst 2018 von Durov. Der Besitzer von Telegram antwortete mit einem Brief, der riesige Eisenschlüssel enthielt.“

Sehr neckisch.
Es schadet jedoch nicht, daran zu erinnern, warum die russischen Behörden diesen Zugang zu Telegram wollten: Nach dem Terroranschlag auf die Petersburger U-Bahn 2017 forderten sie den Zugang zu Daten der Hauptverdächtigen, die Telegram benutzt hatten.
Es war die Weigerung Durovs, die zum Verbot von Telegram führte.

„Das eigentliche Problem liegt jedoch in den Servern, die Telegram in seinen Rechenzentren auf der ganzen Welt verteilt hat. »Wir wissen nicht, wie Telegram wirklich funktioniert. Es besteht das Risiko, daß es Zugriff auf Korrespondenz oder gespeicherte Dateien erhalten kann. Telegram wurde als Cloud-Messenger verkauft, in dem Daten über einen längeren Zeitraum gespeichert werden können«, sagt Klimarjov.“

Nur um das richtig zu verstehen: Die ganzen Chats, Videos, Kanäle usw., die auf Telegram gehostet sind, sollen im Prinzip unzugänglich sein, sogar für den Betreiber, und dann „besteht das Risiko, daß es Zugriff auf Korrespondenz oder gespeicherte Dateien erhalten kann“?!
Irgendwas stimmt hier nicht.

„Es war nie bekannt, ob es 2020 irgendeine Art von Vereinbarung mit der Regierung gab, gerade dann, als die Einführung von Durovs Kryptowährung TON in den USA scheiterte, aber es gibt dafür mehrere Anzeichen.“

Hier bringt der Autor etwas durcheinander. Die geplannte Kryptowährung Durovs hätte „Gram“ geheißen und wurde von einem US-Gericht nicht zugelassen, siehe hier.
Der Toncoin ist eine tatsächlich existierende Kryptowährung, mit der man jedoch nur innerhalb Telegrams bestimmte Inhalte bezahlen kann.

„Trotz seiner angeblichen Neutralitätspolitik gegenüber den Inhalten seiner Nutzer löschte Telegram im Jahr 2021 einen Bot aus dem Team des Dissidenten Alexej Nawalnyj, Smart Vote, der den Russen Wahlkreis für Wahlkreis empfahl, welchen alternativen Kandidaten sie wählen sollten, um die Partei Putins »Einiges Rußland« bei den Parlamentswahlen in diesem Jahr zu schlagen. Von dieser Zensur am stärksten betroffen war die Kommunistische Partei, die jedoch Putin treu blieb und nicht protestierte.“

Das automatisierte Programm Navalnyjs hätte also die RKP an die Macht gebracht, wenn das Programm Smart Vote nicht von Telegram gelöscht worden wäre?
Navalnij als Steigbügelhalter der RKP?
Oder waren sowieso beide chancenlos, es ging nur um einen Demonstrationseffekt?

Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Unbeliebtheit Navalnyjs und darauf, daß ein gutes Abschneiden seiner Partei bei Wahlen sowieso nie zu erwarten war, weshalb von seinen westlichen Sponsoren immer gleich auf Wahlfälschungsvorwürfe und Unruhen gesetzt wurde.

Erinnert irgendwie an Venezuela …

„Ein weiterer Hinweis war die Entfernung oppositioneller Telegram-Kanäle in der Region Baschkortostan in diesem Jahr während der Proteste gegen die Inhaftierung eines Umweltdissidenten.“

Die Eingriffsmöglichkeiten des Betreibers beschränken sich also auf die Entfernung bestimmter Inhalte, Kanäle usw., sollen aber keinen Einblick in sie selbst ermöglichen?
Hmmm.

„Dennoch versucht Durov durch laxe Moderation seiner Plattform seine Unabhängigkeit zu bewahren. »Der Staat verlangt, daß man sich an seine Gesetze hält, aber jeder Staat hat seine eigenen Vorstellungen davon, was illegale Inhalte sind«, betont der Journalist Andrei Zacharov auf seinem Telegram-Kanal.

Telegram war diesen Monat das Ziel eines Blockierungsversuchs in Rußland und der Kreml hat angeordnet, daß sich alle Kanäle mit mehr als 10.000 Abonnenten registrieren müssen. Einige bekannte Persönlichkeiten aus dem Ukraine-Krieg, wie etwa der Kommandant Alexander Chodakovskij – der mehr als eine halbe Million Abonnenten hat – haben angekündigt, nicht mehr zu schreiben.

Die große Lüge

Die Kernfrage ist, in welchem Ausmaß Putin und Durov zusammengearbeitet haben.

»Es gibt kein Zurück, insbesondere nachdem ich mich öffentlich geweigert hat, mit den [russischen] Behörden zusammenzuarbeiten«, sagte der Unternehmer bei seinem angeblichen Abschied von seinem Heimatland im Jahr 2014. Der Geschäftsmann verließ das Land, nachdem er sich geweigert hatte, dem Kreml die auf VK gespeicherten Daten über die Ukrainer zu übergeben, die an den Maidan-Protesten teilgenommen haben.
VK wurde 2014 an Geschäftsleute aus dem Umfeld des Kreml verkauft und wird seither von ihnen betrieben.

Ein Jahrzehnt später prahlte der Geschäftsmann erneut damit, ein vermeintlicher Staatsgegner zu sein: »Ich reise an Orte, von denen ich glaube, daß sie unseren Werten entsprechen.“

Man fragt sich, was hier unter „unser“ läuft, also welche Werte und wessen Werte da gemeint sind?

„Ich besuche nicht die großen geopolitischen Mächte oder andere Länder wie China, Rußland oder sogar die USA«, sagte Durov im April dieses Jahres … Tucker Carlson.“

Wer wohl die großen geopolischen Mächte sein sollen, wenn sie unter „andere Länder“ laufen? Bzw., wenn nur die Reihenfolge verkehrt ist, was wären dann die „anderen Länder“?

Aber Durov hat … gelogen. Ein großes Leck in einer Datenbank des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB, Nachfolger des KGB) hat ergeben, daß der Besitzer von Telegram zwischen 2015 und 2017 mehr als 50 Mal nach Rußland gereist ist, und ein weiteres Mal am 18. Juni 2021, als Telegram in Rußland wieder zugelassen wurde.“

Das war 2020, siehe weiter oben, nicht 2021.

Durov hatte versprochen, extremistische Inhalte zu löschen, darauf wurde das Verbot aufgehoben.
Man merkt übrigens – das Ganze ging durch die Duma –, daß es in Rußland ein starkes Interesse an der Nutzung von Telegram gab.

„Kein Medium konnte bestätigen, ob es nach diesen Reisen zu irgendeiner Art von Verpflichtung gegenüber dem Kreml kam. »Das ist ein sehr schlechtes Zeichen«, sagt Klimarjov. »[Telegram] wurde blockiert und Durov erschien ruhig in Rußland, auch wenn er möglicherweise Angst vor einer Verhaftung hatte. »Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß es irgendeine Art von Verhandlung gab«, erklärt der exilierte Aktivist.

Klimarjov steht seit 2022 auf der Fahndungsliste der russischen Behörden. »Sobald ich die Grenze überquere, stecken sie mich ins Gefängnis. Und obwohl es jetzt etwas anders ist,“

– was darauf hinweist, daß auch ihm von Seiten Rußlands Angebote gemacht werden –

„stellt sich heraus, daß Durov es machen konnte. Und er konnte es nicht nur, er tat es auch. Niemand hat ihn eingesperrt. Natürlich stellen sich Fragen«, schließt er.“