IV. Erläuterungen von Engels
Lenin sucht hier auf konkrete Fragen, die sich der neu einzurichtenden Staatsmacht stellen, eine Antwort, und schlägt wieder nach bei den Klassikern. Er zitiert zunächst Engels Abhandlung von 1873 „Zur Wohnungsfrage“ ).
Festgestellt wird einmal: Es gibt im Kapitalismus jede Menge leerstehenden Wohnraum, und gleichzeitig Obdachlose. Der Grund für diesen Umstand ist das Privateigentum. Eine korrekte Feststellung.
Wie sieht die Lösung Engels/Lenin für dieses Problem aus, nach der „proletarischen Revolution“?
Löst man das Privateigentum auf und baut möglichst schnell ordentliche Häuser?
Keineswegs. Sondern man verteilt einmal das Vorhandene, und wer sich darüber aufregt, ist ein Klassenfeind:
„Soviel aber ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ‚Wohnungsnot‚ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehn, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat.“(S. 69)
Engels erklärt also das Vorhandene für ausreichend und alles nur für eine Frage der Verteilung.
Das ist ein wenig naiv, oder zumindest verharmlosend gedacht, ähnlich wie heute gegen den Hunger in der Welt protestiert wird: Es ist ja genug da, nur aus Geschäftsinteresse wird es nicht den Bedürftigen gegeben.
In Wirklichkeit verhält es sich im Kapitalismus so, daß viele Dinge gar nicht erst erzeugt werden, weil sich die Unternehmer kein zahlungsfähiges Bedürfnis dafür ausrechnen. So stehen zwar Wohnungen leer und werden Lebensmittel vernichtet, aber es werden eben auch viele der Ersteren gar nicht erst gebaut und viele der Letzteren gar nicht erst angebaut. Der Kapitalismus erzeugt Mangel auf zweierlei Art: Erstens verwehrt er durch die Eigentumsordnung den Bedürftigen den Zugang zu bereits vorhandenem Reichtum. Zweitens orientiert sich die Produktion von konkretem Reichtum nicht am gesellschaftlichen Bedürfnis, sondern an der Zahlungsfähigkeit des p.t. Publikums.
Die Vorstellung von Engels, daß die Wohnungsfrage durch Enteignungen und Einquartierungen zu lösen wäre, hat durchaus Folgen gehabt im ersten proletarischen Staat: Noch heute leben viele Menschen in russischen und anderen Städten postsowjetischer Staaten in den sogenannten „Kommunalkas“, ehemals gutbürgerlichen großen Wohnungen von 10-15 Zimmern, in der pro Zimmer ein bis drei Leute leben und sich eine Küche, ein Bad und ein, bestenfalls zwei Klos teilen.
Auch eine Möglichkeit, „Wohnungsnot“ zu bekämpfen.
Engels rechtfertigt in seiner Schrift auch Pacht und Miete:
„Übrigens muß konstatiert werden, daß die ‚faktische Besitzergreifung‘ sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volkes, das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen ‚Ablösung‘. Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das ‚arbeitende Volk‘ Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente, und wird deren Nießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehaltung des Mietverhältnisses keineswegs aus.“ (S. 70)
Statt dem Privateigentum setzt Engels – und, auf ihn aufbauend, Lenin – auf ein anonymes Volkseigentum, das aber natürlich von irgendwem vertreten werden muß, und an diese Volksvertretung sind auch Pacht und Miete zu entrichten. Der gesamte Wohnraum, und auch der gesamte Boden eines Landes erhält also einen neuen Eigentümer, der fürs Einkassieren der Pacht und Miete zuständig ist und natürlich auch darüber entscheidet, wer diese Wohnungen bewohnen, auf diesem Grund bauen oder jene Felder bewirtschaften darf. Diese mit dem unvermeidlichen Hinweis auf die „Übergangszeit“ eingerichteten neuen Besitzverhältnisse weisen darauf hin, daß hier die gesamte Bevölkerung gewaltsam enteignet und eine keineswegs absterbende neue Macht eingerichtet wird.
Lenins Schlußfolgerung aus den Ausführungen Engels’ ist anders, bzw. sieht die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten als eine positive Entwicklung:
„Alles das erfordert eine gewisse Staatsform, erfordert aber keineswegs einen besonderen militärischen und bürokratischen Apparat mit beamteten Personen in besonders bevorzugter Stellung.“ (S. 70)
Über diesen Satz hätten die Bürger der Sowjetunion nur herzhaft gelacht. Eine Stellung im Wohnungsamt war dort nämlich sehr begehrt, weil man da an einer der Schaltstellen der Macht saß.
Kategorie: Linke
Staat und Revolution, Teil 6
Der letzte, 4. Teil des 3. Kapitels heißt: „ORGANISIERUNG DER EINHEIT DER NATION“
Dieser Titel ist interessant und wichtig, weil viele Anhänger Lenins immer wieder meinen, er sei ein Gegner und Kritiker des Nationalismus’ gewesen. Mitnichten! Er wollte sich den Nationalismus zunutze machen, aus Gründen, die im weiteren zu erläutern sind.
„Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war.“ (S. 62)
Das ist zunächst ein Zitat von Marx aus dem „Bürgerkrieg in Frankreich“. Marx weist darauf hin, daß die Pariser Kommune von der Idee der Nation beseelt war.
Kommt jetzt eine Kritik des Gedankens der Nation?
Wieder einmal natürlich nicht! Sondern es folgt eine Beschimpfung Bernsteins, der angeblich diesen Gedanken fehlinterpretiert hat, indem er ihn mit Proudhons Ideen verbunden hat.
(Es mag ja sein, daß Bernstein hier Unsinn verzapft hat. Dem Inhalt nach wird er jedoch hier nicht kritisiert, sondern wieder einmal als Verräter gebrandmarkt.)
Und Lenin macht aus obigem Zitat eine Frage des Zentralismus gegenüber dem Föderalismus. Das ist in obigem Zitat gar nicht Thema, aber Lenin nimmt das als Ausgangspunkt für diese – ihn offenbar bewegende – Frage.
Er legt einfach, und vollkommen ohne irgendein Argument fest: Wenn sich Kommunen vereinen, um den bürgerlichen Staat zu vernichten, so haben sie sich damit schon der Idee des Zentralismus verschrieben, also dem Prinzip, daß eine zentrale Gewalt entscheidet, was zu geschehen hat.
Dies alles angeblich im Interesse der Einheit der Nation:
„Marx betonte ausdrücklich, als ob er die Möglichkeit einer Entstellung seiner Ansichten vorausgesehen hätte, daß die gegen die Kommune erhobene Anschuldigung, sie hätte die Einheit der Nation vernichten, die Zentralregierung abschaffen wollen, eine bewußte Fälschung ist.“
Für Lenin ist die Idee der Nation das Gleiche wie das Prinzip des Zentralismus: Die Unterordnung unter eine zentrale Gewalt und die Identifizierung der solchermaßen Unterworfenen mit dieser Zentralgewalt, allerdings jetzt unter der Idee der „proletarischen Revolution“ und der „Diktatur des Proletariats“.
Lenins diesbezügliche Position wurde von seinen Anhängern immer gerechtfertigt mit Argumenten wie: Er hätte den Nationalismus für die Idee der Revolution funktionalisieren wollen, im Sinne seiner Einseiferei für die Idee der Revolution. Er sei im Grunde dem Nationalismus nicht aufgesessen.
Alles ein Schmarrn.
Erstens, der Nationalismus läßt sich nicht funktionalisieren für etwas anderes als eben denselben: Wenn man an die freiwillige kollektive Unterordnung unter eine Gewalt gutheißt, so ist man eben dafür. Jeder Appell an den Nationalismus ist eine Bestärkung desselben, er läßt sich nicht für eine Kritik des Nationalismus benützen.
Zweitens, Lenin war doch gerade scharf auf den Nationalismus. Er wollte, daß die Sowjets – die gabs ja 1917 – sich als Nation begreifen, als Teil eines großen Ganzen betrachten und dem Diktat der Partei unterordnen.
„Staat und Revolution“ ist, gerade in diesem Kapitel, eine verhüllte Kampferklärung an die Räte: Ordnet euch der Partei unter, andernfalls seid ihr Verräter! Weil die Bolschewiki sind die legitimen Vertreter der Arbeiterklasse: Sie sind berufen, sie zu führen.
Die Pariser Kommune mußte also in der Interpretation Lenins für quasi das Gegenteil dessen herhalten, was ihre Vertreter erstrebten: Die Selbstorganisation der Gemeinden, oder, im vorliegenden Falle: der Räte. Mit Berufung auf Marx maßt sich Lenin an, die Selbstorganisation von unten für nichtig zu erklären und sie zu einer nationalen Erhebung umzuinterpretieren, die der Führung der Partei bedarf. Der gesamte 5. Punkt dieses Kapitels dient diesem Beweiszweck. Wenn sich die Menschen selbst organisieren, ihre Vertretungen wählen und ihre Entscheidungen treffen, so ist das ein einziger Auftrag an die Partei, diese Organe zu entmachten, und in einem größeren Organismus aufgehen zu lassen, der sich dann – im Interesse der Betroffenen, selbstverständlich! – ihrer Anliegen annimmt und diese nach dem eigenen Gutdünken der Partei, oder der „Diktatur des Proletariats“ wahrnimmt. Damit macht sich natürlich dieses Gremium – Staat, Partei, Verwaltung – von den Bedürfnissen der ursprünglichen Beschlüsse dieser –„unreifen“ – Vertretungen völlig unabhängig.
Noch etwas kann man diesem Kapitel entnehmen: Der „Staat“ ist für Lenin ausschließlich die Exekutive, der Gewaltapparat: Polizei, Heer. Andere Teile des Staatsapparates, die Rechtspflege, das Unterrichtswesen, die Gesetzgebung und die Volksvertretung in Form des Parlaments, sind nicht „Staat“, sondern „Verwaltung“ – sie werden zu einem Teil der „Gesellschaft“, den man durchaus übernehmen und fortführen kann. Ihre Stellung im Rahmen des kapitalistischen Systems ist nicht Gegenstand seiner Analyse, wenn man diese Schrift überhaupt als Analyse bezeichnen will. Mit dieser Scheidung ist auch klar, daß „Zerschlagen des Staatsapparates“ sich bloß auf die Zerstörung und Neukonstituierung von Heer, Polizei – und Geheimdienst!“ – bezieht, nicht auf die „zivile Sphäre“ ebendieses Staatsapparates.
Staat und Revolution, Teil 5
Als nächstes wendet sich Lenin der Frage zu, wie sich die Arbeiter, oder das Volk ihre Repräsentanten aussuchen sollen. Auch hier wird wieder vom Standpunkt eines bereits geteilten Zweckes eine bloße Verfahrensform zu einem Inhalt, einem politischen Ziel erhoben.
Er zitiert Marx, der die Gewaltenteilung aufheben wollte:
„Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen …“ (S. 55)
Obwohl gar nicht klar wird, wie das allgemeine Stimmrecht – das ja heute in allen kapitalistischen Staaten verwirklicht ist –, dem Volke dienen sollte, folgt statt einer Ausführung wieder bloß eine Beschimpfung der sozialdemokratischen Verräter, die die Kritik am Parlamentarismus den Anarchisten überlassen haben, die natürlich noch schlimmer sind als jene:
„Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß das Proletariat der „fortgeschrittenen“ parlamentarischen Länder … seine Sympathien immer öfter dem Anarchosyndikalismus zuwandte, obwohl dieser der leibliche Bruder des Opportunismus ist.“ (S. 56)
Warum das so ist, erfahren wir natürlich auch nicht. Der bisherige Parlamentarismus ist „Betrug“, und der
„Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in „arbeitende“ Körperschaften.“ (S. 56)
(Man will ja gar nicht zur Sprache bringen, an wen einen das erinnert.)
Dann legt Lenin ein Bekenntnis ab, warum er so auf diesem Prinzip der richtigen Vertretung herumreitet:
„Wir sind keine Utopisten. Wir „träumen“ nicht davon, wie man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne „Aufseher und Buchhalter“ nicht auskommen werden.“ (S. 59-60)
Was entnehmen wir diesem Zitat?
1. Verwaltung = Unterordnung.
Wenn dem so wäre, so könnte man sich jede Revolution schenken, weil eine Verwaltung in dem Sinne, daß die Produktion, die Ausbildung, der Konsum, der Transport geplant werden muß, ist in jeder Gesellschaft notwendig. Von selbst geht das alles nicht. Das ist aber für Lenin gleichzusetzen mit Unterordnung: Die einen entscheiden, die anderen gehorchen.
2. Die Vorstellung, Planung ginge ohne Unterordnung, sind für ihn „anarchistische Träumereien“, sie beruhen auf einer „Verkennung der Diktatur des Proletariats“ – eines Zieles, das erst er zum Ziel erhoben hat, laufen also seinen Vorstellungen zuwider und sind daher falsch, und setzen eine „Reife“ der Menschen voraus, die gegenwärtig nicht vorhanden ist.
3. „Revolutionäres Handeln“ heißt demgemäß für Lenin: Die Leute irgendwie zu einer Revolution zu überreden, ihnen irgendetwas vorspiegeln – da ist jede Roßtäuscherei erlaubt – und sie dann „erziehen“ – mit Gewalt, selbstverständlich.
Argumente enthält dieser Abschnitt selbstverständlich wieder nicht, aber damit ist ein Teil eines Programmes ausgesprochen, das bekanntermaßen dann in die Wirklichkeit umgesetzt worden ist.
Im späteren Teil dieses Kapitels zeigt sich jedoch, daß Lenin sehr wohl einen Unterschied zwischen Verwaltung und Unterordnung, d.h. Gewalt kennt:
„Organisieren wir Arbeiter selber die Großproduktion, davon ausgehend, was der Kapitalismus bereits geschaffen hat, auf unsere Arbeitererfahrung gestützt, mit Hilfe strengster, eiserner Disziplin, die von der Staatsgewalt der bewaffneten Arbeiter aufrechterhalten wird; machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge, zu verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten „Aufsehern und Buchhaltern“ (dazu natürlich Techniker jeder Art, jeden Ranges und Grades) – das ist unsere proletarische Aufgabe, damit kann und muß man bei der Durchführung der proletarischen Revolution beginnen.“
1. Die Arbeiter organisieren etwas selber – das steht in Widerspruch zum Vorherigen und Folgenden, weil dazu sind sie ja gar nicht reif.
2. Die Verwaltung wird übernommen – sie ist nach den bisherigen Ausführungen ja gar nicht Teil des Staates, sondern etwas Neutrales – bloße „Vollstrecker“ der Staatsmacht.
3. Die „bewaffneten Arbeiter“ stellen den neuen Staat, die neue Gewalt, und überwachen die Produktion.
4. Das ist schließlich unsere (sprich: der Bolschewiki) „proletarische Aufgabe.“ Dieses kleine Detail sollte man nicht übersehen. Lenin sagt hier nicht: Wir, die Bolschewiken, wollen das, und werden das machen, weil wir das für richtig halten. Da wäre ja ein Streit fällig, warum das richtig ist. Sondern er behauptet: Das ist unsere „Aufgabe“, wir gehorchen damit höheren Gesetzmäßigkeiten, und wer sich dagegen stellt, ist unser Feind – Verräter, Opportunist, usw. – und gehört niedergemacht.