Pressespiegel: El País, 24.10.

DIE TÜRKEI NÜTZT DEN FALL KASHOGGI, UM SAUDI-ARABIEN GEGENÜBER AN EINFLUSS ZU GEWINNEN
Andres Mourenza
Eine der Fragen, die angesichts des Falles Kashoggi hinter den Kulissen debattiert werden, ist die der Machtverhältnisse im Nahen Osten, wo die Türkei die Führungsrolle gegenüber anderen Mächten beansprucht, die diese traditionell innegehabt haben, wie dem Iran, Ägypten und vor allem Saudi Arabien. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat ihre Arme für die Dissidenten dieser Länder geöffnet, während bei sich zu Hause innerhalb der letzten 2 Jahre 60 000 Personen unter der Anklage der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen im Gefängnis gelandet sind, darunter 150 Journalisten.
Am 8. Oktober, nach 6 Tagen ohne Nachrichten vom saudischen Journalisten Jamal Kashoggi, und angesichts der Hypothese einer möglichen Ermordung, versammelten sich Mitglieder verschiedener Vereinigungen vor dem Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Sie verlangten rechtliche Schritte. Da waren ägyptische Anwälte, syrische Journalisten, irakische und libysche Aktivisten und auch die jemenitische Nobelpreisträgerin Tawakul Kerman. Für sie alle bedeutete nämlich das Verschwinden Kashoggis nicht nur den Verlust eines Freundes und einer Person gewissen Bekanntheitsgrades, sondern erzeugte auch Ängste, daß die Tentakel derjenigen autoritären Regimes, denen sie entkommen waren, sie auch im Exil erreichen könnten.
„Obwohl die türkische Regierung gegen ihre eigene Opposition mit seit Jahrzehnten nicht gekannter Härte vorgeht, hat sie Dissidenten aus dem Nahen Osten mit einer politischen oder religiosen Profilierung willkommen geheißen“, erklärt Aaron Stein vom Think Tank Atlantic Council.
„Bis in die 90-er Jahre ließen sie (Regimekritiker aus dem Nahen Osten) sich in Paris, London oder den USA nieder, weil diese Staaten eine Politik der Offenen Tür gegenüber Dissidenten in den Tag legten. Aber die seit 2 Jahrzehnten geführten Debatten um die Migration haben es sehr erschwert, sich dort niederzulassen. Es ist inzwischen sogar sehr schwierig, irgendeinen Oppositionellen aus dieser Weltgegend zu einer Konferenz nach London oder Washington einzuladen, aufgrund des verschärften Visa-Regimes“, versichert Mohammed Okda, Politberater aus Ägypten und persönlicher Freund Kashoggis. „Die Türkei hingegen ist in Sachen Aufenthaltsgenehmigung sehr großzügig, und angesichts einer wachsenden arabischen Bevölkerung ist es leichter, sich in einem ohnehin muslimischen Land zu integrieren.“
Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten nimmt die Türkei die uigurische Diaspora auf, die eine verwandte Sprache spricht, trotz des guten Verhältnisses zwischen Ankara und Peking. Ebenso geben sich Oppositionelle aus Zentralasien und dem russischen Kaukasus in der Türkei ein Stelldichein. Im Osten, in Van ist es nicht schwierig, politische oder religiöse Flüchtlinge aus dem Iran zu treffen. Was sich seit dem Regierungsantritt Erdogans verstärkt hat, sind die Beziehungen mit Oppositionellen aus dem arabischen Raum, vor allem nach dem gescheiterten „Arabischen Frühling“, den die Türkei zu nutzen versuchte, um an Einfluß zu gewinnen, indem sie sich als Modell für eine Umgestaltung präsentierte.
„Die alten Kolonialmächte sind mehr an Stabilität interessiert, und deshalb haben sie oft die Autokraten des Nahen Ostens unterstützt. Erdogan hingegen hat sich in dieser Region als Beschützer der Schwachen dargestellt, was ihm in den arabischen Gassen viel Bewunderung eingebracht hat“, fügt Okda hinzu. Seit dem Anfang des „Arabischen Frühlings“ haben sich Vertreter der Muslimbrüder verschiedener Länder in Istanbul die Klinke in die Hand gegeben, und auch mit Regierungsvertretern verhandelt, und als er scheiterte, nahm die Türkei diejenigen auf, die vor Verfolgung flüchteten. Weiters hat die Syrische Nationale Koalition, eine Dachorganisation von Gegnern des Assad-Regimes, ihren Sitz in Istanbul. Andere türkische Städte in Grenznähe zu diesem kriegsgeschüttelten Land haben Anführer diverser Rebellenfraktionen aufgenommen.
Der türkische Islamismus hat andere Wurzeln als derjenige der Muslimbrüder und unterscheidet sich von ähnlichen Strömungen durch Betonung auf dem nationalen Interesse. Vor 2 Jahren erklärte mir der Experte Rusen Çakir, daß die türkischen Islamisten zwar Wert auf die muslimische Umma (Gemeinschaft) legen, aber bitte unter ihrer Führung, im Anklang an das seinerzeitige Osmanische Reich. Diese Idee findet sich auch in den Äußerungen Erdogans. Zuletzt betonte er am 15. Oktober: „Die Türkei ist das einzige Land, das die islamische Welt anführen kann.“
Im Wechsel der Verbündeten (…) hat die Türkei in jüngerer Vergangenheit Partei gegen das Ägypten Marschalls Al Sisis ergriffen, nimmt Anhänger des gestürzten Präsidenten Morsi auf und erlaubt ihren Radioprogrammen, aus Istanbul zu senden. Katar hat es gegen die von Riad angeordnete Blockade verteidigt.
(Darin ist die Unterstützung für Katar sehr verkürzt zusammengefaßt. Die türkische Regierung hat eine Luftbrücke zur Sicherstellung der Versorgung mit Katar errichtet und eigenes Militär hingeschickt, um Saudi-Arabien von einem Einmarsch abzuhalten. Ohne die Türkei hätte Katar das nicht durchgestanden.)
Die Beziehungen zu Saudi-Arabien haben sich seit dem Aufstieg des Kronprinzen Mohammed Bin Salman und dessen aggressiver Außenpolitik verschlechtert. Im Zuge dessen kam es zur engen Verbindung mit Ägypten und den Vereinigten Emiraten, mit denen die Türkei seit geraumer Zeit über Kreuz ist. Dort machte übrigens – ganz zufällig – die 15-köpfige Truppe der vermutlichen Kashoggi-Mörder eine Zwischenlandung bei ihrer Rückkehr nach Riad in 2 Privatflugzeugen.
„Der Nahe Osten hat sich in einen Dschungel verwandelt, in dem jedes Land nach Mitteln zur Gewinnung von Einfluß sucht. Und die Türkei nutzt den Fall Kashoggi, um zu zeigen, daß sie Macht hat und viel bewirken kann“, meint Ilke Toygur, eine türkische Mitarbeiterin des Real Instituto Elcano. Ein Ziel der türkischen Regierung, die an die Medien Details über seine Ermordung durchsickern ließ, ohne sie offiziell zu behaupten, besteht darin, „den Druck auf die USA zu erhöhen, damit Washington Druck auf Saudi Arabien ausübt, um Bin Salman zu schwächen und Riad zur Änderung seiner Außenpolitik zu bewegen.
Während der jüngsten Krise hat Erdogan zweimal mit Salman Bin Abdulaziz, dem Vater von Prinz Mohammed telefoniert, und dadurch erreicht, daß die Angelegenheit jetzt von ihm gehandled wird. Er hat den vorher aggressiven Ton Riads gemildert und den Mord zugegeben. Falls sich die Türkei doch irgendwann mit der Version Saudi-Arabiens zufriedengeben sollte, so würde das bedeuten, daß Erdogan etwas dafür erhalten hat, politisch oder wirtschaftlich.
(Angeblich soll die kürzliche Erholung der türkischen Lira auf Interventionskäufe aus Saudi-Arabien zurückzuführen sein.)

Das irakische Kurdistan

AUSBEUTUNG UND IMPERIALISMUS HEUTE
Ein Freund von mir aus einem osteuropäischen Land, nennen wir ihn im weiteren Michael, hat gerade ein halbes Jahr im Irak verbracht. Er arbeitete für eine deutsche Firma.

1. Der Arbeitsvertrag

Michael erhielt für die Arbeit in einer Gegend, wo 40 Grad im Schatten üblich sind und er in einem klimatisierten Container wohnte, 1000 Euro pro Monat. Das ist der übliche Lohn, der Leuten aus Osteuropa gezahlt wird, die von ihrer Hände Arbeit leben. Natürlich gibt es besser bezahlte Jobs, in der Politik oder im Management, die werden aber eher selten mit Osteuropäern besetzt. Die meisten Firmen schicken in ihre Zweigstellen in osteuropäischen Ländern lieber Führungskräfte von zu Hause. Man weiß ja nicht …

Michael ist Elektriker und als solcher arbeitete er dort auch. Aber auch, wenn er in einem EU-Land arbeiten würde, so würde er nirgends mehr als diese 1000 Euro im Monat verdienen. Das ist eine Art Obergrenze, auf die sich das europäische Kapital geeinigt zu haben scheint. Die ehemaligen sozialistischen Staaten sind ein Arbeitskräfte-Reservoir, ihre Bewohner stellen die industrielle Reservearmee dar, mit der die EU-Kapitale groß und größer werden wollen. So etwas wie Lohnforderungen sollen gar nicht erst aufkommen in den neuen Mitgliedsländern. Die Gewerkschaften wurden entmachtet und zerschlagen, die alten Arbeitsplätze gibt es nicht mehr und die Bewohner von diesen Staaten wetteifern in den „alten“ Mitgliedsstaaten um die schlecht bezahlten Jobs und drücken damit auch dort den Preis der Arbeit.

In Michaels Vertrag stand, daß er zusätzlich zu den 1000 Euro Unterkunft und täglich ein Mittagessen erhält. Nach dem ersten Monat stellte er fest, daß ihm das Mittagessen von der vereinbarten Lohnsumme abgezogen wurde. Er mußte mit dem Vertrag in der Hand zum Bauleiter gehen und klarstellen, daß das einen Vertragsbruch darstellt und er das nicht hinnimmt. Darauf wurde das Geld rücküberwiesen und von da ab nicht mehr abgezogen.
Es kann sich natürlich um Schlamperei oder ein Mißverständnis handeln, gerade bei den komplizierten Verhältnissen bei dieser Art von Baustelle. Dergleichen ist aber auch innerhalb der EU gang und gäbe. Die Firmen versuchen, die Sprach- und Gesetzunkundigkeit der ausländischen Arbeiter auszunützen, um den ohnehin schon sehr bescheidenen Lohn noch ein wenig weiter zu drücken.
Ein weiterer Faktor war die Arbeitszeit. Sie war in dem Vertrag gar nicht festgelegt. Es war eine Art Werksvertrag. Das und das und das ist zu machen, und in einem halben Jahr hat das fertig zu sein. Die in Österreich bereits angedachte und bald auch durchgesetzte 60 Stunden-Woche und der 12-Stunden-Arbeitstag lassen grüßen.

Außer Michael und einigen anderen Osteuropäern arbeiteten auf den diversen Baustellen vor allem Filipinos und Türken, sowie Einheimische.

Die deutsche Firma beschäftigte also gar keine Deutschen – außer dem Chef, der 2 oder 3x aufkreuzte, aber nur kurz blieb –, streift aber den Reibach ein. Das ist deshalb erwähnenswert, weil diverse deutsche Politiker und Medienfritzen gerne damit hausieren gehen, daß Deutschland deshalb eine so gut gefüllte Staatskasse hat, weil die deutschen Arbeitskräfte so billig und willig sind.

Um in den Genuß dieses Traum-Jobs zu kommen, mußte Michael die Geburts- und Todesdaten seiner Eltern und seiner 4 Großeltern vorweisen, und die Orte, wo diese Ereignisse stattgefunden hatten. Ebenso mußte er die Geburtsdaten und Orte seiner Kinder und seiner Ehefrau mit gültigen Dokumenten vorweisen, und ihre derzeitigen Wohnorte angeben.
Da Michael der Erste seiner Familie ist, der überhaupt seine engere Umgebung verlassen hat, und auch seine noch lebenden Verwandten keine weitgereisten oder seltsamen Beschäftigungen nachgehenden Personen sind, so erhielt er den Job.

Man muß sich aber einmal vorstellen, wie sehr jemand auf eine solche Art von Arbeit angewiesen sein muß, um überhaupt diese ganze Prozedur zu durchlaufen, weil die war ja mit Behördenwegen und Papierkram verbunden, alles ohne Bezahlung.
(Gut, etwas Neugierde und Abenteuerlust war natürlich auch dabei …)

2. Was war zu tun?

Michael verlegte Leitungen und schloß elektrische Geräte für jede Menge Konsulate an. Der USA und verschiedener EU-NATO-Staaten. Erst sagte er mir, er hätte Botschaften ans Netz angeschlossen. Wie das? fragte ich. Das irakische Kurdistan ist kein eigener Staat, wie können sie dort Botschaften einrichten? Er überlegte und sagte: Ja, du hast recht, es stand drauf: „Consulat“.

Im Grunde hatte Michael natürlich recht. Es ist eine reine Formalität, wie diese Vertretungen genannt werden. De facto wird im irakischen Kurdistan ein eigener, de jure nicht anerkannter Staat eingerichtet, dafür braucht es diese diplomatischen Vertretungen:

Dieser Staat existiert nur unter ausländischer Besatzung. Michael war nur in Erbil, was die Hauptstadt dieses Gebildes ist. Dort haben verschiedene NATO-Staaten große militärische Lager eingerichtet. Dasjenige der USA macht laut Michael ungefähr die Hälfte der Kleinstadt aus, aus der er stammt. Ansonsten erwähnte er auch noch Italien und Frankreich.

Dieses Staatsgebilde ist also von mehreren NATO-Staaten besetzt und gleichzeitig vor dem Zugriff der irakischen Zentralgewalt geschützt. Offenbar war die Übergabe von Kirkuk die Bedingung, unter der Bagdad einer solchen Besatzung zugestimmt hat.

Irakische Soldaten sah Michael kaum, die kurdischen Peschmerga hingegen schon. Er gab zu, das nicht immer genau unterscheiden zu können.
Es ist auch bezeichnend für die Rolle Deutschlands, daß es auf eine Militärpräsenz dort keinen Wert zu legen scheint, aber die Firma (oder mehrere Firmen) stellt, die die Infrastruktur errichten und damit ein Geschäft machen.

Nicht ganz klar ist in diesem ganzen Bild die Rolle der Türkei. Michael reiste durch die Türkei an. Die Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze waren unglaublich, er berichtete von 10-12 Zäunen und Schleusen, wo er und andere durch mußten und kontrolliert wurden.
Wer hat diese Befestigungen aufgebaut? Der Irak oder die Kurden wohl kaum. Die Türkei? NATO-Staaten? Wie weit reichten sie von dem Grenzübergang aus in beide Richtungen?

Die Bedingung der Türkei für diesen besetzten Kurdenstaat waren offenbar stark überwachte Grenzen und möglicherweise türkische Militärpräsenz entlang des gesamten Grenzstreifens innerhalb des Irak.
Die NATO hat damit jedenfalls einen Stützpunkt im Nahen Osten, den ihr so leicht niemand streitig machen kann, und an der Grenze zum Iran. Mit der einheimischen Elite, dem Barzani-Clan scheinen sich die NATO-Staaten auch geeinigt zu haben. Barzanis dürfen weiter ihre Geschäfte machen, vor allem mit Öl, und sollen ansonsten die Kreise der Militärs nicht stören.
Der Flughafen von Erbil ist auch gut ausgebaut, die NATO-Truppen haben aber möglicherweise auch andere zu ihrer Verfügung. Es völlig unklar, wie sehr der Irak oder die NATO in Mosul präsent ist.

Außer Botschaften verkabelte Michael große, aus Container-Reihen bestehende Flüchtlingslager. Alle eingezäunt und mit ziemlichen Sicherheitstoren versehen.
Für was für Flüchtlinge werden die gebaut? Mit was für kommenden Flüchtlingsbewegungen rechnen die NATO-Staaten?

Man erinnere sich, aus Deir-Ez-Zor und anderen weiter südlich entlang des Euphrat gelegenen Ortschaften sollen Führungskader des IS mit NATO-Hubschraubern ausgeflogen worden sein.
Dann gibt es noch die „Weißhelme“, die die deutsche Regierung so warm willkommen geheißen hat. Ob sie wirklich in Deutschland gelandet sind, wissen wir nicht.
Schließlich, all die aus verschiedenen Orten in Syrien nach Idlib gebrachten Islamisten – was wird aus denen, wenn Idlib wieder in den Schoß Syriens zurückkehrt?

Neben Tschetschenen, Tartaren und Uiguren, die aus den mißliebigen Staaten Rußland und China stammen, sind auch die IS-Kämpfer aus Europa und muslimischen Staaten in ihren Herkunftsländern nicht gerade willkommen. Ihre Rückkehr würde nur Mist machen. Man muß sie vor Gericht stellen, in komplizierten und kostspieligen Prozessen verurteilen, wobei womöglich rechtliche Lücken auftreten können, oder Fakten ans Licht kommen könnten, die blamabel für die ach so humanistische EU wären.
Also werden diese Leute dort in NATO-Kurdistan aufbewahrt, wie in einem Reagenzglas. Man kann sich ihren weiteren Einsatz überlegen. Das Ideal der NATO-Truppen dürfte sein, daß diese Leute derartig von ihnen abhängig sind, daß sie sich ihren Wünschen gar nicht entziehen werden können.

So wird versucht, Söldner und Terroristen gegen Rußland, China und den Iran aufzubauen.

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 3: Venezuela

EIN STAAT IM DAUERHAFTEN AUSNAHMEZUSTAND

Sehr viel hat sich nicht geändert seit letztem Jahr, was die Zustände in Venezuela angeht. Der Versuch der Regierung, die mangelnde eigene Produktion durch Kredit und Löcherstopfen zu behandeln, ist notwendig zum Scheitern verurteilt und führt inzwischen zu einem Massen-Exodus, der die benachbarten Staaten in Besorgnis versetzt.
Eine Sache ist, wozu der Chavismus geführt hat, aufgrund eigener Widersprüche und interner politökonomischer Opposition sowie Druck von außen.

Das Problem Venezuelas ist, kurz zusammengefaßt, daß seit dem Amtsantritt der Regierung Chávez ein Sozialstaat aufgebaut wurde, ohne daß eine Kapitalakkumulation zustande gekommen wäre, die die Finanzierung eines solchen tragen könnte.
Seither hat sich die Situation insofern verschärft, als seit 2014 2,3 Millionen Venezolaner das Land verlassen haben und die Auswanderung in den letzten beiden Monaten sprunghaft angestiegen ist.

1. Medienhetze

Eine andere Sache ist, wie darüber berichtet wird und welche Lösungsvorschläge dem p.t. Publikum von den Medien nahegelegt werden. Schuld an allem ist der Berichterstattung zufolge die regierende Partei (PSUV) und deren Vorsitzender und gleichzeitig Präsident Venezuelas Nicolás Maduro.
Das Schema ist sehr einfach und dümmlich, aber es wird aus allen Rohren über die Menschheit ausgegossen. Die Politiker Venezuelas sind mehr oder weniger Verrückte, und der mehrmals gewählte Präsident ein gefährlicher Diktator, der sein Land aus purer Machtgier ins Verderben führt.
Beweis: Die Leute rennen weg!

Es ist wichtig, sich die Dummheit und Unhaltbarkeit dieser Auffassung deutlich zu machen, als ob der wirtschaftliche Zustand eines ganzen Landes nur den verfehlten Entscheidungen einzelner Politiker geschuldet sei. In ähnlicher Weise wurde gegen Saddam Hussein und Ghaddafi gehetzt, um sie dann wegräumen zu können.
Wenn dann dort im Land Bürgerkrieg, Mord und Totschlag ausbrechen, so wird das noch eine Zeitlang als Erbe des wahnsinnigen Diktators besprochen und dann verschwindet das Land aus den Schlagzeilen.

Es ist das Ideal der guten Herrschaft, die gerade darüber befestigt wird, daß man überall schlechte oder nur halbgute vorfindet. Der gütige Landesvater und seine selbstlosen und ums Allgemeinwohl beflissenen Mitarbeiter – Minister usw. – sollten sich um das Gedeihen ihrer Untertanen bemühen. Vor diesem Ideal schauen alle Regierungen der Welt schlecht aus, und der kritische Journalismus geht zum guten Teil darin auf, immer ein Mißverhältnis zwischen den vorgestellten ehrbaren und den wirklich vorgefundenen „korrupten“ oder „unfähigen“ oder „popularistischen“ Regierungen festzustellen.
Nach diesem Einheitsschema und mit fertigen Textbausteinen wird heute gegen Erdogan und Orban, Putin, Assad, Ortega und Maduro vom Leder gezogen. Über Regierungen, die „uns“, also der EU-Führung genehm sind, hört und liest man dagegen nichts Nachteiliges, obwohl es über Staaten wie Ägypten, die Ukraine oder Myanmar auf jeden Fall diesbezüglich einiges zu berichten gäbe. von den von USA und EU in trauter Zusammenarbeit geschaffenen Failed States ganz zu schweigen.
Über unerfreuliche Entwicklungen in befreundeten Staaten wird jedoch der Mantel der Diskretion gebreitet.

Durch diese Art der Berichterstattung entsteht auch die Ansicht, man brauche nur den obersten Bösewicht und vielleicht einige seiner eingeschworenen Unterstützer wegräumen, und schon würde alles gut.
In diesem Geiste ist auch das etwas stümperhafte Attentat zustandegekommen, das vor einigen Wochen anläßlich einer öffentlichen Veranstaltung gegen Maduro begangen wurde. Ob das jetzt vom Ausland gesteuert wurde oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist, daß die Attentäter sich sicher sein konnten, daß sie vom Ausland und der inländischen Opposition beklatscht werden würden, wenn es ihnen gelingt. Daß die PSUV und Maduro auch nach wie vor viele Anhänger haben, bedachten sie gar nicht.

Dieses Resultat ihrer eigenen Hetze war den Medien offenbar etwas unangenehm, sodaß von Anfang an so getan wurde, als hätte die Regierung dieses Attentat aus Propagandazwecken selbst in Auftrag gegeben.
Warum sie das tun sollte, ist zwar nicht einsichtig, aber im Rahmen des allgemeinen Einheitsbreis von den verrückten Machthabern, die an ihren Sesseln kleben, läßt sich so ein widersprüchlicher Unsinn auch unterbringen.

2. Was tun? Interventions-Überlegungen

Seit geraumer Zeit, bereits vor Trumps Amtsantritt, wurden Pläne zu einer militärischen Intervention in Venezuela gewälzt. Trump selber fragte vor einem Jahr ziemlich unverblümt herum, ob man nicht dort einfach einmarschieren könnte?
Sowohl seine eigenen Berater als auch die ebenfalls zu Rate gezogenen lateinamerikanischen Politiker erteilten diesem Plan eine schlichte Absage.

Auch die sehr amerikafreundlichen Regierungen Brasiliens und Kolumbiens haben klargestellt, daß sie selbst nicht daran denken, dort militärisch einzugreifen, weder im Alleingang noch mit den USA zusammen.
Erstens sind die USA nach mehreren Invasionen, die für das US-Budget sehr kostspielige Failed States erzeugt haben, selber etwas vorsichtiger geworden, was Einmärsche anbelangt. Die Besatzung eines Landes bindet außerdem Truppen, die dann woanders nicht zur Verfügung stehen, und kann sich, wie man an Afghanistan oder dem Irak sieht, sehr lange hinziehen.
Zweitens liegen die Gründe, warum die USA vor einer Intervention zurückschrecken, auch in Venezuela selbst. Venezuela hat ein recht hochgerüstetes Militär, das bisher loyal zur Regierung stand, und diese Regierung hat auch einen großen Rückhalt in der zivilen Bevölkerung. Eine Invasion wäre daher verlustreich für die eigenen Truppen, würde Gemetzel unter der Zivilbevölkerung zu Folge haben und ein Erfolg wäre völlig unsicher.
Es ist keineswegs so, wie die Medien vorspiegeln, daß Invasoren willkommen wären und die Bevölkerung sie mit offenen Armen empfangen würden, und das wissen Pentagon und CIA genau so gut wie die Regierungen der Anrainerstaaten.

3. Migranten

Immer mehr Leute verlassen Venezuela und verursachen damit ein Problem für die Staaten in Südamerika.
Zunächst für die unmittelbaren Anrainerstaaten.
Sie überfluten Grenzstädte in Kolumbien und Brasilien, die ohnehin eher Armenhäuser der jeweiligen Staaten sind. Die Venezolaner kommen teilweise unterernährt und krank an, weil in Venezuela Grundnahrungsmittel knapp sind und weil die medizinische Versorgung in Venezuela von Haus aus mangelhaft war und inzwischen aufgrund des Mangels an Medikamenten in vielen Gegenden zusammengebrochen ist.
Dazu kommen bei der Weiterreise in andere Staaten Probleme der Bekleidung und Ausrüstung, weil Venezuela ein Land des ewigen Sommers ist, wohingegen Ecuador und Peru Teile der Andenhochebene sind und ein Hochgebirgsklima haben, für das die Venezolaner schlecht gerüstet sind.

Im brasilianischen Grenzdorf Pacaraima gibt es inzwischen eine ziemlich elende Zeltstadt, die vor allem durch NGOs mehr schlecht als recht versorgt wird, und es kam auch bereits zu einem Pogrom gegen die venezolanischen Auswanderer. Die Polit-Mannschaft des Bundesstaates Roraima macht ihre Politkonkurrenz inzwischen über das „Flüchtlingsproblem“ und, ähnlich wie hierzulande, geschieht in Sachen Flüchtlingsversorgung sehr wenig.
In Kolumbien ist es vor allem die Grenzstadt Cúcuta, die von venezolanischen Migranten überlaufen wird. Kolumbien fühlt sich deshalb berufen, besonders gegen die venezolanische Regierung Stimmung zu machen, die Probleme Cúcutas werden aber nicht gelöst.

Peru und Ecuador sind ebenfalls Zielländer für die venezolanische Emigration. Sie haben inzwischen beschlossen, Pässe beim Grenzübertritt zu verlangen, um den Zustrom zu unterbinden bzw. zu kontrollieren.
In Venezuela hatten die meisten Einwohner nie einen Pass. Sogar die Erlangung eines Personalausweises war jahrzehntelang für die meisten ärmeren Venezolaner zu teuer. Es stellte eine Leistung der Chávez-Regierung dar, die Leute überhaupt mit letzterem Dokument auszustatten, um ihnen Zugang zu Sozialleistungen zu ermöglichen.
Internationale Pässe auszustellen ist eine Dienstleistung, die erst in jüngerer Zeit sozusagen in Mode gekommen ist. Die Behörden sind mit dem Ansturm überfordert, und die venezolanische Regierung benützt diesen Umstand auch, um die Auswanderung zu behindern. Man kommt in Venezuela heute nur an einen Pass, wenn man einen Haufen Geld dafür ablegt.
Infolgedessen verlassen die meisten Venezolaner das Land nur mit einem Personalausweis, oder nicht einmal diesem. Sie treten also bereits als „sin papeles“, Undokumentierte, in den Nachbarländern auf.

Die Beschränkungen Ecuadors und Perus stoppen jedoch den Zustrom an Migranten nicht, sondern eröffnen nur ortskundigen Schleppern ein Geschäftsfeld, um die venezolanischen Migranten über Schleichwege auf das Territorium des Zielstaates zu bringen.

So präsentiert sich das „Problem Venezuela“ heute sowohl für die USA, die aus den oben beschriebenen Gründen nicht intervenieren will und kann, als auch für die Staaten Lateinamerikas, die zusätzlich zu ihrer eigenen Armut und „überflüssigen Bevölkerung“ im Marx’schen Sinn – Leute, die keine andere Existenzmöglichkeit als den Verkauf ihrer Arbeitskraft haben, für die das Kapital aber keine Verwendung hat – mit dem Problem der venezolanischen Emigration konfrontiert sind.
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siehe auch: Imperialismus heute: VENEZUELA UND DIE WELT (Jänner 2019)
Radiosendung zu Venezuela in 2 Teilen: Vom Glück und Pech, über Ressourcen zu verfügen (April 2019)
https://cba.fro.at/400802
https://cba.fro.at/401945