Pressespiegel El País, 29.9.: Nachruf

„HASSAN NASRALLAH, DER GEISTLICHE, DER DIE HISBOLLAH AUF DIE POLITISCHE BÜHNE GEBRACHT HAT

Der Anführer der libanesischen Parteimiliz verhalf der Organisation zu einem wichtigen Machtanteil in den Institutionen und scheute sich nicht, mit Waffen zu drohen, um mögliche Entscheidungen, die ihren Interessen zuwiderlaufen, zu blockieren.

Der schwarze Turban, der für die Schiiten auf die Abstammung eines Geistlichen von Mohammend hinweist, schmückte das Haupt von Hassan Nasrallah, dem Generalsekretär der libanesischen schiitischen Milizpartei Hisbollah, der diesen Freitag von der israelischen Armee mit einem Bombardement auf einen Außenbezirk von Beirut ermordet wurde.“

Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Hauptströmungen des Islam, Sunniten und Schiiten, ist das Problem der religiösen Legitimation als Sprachrohr Allahs, die die Sunniten über Lehre und Inspiration ableiten, die Schiiten über die Abstammung.
Die Schiiten verfügen daher über einen (erblichen) Klerus, die Sunniten nicht.

„Unter seinen Anhängern galt er als Sayyid (= Nachfahre Mohammeds), der Ehrentitel, mit der viele Schiiten ihn bezeichneten.“

Es bleibt offen, ob er sich diese Abstammung nur zuschrieb oder ob da wirklich etwas dran war. Es klang jedenfalls gut.
Wahrscheinlich ist eher ersteres, weil sein Vater war kein Geistlicher. Er selbst hatte deshalb also eigentlich keine Berechtigung, die geistliche Laufbahn zu beschreiten.
Man sieht, hier wurde auch von den gestrengen Mullahs im Iran ein Auge zugedrückt, um diesen wichtigen Verbündeten mit der nötigen Aura auszustatten.

„Bei den Bestattungen der Märtyrer war sein Gesicht ebenso präsent wie die gelben Fahnen der Hisbollah. Der berühmte Spruch »Wir werden deinem Ruf folgen, O Hussein!« (der im schiitischen Islam verehrte Enkel Mohammeds) wurde zu „Wir werden deinem Ruf folgen, oh Nasrallah!“
Sein Gesicht war im Westen ein Synonym für Terrorismus und für die Libanesen ein Ausdruck der Schande, weil sie ihn beschuldigten, den Staat übernommen zu haben.“

Das war auch so, lag aber nicht nur an der Hisbollah, sondern auch an der Verfaßtheit des libanesischen Staates. Siehe dazu den Beitrag zum Libanon.

„Nasrallahs Person repräsentierte allerdings auch die Würde jener Sunniten in der arabischen Welt, die den Iran verabscheuen, aber der Miliz Beifall spenden, die Israel während des Bombardements von Gaza die Stirn bot.
Seine frühen Jahre verbrachte er an zwei vergessenen Orten. Der erste ist der »Elendsgürtel« im Osten Beiruts: das Elendsviertel Scharschabuk in der Nähe des Vororts Karantine, wo er vor 64 Jahren geboren wurde und »alle« arm waren, wie er sich im Mai erinnerte.“

Karantina grenzt unmittelbar östlich an den vor einigen Jahren explodierten Hafen von Beirut an und war das Viertel, wo in der Spätzeit des Osmanischen Reiches eine Quarantänestation für die ankommenden Schiffe eingerichtet wurde.
Auch heute sind dort alle ziemlich arm.
Das seinerzeitige Baracken- und Zeltviertel Scharschabuk ist heute anscheinend ein Depot für Altmetall und Schrottautos.

„Er war das älteste von neun Kindern, sein Vater betrieb einen Obstladen und dieses „jeder“ bezog sich auch auf sie. Arme und Schiiten, die marginalisierte Minderheit des Islam.
1975, als der Bürgerkrieg ausbrach, der 15 Jahre andauern sollte, kehrte die Familie des libanesischen Geistlichen in ihren Heimatort Bazouriye im Süden des Landes zurück. Es ist eine dieser Städte mit schiitischer Mehrheit nahe der Grenze zu Israel, die als Hochburg der Hisbollah gelten und aus der in den letzten Tagen Tausende von Menschen (auf Befehl oder aus Angst) an geflohen sind, – aus dieser Grenzregion, die regelmäßig zur Kriegsfront wird.“

Bazouriye liegt östlich von Tyros, zur israelischen Grenze sind es ca. 20 km.

„Das Elend, die Ausgrenzung der Schiiten und der palästinensischen Flüchtlinge, die in seinem Geburtsviertel leben – allesamt »unterdrückt«, ein zentrales Konzept in seiner Rede und in der Staatsideologie seines Hauptverbündeten Iran – prägten die Biografie Nasrallahs.
Der gläubige Teenager hielt schon sehr früh an seiner schiitischen Identität fest – und an einer anderen Idee, die schließlich einer der Gründe für die Existenz seiner Organisation wurde: dem Widerstand gegen die israelische Besetzung des Libanon.
Im Alter von 15 Jahren schloss er sich der libanesischen Widerstandsbewegung (Amal) an, die vom iranischen Geistlichen Musa as-Sadr gegründet wurde und deren Anhänger sich selbst »die Enteigneten« nennen. Als Al Sadr 1978 verschwand,“

– er kehrte von einen Libyen-Reise nicht zurück. Bis heute wird Gaddafi für seine Ermordung verantwortlich gemacht –

„strebte er nach einer Modernisierung des Schiitentums und war eine Schlüsselfigur in dessen Entwicklung hin zu einer politischen Partei.“

Das Verschwinden as-Sadrs ereignete sich, man rufe es sich in Erinnerung, im Jahr vor der iranischen Revolution, mit der die Schia sich erstmals als Staatsmacht etablierte. Seither sieht sich der Iran als Schutzmacht aller unterdrückten Schiiten der Welt, so wie Israel als Schutzmacht der verfolgten Juden.
Aber im Jahr 1978 waren die Schiiten tatsächlich überall Underdogs der islamischen Welt.

„1976 reiste Nasrallah zu einem der spirituellen Zentren des Schiismus: dem Seminar in Nadschaf im Irak. Ihr Direktor war Mohammed Baqir as-Sadr, ein enger Vertrauter des späteren iranischen Führers Ayatollah Khomeini, den der Student damals kennenlernte.
Zwei Jahre später wurde er vom Regime Saddam Husseins aus dem Irak vertrieben,“

– nicht nur Nasrallah, sondern die ganze schiitische Partie von Khomeini bis zu anderen Exilanten, wurde 1978 aus dem Irak ausgewiesen.
Erstens, weil sie gegen den säkulären Gedanken der Baath-Partei wetterten und damit das auf der sunnitischen Minderheit beruhende System Saddam Husseins gefährdeten, und zweitens, weil der Irak damals eine Annäherung an den Schah suchte, um die ewigen Grenzstreitigkeiten mit dem Iran auf friedlichem Wege zu lösen und deshalb die Anti-Schah-Opposition nicht mehr brauchen konnte –

„aber zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits die Aufmerksamkeit seines späteren Mentors und Vorgängers als Anführer der Hisbollah, Abbas Al-Musawi, auf sich gezogen, der 1992 von Israel ermordet wurde.

Diese Begegnungen prägten sein Denken. Ein Ereignis war entscheidend für seine Hingabe an Ayatollah Khomeini: die Gründung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979.
Das Regime, dessen erster oberster Führer Khomeini war, begründete die Doktrin des Welāyat-e Faqih, der Theokratie, die dem islamischen Recht verpflichtet ist und den Klerus an die Spitze der politischen und staatlichen Macht stellen.
Zwischen dem in Nadschaf gelehrten schiitischen Quietismus, der die Trennung von Politik und Religion verteidigte, und dem Welāyat-e Faqih von Khomeini und dem iranischen Seminar von Ghom – wo Nasrallah in den 1980er Jahren auch studierte – entschied sich der Libanese für Letzteres.“

Das ist nachvollziehbar, denn der Stillhalte-Modus der irakisch-schiitischen Kleriker von Nadschaf – der ihnen im Irak der Baath-Partei-Regierungen überhaupt die Aufrechterhaltung ihres Lehrbetriebs in Nadschaf ermöglicht hatte – hätte eben weiter den Status der Schiiten als Underdogs des Libanon festgeschrieben.

„1982 verließ er Amal und schloss sich der Hisbollah, der Partei Gottes, an, einer Miliz, die mit iranischer Unterstützung und Ausbildung gegründet worden war.
Zehn Jahre später, als Nasrallah zum Generalsekretär ernannt wurde, registrierte sich die Organisation als politische Partei, eine Entscheidung, die ihrem neuen, damals 32-jährigen Führer zugeschrieben wurde.
Bei den Kommunalwahlen 1992 kandidierte diese Partei in zwölf Bezirken und gewann alle. Seit 2005 ist die Hisbollah an den Regierungen des Landes beteiligt und hat 2006 ein Minderheits-Veto als Preis für die Koalition mit der Regierung der Nationalen Einheit eingeführt, die nach dem Krieg mit Israel in diesem Sommer gebildet wurde. Zum ersten Mal erhielt die Hisbollah zwei Ministerämter.

Israel

Nasrallahs Führung in der Hisbollah war schon lange vorher etabliert.

Der Rückzug Israels aus dem Südlibanon im Jahr 2000, der teilweise auf die militärischen Aktionen der Organisation zurückgeführt wurde, und der Rückzug nach dem kurzen Krieg von 2006 umgaben den Anführer der Parteimiliz mit der Aura eines Befreiers.
Viele seiner Glaubensbrüder sahen in ihm »den einzigen Muslim, der Israel auf dem Schlachtfeld besiegt hat«, wie ihn die arabische Website Al Bawaba vor Jahren beschrieb.

Sein Porträt ziert Häuser und Geschäfte in den schiitischen Vierteln von Beirut, der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes, wo ihn viele als Helden verehren.
Sein erstgeborener Sohn Hadi wurde 1997 im Alter von 18 Jahren von Israel ermordet und israelische Medien gehen davon aus, daß seine Tochter am Freitag bei dem Bombenanschlag ums Leben kam. Die USA und Israel betrachteten ihn aufgrund der von der Hisbollah begangenen Selbstmordattentate und Entführungen als Anführer einer Terroristengruppe.“

Lies: Der israelische Terrorismus ist gerechtfertigt und daher keiner, sondern legitime Selbstverteidigung.

„Der Geistliche lebte jahrelang im Verborgenen und wandte sich von einem unbekannten Ort aus, meist live, an seine Anhänger.
Am 8. Oktober 2023, einen Tag nach dem Hamas-Angriff und als israelische Flugzeuge als Vergeltung die ersten Bomben auf Gaza abwarfen, setzte er einen Schritt, der ihn laut Israel am Ende das Leben kostete: Die Hisbollah feuerte Raketen auf die Schebaa-Farmen ab, ein Gebiet, das sie beansprucht und über dessen Status die USA in derselben Resolution verhandeln, mit der der Krieg von 2006 endete.“

Mit „Schebaa-Farmen“ wird ein unbewohntes Gebiet im Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Libanon und Israel bezeichnet, das seit 1967 von Israel besetzt wird, das dort Militärstützpunkte errichtet hat.
Die Frage der Schebaa-Farmen ist deshalb heikel, weil sie nicht nur Israels Besetzung libanesischer Gebiete berührt, sondern auch die israelische Besetzung – und Beanspruchung! – der Golan-Höhen.

„Das Kreuzfeuer (fünfmal heftiger von Israel als von der Hisbollah) verursachte Hunderte von Toten, bis die Regierung von Benjamin Netanjahu mit einem massiven Bombenangriff (550 Tote, der tödlichste Tag in der Geschichte des Libanon und so viele wie in den letzten 11 Monaten davor) antwortete. Seither nutzt Israel seine strategische Überlegenheit, um Hisbollah-Führer bis hin zum obersten zu ermorden.

Als charismatischer und guter Redner war Nasralá vor allem ein Pragmatiker, ein Spezialist darin, gegensätzliche Positionen zu beziehen und die Interessen der Hisbollah über ihre Ideale zu stellen.
Im Libanon zögerte er nicht, die … Macht zu nutzen, die ihm Waffen und sein Status als Staat im Staat verleihen, um zu verhindern, daß Institutionen Entscheidungen trafen, die der Hisbollah geschadet hätten.
Sei es, indem sie wie 2008 ihre Milizionäre auf die Straße bringen; oder durch Blockierung der Untersuchung der Hafenexplosion in Beirut, da der Richter politisch motiviert war; oder indem der nächste Präsident per Veto zum Fall gebracht wurde.

Seine Rede zur Verteidigung der Unterdrückten hinderte ihn beispielsweise nicht daran, seinen syrischen Verbündeten Baschar al-Assad offen und militärisch zu unterstützen, (…)“

Zuvor hatte die Hisbollah die Aufstände des Arabischen Frühlings gegen Diktatoren in anderen Ländern der Region gelobt. Bis sie ihren Verbündeten Assad berührten, den Führer, der Wochen zuvor damit prahlte, daß diese Aufstände Syrien niemals erreichen würden.
Die palästinensische HAMAS-Bewegung war tatsächlich mit der Vertreibung ihrer Führung aus Damaskus konfrontiert, gerade weil sich die HAMAS nicht dem Schulterschluss mit Assad anschloß.“

Anfang 2012 verließ Chalid Maschal im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges, in dem sich die Hamas gegen Präsident Baschar al-Assad stellte, sein Exil in Damaskus und übersiedelte nach Katar. (Wikipedia, Chalid Maschal)
Ismail Haniyya hingegen hielt sich damals in der Türkei auf.

Eine interessante Rückerinnerung der Autoren des Artikels über die damalige Spaltung in der Anti-Israel-Koalition. Immerhin ist die HAMAS eine sunnitische, die Hisbollah eine schiitische Organisation und beide begreifen sich als religiöse Organisationen, halten also damit an dieser Unterscheidung fest.

„Diese Widersprüchlichkeit Nasrallahs trübte sein Image.
11 Monate Raketenbeschuss gegen Israel und die Weigerung, seine Offensive zu stoppen, während weiterhin Bomben auf Gaza fallen – obwohl seine Kommandeure einer nach dem anderen fielen und der Mossad es mit der tödlichen Ferndetonation von Tausenden von Pagern und Funkgeräten demütigte und schwächte – stellten es wieder her.

Für den Westen ist ein Terrorist gestorben, der zu lange mit dem Schicksal gespielt hatte. Für viele im Nahen Osten hat Nasrallah den Preis dafür bezahlt, daß sie sich für die Palästinenser eingesetzt haben, während es sonst fast niemand tat.“

Pressespiegel El País, 30.8.: Zur Verhaftung Durovs

„LÜGEN, PANIK UND LEAKS IN RUSSLAND NACH DER VERHAFTUNG VON PAVEL DUROV, DEM GRÜNDER VON TELEGRAM

Das Regime befürchtet, daß die Verhaftung die nationale Sicherheit gefährdet, weil es Informationen über den Krieg in der Ukraine oder Geheimnisse aus den dunklen Büros Moskaus hat. Als der Gründer von Telegram letzten Samstag in Frankreich verhaftet wurde, gerieten sowohl der Kreml als auch sein Verteidigungsministerium und letztendlich der allmächtige russische Staat in Panik und gaben ihren Mitarbeitern einen absurden Befehl: »Löschen Sie alle Chats.«

Absurd, weil es genauso wirkungslos wäre wie das Herausziehen der Kabel vom Computer oder das Ausschalten des Telefons: Telegram funktioniert nicht so und die Daten seiner Nutzer bleiben in der Cloud des Unternehmens gespeichert. Diese Geste zeigte jedoch, daß Rußland eine äußerst sensible Angelegenheit der nationalen Sicherheit in die Hände eines Enfant terrible, Pavel Dúrov, gelegt hat: seine Telekommunikation, von der Front bis zu den dunklen Büros Moskaus.“

Was wohl mit diesen „dunklen Büros“ gemeint ist? Offenbar sind für den Autor alle Büros in Rußland dunkel, weil ja Russen drinnen sitzen!

„»Pavel Durov wurde verhaftet. Dieser Angriff auf das Nachrichtensystem, von dem die Hälfte des Militäreinsatzes in der Ukraine abhängt, war vorhersehbar. Hat da bisher niemand an so etwas gedacht?!«, prangerte auf seinem eigenen Telegram-Kanal einer der wenigen russischen Kriegskorrespondenten an, die Putin in seinem Büro empfängt, Alexander Sladkov.“

Offenbar läuft ein guter Teil der Kommunikation zwischen den Kommandostellen und der Front über diesen Dienst.
Sladkov ist Korrespondent des russischen Staatsfernsehens. So wenige sind die Korrspondenten gar nicht, die Putin regelmäßig empfängt, um sich mit ihnen auszutauschen. Er selber hat offenbar auch nicht daran gedacht und einen eigenen Telegram-Kanal betrieben.

„»Es gibt viele Witze darüber, daß die Verhaftung von Pavel Durov mit der Verhaftung des Kommunikationschefs der russischen Streitkräfte gleichzusetzen ist. Nun, ein großer Teil der Kontrolle der Truppen hängt von Telegram ab«, räumte Kremlberater Alexej Rogozin ein. »So verrückt es auch erscheinen mag: Geheimdienstdaten, Artillerieanpassungen, Videoübertragungen aus Hubschraubern und vieles mehr.«“

Die russische Armee hat sich offenbar auf die Verschlüsselungstechniken von Telegram verlassen. Man vergesse nicht, daß die nicht von Pavel, sondern seinem Bruder Nikolaj stammen, der nach wie vor in Rußland lebt.

„Am anderen Ende des Telefons antwortet auf die Anfragen von El País Michail Klimarjov, Direktor der Gesellschaft zum Schutz des Internets.“

Klimarjov ist ein exilierter Russe, der nicht „das Internet“ schützen, sondern russische Internetzensur bekämpfen will, mit seiner Organisation „Internet Without Borders“. Er ist also ein Dissident und, ähnlich wie Durov, ein Anhänger eines „freien“ Internets.

„»Der Einsatz von Telegram für militärische Zwecke zeugt von einem klaren Mangel an Professionalität und einem Scheitern«, sagt der russische Telekommunikationsexperte aus dem Exil.
»Die Ukrainer haben Signal [einen anderen Messaging-Dienst mit offenem Code] übernommen und das Ruder herumgerissen. Sie haben den Code übernommen“

– vermutlich nicht nur übernommen, sondern umgestaltet –

„und ihre eigenen Server bereitgestellt«, erklärt der Aktivist. »Rußland kann es auch schaffen, aber es wird Zeit brauchen. Signal funktioniert nicht so gut wie Telegram und jetzt müssen sich Tausende von Menschen umstellen, die ein anderes Telekommunikationssystem brauchen, aber an Telegram gewöhnt sind«, sagt Klimarjov.

»Höchstwahrscheinlich werden [die russischen Streitkräfte] versuchen, die Änderung sofort vorzunehmen, aber es ist klar, daß Durovs Verhaftung die Kampfkraft der russischen Armee verringert hat«, bemerkt der Dissident. »Sie sind in einer schwierigen Situation.«

Gesperrt bis 2020

Telegram war in Rußland wegen Nichtkollaboration mit seinen Sicherheitskräften bis zum 18. Juni 2020 verboten – bis zu dem Tag, an dem die Behörde, mit der der Kreml das Internet zensiert, Roskomnadzor, überraschend ihr Veto gegen Durows Plattform aufhob.“

Diese Formulierung ist insofern irreführend, als Telegram nur zwischen Anfang 2018 und Juni 2020 gesperrt war, von seiner Gründung 2013 bis 2018 jedoch legal verwendet werden durfte.

„Wenige Wochen später ersetzte das gesamte Kreml-Staatsnetzwerk seine Kommunikation mit westlicher Software wie WhatsApp und Skype durch Telegram. Es handelte sich um eine allgemeine Anordnung, die sowohl die Organe der Präsidialverwaltung als auch die Fernsehsender betraf, mit denen Putin seine Propaganda im Ausland verbreitet, wie diese Zeitung bestätigen konnte.“

Das ist in der Tat beachtlich, denn Durov saß mit seiner Firma damals bereits in Dubai. Offenbar hielten die russischen Behörden Telegram für sicher und unknackbar und vertrauten auf die Verschlüsselungs-Taktiken.
Daß die physische Person des Betreibers sich als Sicherheitsrisiko erweisen könnte, wurde offenbar von den Gemeindienst-Spezialisten nicht bedacht. Vladimir Vladimirovitsch hat hier gepatzt.
Vermutlich laufen inzwischen in Moskau Versuche, Telegram zu zerstören und die Daten auf den Servern in Dubai und anderswo zu vernichten.

„Margarita Simonjan, Direktorin eines dieser Medien, Russia Today, forderte alle auf, ihre Telegram-Nachrichten zu löschen, sobald die Verhaftung bekannt wurde, und spielte auf einen Mythos über diesen Internet-Dienst an. »Durov wurde festgenommen, um die Schlüssel [zu den Chats] zu stehlen«, schrieb Simonjan präzise auf ihrem Telegram-Kanal.

In Wirklichkeit gibt es keinen »universellen Schlüssel«, mit dem Dritte, also Außenstehende, alle Nachrichten nach eigenem Ermessen lesen können, da ihre Verschlüsselungs–Schlüssel zum Zeitpunkt des Sendens zwischen den Benutzern erstellt werden.“

Ähnlich wie seinerzeit bei der Enigma-Maschine, wird also jede Botschaft neu verschlüsselt.
Am Knacken der Enigma-Maschine waren auch viele Personen beteiligt und es dauerte jahrelang.
Es geht also jetzt ein Wettlauf los. Wer schafft es eher: Die westlichen Geheimdienste, sich Zugang zu den Telegram-Daten zu verschaffen, oder den russischen, sie erstens für sich zu kopieren und nachher Telegram unzugänglich zu machen?

„Diese angeblichen Schlüssel forderte der russische Föderale Sicherheitsdienst 2018 von Durov. Der Besitzer von Telegram antwortete mit einem Brief, der riesige Eisenschlüssel enthielt.“

Sehr neckisch.
Es schadet jedoch nicht, daran zu erinnern, warum die russischen Behörden diesen Zugang zu Telegram wollten: Nach dem Terroranschlag auf die Petersburger U-Bahn 2017 forderten sie den Zugang zu Daten der Hauptverdächtigen, die Telegram benutzt hatten.
Es war die Weigerung Durovs, die zum Verbot von Telegram führte.

„Das eigentliche Problem liegt jedoch in den Servern, die Telegram in seinen Rechenzentren auf der ganzen Welt verteilt hat. »Wir wissen nicht, wie Telegram wirklich funktioniert. Es besteht das Risiko, daß es Zugriff auf Korrespondenz oder gespeicherte Dateien erhalten kann. Telegram wurde als Cloud-Messenger verkauft, in dem Daten über einen längeren Zeitraum gespeichert werden können«, sagt Klimarjov.“

Nur um das richtig zu verstehen: Die ganzen Chats, Videos, Kanäle usw., die auf Telegram gehostet sind, sollen im Prinzip unzugänglich sein, sogar für den Betreiber, und dann „besteht das Risiko, daß es Zugriff auf Korrespondenz oder gespeicherte Dateien erhalten kann“?!
Irgendwas stimmt hier nicht.

„Es war nie bekannt, ob es 2020 irgendeine Art von Vereinbarung mit der Regierung gab, gerade dann, als die Einführung von Durovs Kryptowährung TON in den USA scheiterte, aber es gibt dafür mehrere Anzeichen.“

Hier bringt der Autor etwas durcheinander. Die geplannte Kryptowährung Durovs hätte „Gram“ geheißen und wurde von einem US-Gericht nicht zugelassen, siehe hier.
Der Toncoin ist eine tatsächlich existierende Kryptowährung, mit der man jedoch nur innerhalb Telegrams bestimmte Inhalte bezahlen kann.

„Trotz seiner angeblichen Neutralitätspolitik gegenüber den Inhalten seiner Nutzer löschte Telegram im Jahr 2021 einen Bot aus dem Team des Dissidenten Alexej Nawalnyj, Smart Vote, der den Russen Wahlkreis für Wahlkreis empfahl, welchen alternativen Kandidaten sie wählen sollten, um die Partei Putins »Einiges Rußland« bei den Parlamentswahlen in diesem Jahr zu schlagen. Von dieser Zensur am stärksten betroffen war die Kommunistische Partei, die jedoch Putin treu blieb und nicht protestierte.“

Das automatisierte Programm Navalnyjs hätte also die RKP an die Macht gebracht, wenn das Programm Smart Vote nicht von Telegram gelöscht worden wäre?
Navalnij als Steigbügelhalter der RKP?
Oder waren sowieso beide chancenlos, es ging nur um einen Demonstrationseffekt?

Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Unbeliebtheit Navalnyjs und darauf, daß ein gutes Abschneiden seiner Partei bei Wahlen sowieso nie zu erwarten war, weshalb von seinen westlichen Sponsoren immer gleich auf Wahlfälschungsvorwürfe und Unruhen gesetzt wurde.

Erinnert irgendwie an Venezuela …

„Ein weiterer Hinweis war die Entfernung oppositioneller Telegram-Kanäle in der Region Baschkortostan in diesem Jahr während der Proteste gegen die Inhaftierung eines Umweltdissidenten.“

Die Eingriffsmöglichkeiten des Betreibers beschränken sich also auf die Entfernung bestimmter Inhalte, Kanäle usw., sollen aber keinen Einblick in sie selbst ermöglichen?
Hmmm.

„Dennoch versucht Durov durch laxe Moderation seiner Plattform seine Unabhängigkeit zu bewahren. »Der Staat verlangt, daß man sich an seine Gesetze hält, aber jeder Staat hat seine eigenen Vorstellungen davon, was illegale Inhalte sind«, betont der Journalist Andrei Zacharov auf seinem Telegram-Kanal.

Telegram war diesen Monat das Ziel eines Blockierungsversuchs in Rußland und der Kreml hat angeordnet, daß sich alle Kanäle mit mehr als 10.000 Abonnenten registrieren müssen. Einige bekannte Persönlichkeiten aus dem Ukraine-Krieg, wie etwa der Kommandant Alexander Chodakovskij – der mehr als eine halbe Million Abonnenten hat – haben angekündigt, nicht mehr zu schreiben.

Die große Lüge

Die Kernfrage ist, in welchem Ausmaß Putin und Durov zusammengearbeitet haben.

»Es gibt kein Zurück, insbesondere nachdem ich mich öffentlich geweigert hat, mit den [russischen] Behörden zusammenzuarbeiten«, sagte der Unternehmer bei seinem angeblichen Abschied von seinem Heimatland im Jahr 2014. Der Geschäftsmann verließ das Land, nachdem er sich geweigert hatte, dem Kreml die auf VK gespeicherten Daten über die Ukrainer zu übergeben, die an den Maidan-Protesten teilgenommen haben.
VK wurde 2014 an Geschäftsleute aus dem Umfeld des Kreml verkauft und wird seither von ihnen betrieben.

Ein Jahrzehnt später prahlte der Geschäftsmann erneut damit, ein vermeintlicher Staatsgegner zu sein: »Ich reise an Orte, von denen ich glaube, daß sie unseren Werten entsprechen.“

Man fragt sich, was hier unter „unser“ läuft, also welche Werte und wessen Werte da gemeint sind?

„Ich besuche nicht die großen geopolitischen Mächte oder andere Länder wie China, Rußland oder sogar die USA«, sagte Durov im April dieses Jahres … Tucker Carlson.“

Wer wohl die großen geopolischen Mächte sein sollen, wenn sie unter „andere Länder“ laufen? Bzw., wenn nur die Reihenfolge verkehrt ist, was wären dann die „anderen Länder“?

Aber Durov hat … gelogen. Ein großes Leck in einer Datenbank des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB, Nachfolger des KGB) hat ergeben, daß der Besitzer von Telegram zwischen 2015 und 2017 mehr als 50 Mal nach Rußland gereist ist, und ein weiteres Mal am 18. Juni 2021, als Telegram in Rußland wieder zugelassen wurde.“

Das war 2020, siehe weiter oben, nicht 2021.

Durov hatte versprochen, extremistische Inhalte zu löschen, darauf wurde das Verbot aufgehoben.
Man merkt übrigens – das Ganze ging durch die Duma –, daß es in Rußland ein starkes Interesse an der Nutzung von Telegram gab.

„Kein Medium konnte bestätigen, ob es nach diesen Reisen zu irgendeiner Art von Verpflichtung gegenüber dem Kreml kam. »Das ist ein sehr schlechtes Zeichen«, sagt Klimarjov. »[Telegram] wurde blockiert und Durov erschien ruhig in Rußland, auch wenn er möglicherweise Angst vor einer Verhaftung hatte. »Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß es irgendeine Art von Verhandlung gab«, erklärt der exilierte Aktivist.

Klimarjov steht seit 2022 auf der Fahndungsliste der russischen Behörden. »Sobald ich die Grenze überquere, stecken sie mich ins Gefängnis. Und obwohl es jetzt etwas anders ist,“

– was darauf hinweist, daß auch ihm von Seiten Rußlands Angebote gemacht werden –

„stellt sich heraus, daß Durov es machen konnte. Und er konnte es nicht nur, er tat es auch. Niemand hat ihn eingesperrt. Natürlich stellen sich Fragen«, schließt er.“

Pressespiegel El País, 23.8.: Neues aus dem sinkenden Schiff EU

„DER MANGEL AN ÖFFENTLICHEN INVESTITIONEN IN DEUTSCHLAND BELASTET DIE WIRTSCHAFT UND BREMST DIE EU“

Ein interessanter Titel. Die Autoren des Artikels bestätigen damit indirekt, daß das Wachstum in der EU seit geraumer Zeit kreditfinanziert ist. D.h., viele Gewinne werden nur gemacht, weil die öffentliche Hand als Käufer dasteht. Und diese verschafft sich ihre Zahlungsfähigkeit über die Aufnahme von Schulden. Die Kreditwürdigkeit eines Staates liegt aber nicht zuletzt daran, daß er ein Wachstum vorweisen kann, das diese Kredite in den Augen der Kreditgeber rechtfertigt. Eine Spirale, die sich vermutlich nicht ewig fortsetzen läßt.

„Der private Konsum zieht trotz steigender Löhne nicht an.“

Was auch kein Wunder ist. Den steigenden Löhnen stehen ja auch steigende Preise gegenüber. Real werden die Empfänger aus unselbständigen Einkommen immer ärmer, trotz vergleichsweise hoher Lohnabschlüsse.
In dieser volkswirtschaftlichen Phrase, so wie sie dasteht, wird jedoch den Konsumenten vorgeworfen, gemeinerweise kaufen sie nicht genug, obwohl sie eh Geld unter der Matratze hätten, und deshalb geht die Wirtschaft den Bach hinunter.

„Der europäische Motor hat ein Wettbewerbsproblem. Die aggressive Strategie des chinesischen verarbeitenden Gewerbes trifft am stärksten Berlin, dessen Exporte schwächer werden.
Deutschland wird von der Lokomotive der europäischen Wirtschaft fast zum letzten Waggon des Zuges.“

In dieser Deutlichkeit liest man das in deutschsprachigen Blättern kaum …

„Seit fast zwei Jahren stagniert Deutschland – oder besser gesagt, seine Wirtschaft schrumpft. Es steckt zwischen mehreren Strukturveränderungen und Krisen, die es auf dem falschen Fuß erwischt haben, etwa dem durch Zwang entstanden Notwendigkeit, auf russisches Gas zu verzichten, oder der geringeren Nachfrage Chinas nach in Deutschland hergestellten Produkten.
Beides belastet den wichtigen Industriesektor. Hinzu kommt ein endemischer Mangel an öffentlichen Investitionen, der sich beispielsweise in den Daten und Prognosen der Europäischen Kommission zeigt, in denen der europäische Riese“

– das ist wohl etwas übertrieben, um die Wichtigkeit Deutschlands darzustellen, oder es als ebenbürtig zu China darzustellen –

„2023, 2024 und 2025 tatsächlich mehr als einen halben Punkt des BIP hinter dem EU-Durchschnitt liegt.

Daß Deutschland schwächelt ist, ist keine gute Nachricht für die übrigen Länder der EU und der Eurozone, auch wenn es Politiker gibt, die sich angesichts der Wirtschaftsdaten von Eurostat in Prahlereien ergehen: »Wir sind besser als alle großen EU-Länder und wir schlagen die Deutschen«, schrieb der polnische Premierminister Donald Tusk im sozialen Netzwerk X. Sein Land hat natürlich eine spektakuläre Zahl erreicht. Polens BIP wuchs im zweiten Quartal dieses Jahres um 1,5%. Auch die Niederlande hatten einen sehr guten Wert, sie stiegen um 1 %. Spanien ist das andere Land mit einer großen Wirtschaft, mit einem deutlichen Anstieg zwischen April und Juni, 0,8 %.“

Es ist schon beachtlich, was für bescheidenes Wachstum inzwischen als „spektakulär“ gilt und zu großen Prahlereien und Nationalstolz führt.
Man erkennt an diesen Zahlen, wie schlecht es um die EU als Ganzes aussieht und wie sich das auch auf ihre Kreditfähigkeit schlägt, weshalb die EZB nicht so recht mit den Zinsen heruntergehen kann.

„»Die deutsche Stagnation zieht die gesamte Eurozone in den Abgrund. Das zeigt sich besonders deutlich an Orten wie der Tschechischen Republik, die stark an deutsche Lieferketten gebunden sind«, erklärt Sander Tordoir, Chefökonom des Think Tanks Centre for European Reform (CER), der sich auf die Rolle Deutschlands in der EU spezialisiert hat (…) »Dauerhafte Stagnation und die vorgegebenen Sparmaßnahmen“ (gemeint ist vermutlich die Sparbremse) „in Deutschland bremsen das Wachstum in allen anderen Ländern.«“

Diese hier sozusagen als Automatismus vorgeführte Sparbremse gilt natürlich nicht für die Sondervermögen und sonstigen Budget-Tricks, mit denen Deutschland seine Aufrüstung und die Unterstützung der Ukraine in Form von Waffen- und Geldgeschenken finanziert.
Während Kritiker der Aufrüstung gerne die geringen Aufwendungen ins „Soziale“ im Auge haben, so zeigt sich hier die weitaus härtere Wahrheit – daß verstärktes Waffengerassel in schweren Zeiten die Wirtschaft nach unten zieht, weil es sich um Ausgaben handelt, die keinerlei positiven Effekte auf die restlichen Wirtschaftszweige haben.

„Die Wirtschaft der Industriemacht schrumpfte im zweiten Quartal, zur Überraschung der meisten Experten und Wirtschaftsinstitute, die mit Stagnation oder leichtem Wachstum rechneten. Die deutsche Schwäche wird chronisch. Seit dem Frühjahr 2022 schwanke das Wirtschaftswachstum leicht über und unter Null und eine große Verbesserung sei im dritten Quartal dieses Jahres nicht zu erwarten, sagt Klaus Wohlrabe, Umfrageleiter beim Ifo-Konjunkturinstitut. »Die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise fest«, sagt er.

Dazu trage der Mangel an Investitionen bei, sagt Tordoir: »Die deutsche Wirtschaft hat das Potential, neue Unternehmen und Märkte zu schaffen, aber dieser Prozeß wird durch eine verschlechterte Infrastruktur,“

– Ergebnis von vielen Jahren Sparen am falschen Platz. Die Infrastruktur gehört zu den faux frais, den toten Kosten des Kapitals, die der Staat zur Verfügung stellen muß, damit die Sache flutscht. Im Zuge der Privatisierung und Sparpolitik (Stichwort „schwäbische Hausfrau“) ist Deutschland in Sachen Infrastruktur – Straßen, Eisenbahn, Internet-Verbindungen – wirklich weit nach hinten gerutscht im EU-Durchschnitt und scheint sich GB zum Vorbild genommen zu haben –

„Versäumnissen bei der Digitalisierung, zu viel Bürokratie und langsame Kapitalmärkte gebremst.«“

Ein Sammelsurium aus Mängeln, wo man sich fragt, worin dann eigentlich das Potential besteht?

„Dies bremst die Dynamik und den Umsatz der Unternehmen. Ein Beispiel: Von den 40 im deutschen DAX gelisteten Blue-Chip-Unternehmen haben 23 ihren Ursprung im 19. Jahrhundert oder früher, nur zwei wurden in diesem Jahrhundert gegründet.“

Das mag zwar etwas übertrieben sein, zeigt aber, daß lange Tradition bei Fertigungsindustrie nicht unbedingt einen Wettbewerbsvorteil verschafft.

„»Das ist der bleibende Schaden des absoluten Mangels an öffentlichen Investitionen oder Reformen in den letzten 15 Jahren.« Der Forscher berechnet beispielsweise, dass das Eisenbahnnetz bis 2027 eine Investitionsspritze von 45 Milliarden Euro benötigt, und beklagt, dass »die Nettoausgaben für die Hochschulbildung zwischen 2010 und 2018 inflationsbereinigt um weniger als 1 % gestiegen sind, verglichen mit 6 % im Jahr 2018 in den Niederlanden, 15 % in den USA und unglaubliche 116 % in Estland«.“

Bei letzterem Staat muß man allerdings bedenken, daß dort nach dem Ende der SU die staatlichen Bildungsinvestitionen praktisch zum Erliegen kamen, weshalb sich diese 116% auf ein sehr niedriges Ausgangsniveau beziehen. Wenn man diese Bildungsausgaben auf das estnische BIP bezöge, so wären sie vermutlich weniger spektakulär.

„Die mangelnden Investitionen bremsen die Wirtschaft, sagt Wohlrabe, der das als Ursache der Unsicherheit in der Wirtschaftspolitik dingsfest macht. »Aus unseren Umfragen wissen wir, dass mehr als 40 % der Unternehmen Auftragsmangel melden.« Unterdessen belebt sich der private Konsum trotz der Lohnverbesserung nicht. »Konsumenten sind etwas zurückhaltend, wenn es ums Ausgeben geht. Vorsicht ist geboten hinsichtlich der Inflationsrate, die leicht gestiegen ist. Deutsche Verbraucher reagieren sehr sensibel auf Inflation«, bemerkt er in einem Interview mit El País.

Zurückhaltend, sensibel – natürlich, von nix kommt nix, wie viele psychologische Kategorien man auch bemühen mag.

„Deutschland habe auch ein Wettbewerbsproblem, betont Jens Boysen-Hogrefe, Professor an der Universität Kiel, »das sich in den letzten Jahren nicht verbessert hat«. Der Wettbewerbsvorteil Chinas ist in Deutschland besonders besorgniserregend.“

Natürlich. China erhält nämlich jetzt von Rußland die Energie, die der EU abhanden gekommen ist. Außerdem ist China alleiniger Gestalter seines Budgets und muß sich weder an Weltwährungen noch an Finanzinstitutionen orientieren.

„»Die aggressiven Strategien des chinesischen verarbeitenden Gewerbes treffen Deutschland stärker als andere Länder, denn das asiatische Land konzentriert sich auf die Automobilindustrie sowie den Maschinen- und Anlagenbau, also genau auf die Branchen, in denen Deutschland stark war«, betont er.
Die Exportschwäche und die Alterung der Bevölkerung sind für Boysen-Hogrefe die Hauptursachen für die deutsche Wirtschaftslage.“

Eine eigenartige Diagnose.
Die Exportschwäche ist ja ein Ergebnis dessen, daß es an allem hapert, was eine ordentliche Marktwirtschaft auszeichnet. Und das liegt zu einem guten Teil daran, was als „Neoliberalismus“ gekennzeichnet wird, das Sich-Zurücknehmen des Staates bei verschiedenen wirtschaftlichen Grundlagen, der ja auch schon die Wirtschaft Großbritanniens auf Talfahrt geschickt hat.
Die sogenannte „Überalterung“, die ja nur eine der arbeitenden Bevölkerung ist, ist jedoch ein Ergebnis des Umstandes, daß Deutschland jahrzehntelang erfolgreich rationalisiert hat und heute deshalb viel weniger aktive Berufstätige gemäß dem Umlaufsystem die Anzahl der Rentner tragen müssen. Dieses System war seinerzeit aber auf einen kontinuierlichen Nachschub an Beitragszahlern angelegt.

„»Die Politik sollte das Notwendige tun, um die öffentlichen Investitionen zu erhöhen, denn wenn die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwach ist, liegt das vor allem am Mangel an ausreichender Infrastruktur«, betont er.
Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die die Schuldenbremse, die im Grundgesetz verankerte Schuldengrenze, für die Lage der Wirtschaft verantwortlich machen. Laut gewerkschaftsnahen Experten des Instituts für Makroökonomie (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung behindert die Begrenzung entscheidende Investitionen in die Energiewende und Infrastruktur.

Da die Schuldenbremse seit 2020 ausgesetzt ist, habe sie zwar nicht zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage beigetragen, könne dies aber »in Zukunft durchaus tun«, stellt der Kieler Experte Boysen-Hogrefe fest.“

Ach, siehe da, die Schuldenbremse kann man auch aussetzen.
D.h., die Gewerkschafts-Fuzis liegen ganz falsch?
Und trotzdem kein Geld da für staatliche Investitionen?

„»Es ist eine unsägliche Debatte in Deutschland, mit Politikern, die die öffentlichen Investitionsmöglichkeiten, die die Schuldenbremse zulässt, vielleicht nicht ausloten wollen und lieber das Argument aufrechterhalten, dass sie öffentliche Investitionen behindert, und sie damit ganz abschaffen.« (…)“.

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Zur Zeit der Griechenland-Schuldenkrise kam auf diesem Blog einmal die Debatte auf, warum es auf die Finanzwelt eigentlich vertrauensbildend wirkt, wenn ein Staat eine Sparpolitik verkündet, Sparprogramme auflegt und Schuldenbremsen erläßt.

Wir fanden damals keine befriedigende Antwort.

Es schien sich um eine Konvention zu handeln, mit denen man leichtfertiger Verschuldungspolitik, wie sie mit dem Euro in die Welt gesetzt und auch angeregt wurde, einen Riegel vorschieben wollte.

Inzwischen ist es offenbar so, daß staatliche Sparpolitik diese Funktion, vertrauensbildend zu wirken, nicht mehr erfüllt.

Das Problem ist, daß das Vertrauen gegenüber den vielen Schulden überhaupt schwach zu sein scheint, weshalb der Startschuß in ein gegenteiliges Programm, für fröhliche Verschuldung ohne Grenzen, auch nicht fallen mag.

Die USA und China können sich dergleichen aus verschiedenen Gründen leisten, die EU nicht.