„DIE MAUER BEGINNT IM SÜDEN“
Reportage von der guatemaltekisch-mexikanischen Grenze
„Mexiko verzeichnet Rekordzahlen, was Ausweisungen von Flüchtlingen betrifft, während die Asylansuchen um 1000 % in die Höhe schnellen. Organisationen sprechen von einer „humanitären Krise“ an seiner Südgrenze.
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Carla, nach drei Versuchen, in den Vereinigten Staaten zu kommen, zwei Kindern und einer Vergewaltigung, hat es aufgegeben, Mexiko zu durchqueren und trägt lieber Bier auf der Chapín(1)-Seite aus.
Die Grenze zwischen Mexiko und Guatemala erstreckt sich etwa 1.000 Kilometer lang, entlang des Tecún Umán, einem braunen Fluss, kniehoch während der Trockenzeit, der direkt neben der Zollstation ohne Fragen oder Papiere zu Fuß überquert werden kann.
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Hier ist die guatemaltekische Seite der Grenze ein Stück Land, wo Händler/Schmuggler, Drogenkuriere, Migranten, Prostituierte, normale Bewohner und Geldwechsler leben, und auch Leute, die ganz unerwartet vor aller Augen einem gerade erjagtem Opposum die Haut abziehen, als wäre es eine Zirkusvorführung.
»Der Hurensohn von einem Zug!«, sagt José über den Unfall, bei dem ihm die Beine abhanden kamen, als er versuchte, auf den Zug mit dem Namen »La Bestia« (das Untier) aufzusteigen, der Mexiko von Süd nach Nord bis zum Golf von Mexiko durchquert.
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Sowohl Carla als José sind auf der anderen Seite des unsichtbaren Südmauer gestrandet.
Die intensive polizeiliche Überwachung, das „Untier“, Verbrecher-Kartelle, die Netze des Menschenhandels und Abschiebungen sind die Bausteine einer virtuellen „Mauer“, die sich 3.000 Kilometer südlicher erhebt als die, die Donald Trump bauen will.
»Die Mauer, die den Migranten Angst macht, ist Mexiko, nicht diejenige von Trump«, erklärt Mario Hernani, Koordinator des Casa del Migrante (Haus des Migranten) in Tecún Umán, Guatemalas letzter Gemeinde vor der Grenze. »Alle, die diesen Route wählen, wissen, dass sie angegriffen, erpresst oder vergewaltigt werden, in erster Linie von den Behörden«, fügt er hinzu.
Laut der Dachorganisation der Verteidiger der Migranten (Redodem), die mehr als 30.000 Migranten, die in ihren Unterkünften Zuflucht gefunden haben, befragt hat, war für fast die Hälfte der an ihnen begangenen Verbrechen im Jahr 2015 die Polizei verantwortlich (41%), für den Rest die organisierte Kriminalität und gewöhnliche Verbrecher.
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Jedes Jahr durchqueren 400.000 Personen Mexiko, zumeist aus Mittelamerika, mit durchschnittlich 60 $ in der Tasche, Teilnehmer eines stillen Exodus, um der Gewalt zu entkommen.
Marcelo, 36, und Nancy, 20, flohen aus El Salvador am 4. Januar, als ein Typ des Mara-Salvatrucha, der größten kriminellen Bande im Land, bei ihnen zu Hause erschien, mit dem Kolben der Pistole die Tür einschlug und ihnen 24 Stunden gab, das Haus zu verlassen. Es war die letzte Warnung. Sie hätten gewollt, daß Nancy für sie zu arbeitet.
Am Dreikönigstag, kaum daß sie den Fluß überquert und mexikanischen Boden betreten hatten, wurde ihnen alles Geld und ihre alten Handys gewaltsam abgenommen.
Einen Monat später sitzen sie im Hof einer Herberge der Scalabrinianer (eines katholischen Mönchsordens), und das Gerede vom „Anziehungseffekt“ kommt ihnen seltsam vor.
»Aber was, ich bin aus Angst weg aus El Salvador, nicht wegen einer Mauer, weil mich sonst die Typen von der Salvatrucha-Bande am nächsten Tag in Stücke gehaut hätten«, versichert Marcelo, während er die Hand seiner Freundin hält. »Mauer hin oder her, ich mußte weg.«
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In den letzten sechs Jahren haben die Asylanträge in Mexiko mehr als 1000% zugenommen. Die Kurve ist der UNHCR zufolge von einigen hundert Fällen im Jahr 2011 fünf Jahre später auf fast 9000 geschnellt. Und für das kommende Jahr rechnen diese Behörde mit einer Verdopplung.
Mehr als 90% dieser Anträge kamen von Menschen aus dem nördlichen Dreieck von Mittelamerika – Honduras, El Salvador und Guatemala, auf der Flucht aus Städten wie San Salvador in El Salvador oder San Pedro Sula in Honduras, die zu den gewalttätigsten in der Welt gerechnet werden.
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Mexikos Reaktion war, das Budget für die Inhaftierung von Migranten und Flüchtlingen zu erhöhen, mit der Einrichtung des mehrdeutigen „Planes Südgrenze“, unterzeichnet im Jahr 2014 im Rahmen der Merida-Plans, der die Zusammenarbeit mit den USA für Bekämpfung der organisierten Kriminalität verstärkt. Seitdem ist die Zahl der Verhaftungen und Deportationen gestiegen.
Barack Obama war derjenige Präsident, der die meisten Migranten abgeschoben hat, 2,8 Millionen Menschen zwischen 2008 und 2016. Allerdings hat inzwischen Mexiko die USA als Gendarm im Süden abgelöst und in den letzten zwei Jahren die USA bezüglich Abschiebungen übertroffen. Letztes Jahr deportierte die USA 96.000 Migranten, Mexiko 147.000, nach offiziellen Angaben im Durchschnitt 293 Personen pro Tag.
Während 60% der aus den USA Abgeschobenen jedoch irgendein Verbrechen begangen hatten, waren in Mexiko die meisten Ausgewiesenen ohne Vorstrafe.
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Mexiko macht die Drecksarbeit für die USA, das ist sein Auftrag, und den erfüllt es perfekt … Gleichzeitig hat Mexiko jedoch eine Anerkennungsrate von 64% der Asylanträge, weit höher als viele andere Staaten, was an die ruhmreichen Anerkennungsquoten seiner Vergangenheit erinnert, als es viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien und Mittelamerika aufnahm.
Verängstigt aufgrund der schwierigen Bedingungen, unter denen sie nach Tapachula kamen, warten Marcelo und Nancy in der Bethlehem-Herberge auf das Ausstellen von gültigen Dokumenten für Flüchtlinge, um weiterreisen zu können.
»Ich will in die USA und wenns nicht geht, bleib ich auch in Mexiko. Aber nicht in Tapachula, hier hab ich Angst«, beschwert sich Marcelo über die Polizei und das feindselige Klima gegenüber Migranten. »Sie nennen uns Ratten, Entführer, Kriminelle, Bandenmitglieder.« Das salvadorianische Paar hatte das Pech, gerade in dem Augenblick nach Tapachula zu kommen, als es Plünderungen aus Protest gegen die Erhöhung der Benzinpreise gab, und die ganze Stadt war ein einziges Chaos.
Der Bürgermeister von Tapachula, Néftali de Toro von der PRI, leistete seinen Beitrag zur aufgehetzten Stimmung gegen die Migranten, indem er sie als Anstifter der Plünderungen bezeichnete, obwohl sich damals Anfang Jänner dergleichen in ganz Mexiko abspielte, mit mehr als 100 Überfällen pro Tag.
»Tapachula ist verseucht durch die Migranten« sagte damals der Bürgermeister einer Stadt mit 400.000 Einwohnern, 3 500 Wirtshäusern und Bordellen, und einer Bibliothek.“
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(1) Eine Art hochgeschlossene Sandale mit Korksohle, die heute als ein Symbol Guatemals gilt.
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Wer Donald Trump zum ausländerfeindlichen Buhmann stilisiert, will vom US-amerikanischen und weltweiten Umgang mit Flüchtlingen nichts wissen. Die Mauer zu Mexiko ist auch nur eine Verlegenheitslösung, wenn sie überhaupt gebaut wird, die den Ansturm der Habenichtse und Vertriebenen nur erschweren, aber nicht aufhalten kann. Sie wird höchstens mehr Menschen aufs Meer treiben, sodaß man sich in Zukunft auf Nachrichten von Ertrinkenden auch vor den US-Küsten einstellen können wird …
Ein weiterer Aspekt dieses Artikels ist der Zustand mancher mittelamerikanischen Staaten, deren Wirtschaft dermaßen am Boden ist, daß ein legales Überleben dort für so viele unmöglich ist, da dort praktisch bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen – nicht aus politischen, sondern aus ökonomischen Gründen.
Armut, erinnern wir uns, ist genausowenig ein Asylgrund wie Krieg …
Kategorie: Migration
Das Vorrücken des Islamischen Staates
DSCHIHAD
Da sind wir also angelangt im 21. Jahrhundert, mit allgemeiner Schulpflicht, Aufklärung und Trennung von Staat und Kirche: perspektivlose Jugendliche aus Europa machen sich auf in den Nahen Osten, um dann dort genußvoll Leute zu enthaupten, zu kreuzigen und das auch noch mit moderner Technik der gesamten Welt in Wort und Bild mitzuteilen.
Rekapitulieren wir doch einmal die Vorgeschichte zu dieser Entwicklung.
1. Das Setzen auf den radikalen islamischen Fanatismus. Religion als Mittel der Politik
Die USA und deren in der NATO organisierte europäische Verbündete haben in ihrem Kampf gegen den Kommunismus und alles andere, was sich der von ihnen gestifteten Weltordnung, der pax americana widersetzt hat, immer auf die islamische Karte gesetzt.
Um der Sowjetunion „ihr Vietnam“ zu verschaffen, wurden die Gotteskrieger in Afghanistan mit allem Nötigen ausgerüstet und als „Freiheitskämpfer“ bejubelt. Gleichzeitig lief eine Kampagne gegen den Gottesstaat der Mullahs im Iran. Es störte anscheinend niemanden, daß die gleiche Mentalität hier hofiert, dort verteufelt wurde – alles nur unter dem Gesichtspunkt: sind sie für oder gegen uns?
In den Palästinensergebieten wurden die Aktivitäten der Muslimbrüderschaft toleriert, ja sogar unterstützt, um die Palästinenser zu spalten und die säkular und prosowjetisch orientierte Fatah zu schwächen. Der Gründer der Hamas, Scheich Jassin, den das israelische Militär 2004 durch zielgerichtete Raketen tötete, wurde bis Mitte der 80er Jahre von den israelischen Behörden nicht nur toleriert, sondern sogar aktiv gefördert. Die Fatah bezichtigte ihn de „Kollaboration mit dem Zionismus“. Auch Israel setzte also damals auf die islamische Karte, gegen den säkularen panarabischen Nationalismus.
Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater mehrer US-Präsidenten, wurde 1998 in einem Interview gefragt, ob dieses Setzen auf den islamischen Fundamentalismus nicht vielleicht ein Eigentor gewesen sei? Das war immerhin 5 Jahre nach dem ersten (Sprengstoff-)Anschlag auf das World Trade Center, der 6 Tote und über Tausend Verletzte forderte:
„Was denn wichtiger gewesen sei, fragte der einstige Carter-Vertraute empört zurück, »die Taleban oder der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums? Einige muslimische Hitzköpfe oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?« Die Darstellung des islamischen Fundamentalismus als weltweite Bedrohung – schon damals durchaus gängig – nannte Brzezinski 1998 schlicht »Blödsinn«.“
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die USA – in Zusammenarbeit mit anderen NATO-Staaten – einige Regierungen im arabischen Raum demontiert, die keine Anhänger des radikalen Islam waren und ihren Staat nach anderen Kriterien regiert haben, wie Saddam Hussein und Ghaddafi. Die USA und ihre Mitarbeiter haben dort religiöse Parteien installiert, wie im Irak, oder religiöse Gruppierungen unterstützt, wie in Libyen.
In Syrien wurden nach dem Ausbruch der Unruhen alle Parteien ins Recht gesetzt, die gegen das – ebenfalls säkulare – Regime von Assad waren. Manche wurden direkt vom Westen unterstützt, andere mit Billigung der USA von Katar und Saudi-Arabien.
Mit der Beibehaltung des Guantanamo-Lagers, und später mit der Hinrichtung von Osama Bin Laden 2011 wurde der islamischen Welt signalisiert: Ihr könnt machen, was ihr wollt – solange es nicht gegen die USA gerichtet ist! Die Einrichtung der Scharia – in Saudi-Arabien seit jeher üblich, im Iran seit der Revolution, in Ägypten seit Sadat – kein Problem! Mit euren Leuten könnt ihr machen, was ihr wollt. Aber unsere Interessen tastet nicht an!
Einzig mit den Schiiten ist die Sache nicht so klar, da sie alle irgendwie mit dem Iran in Verbindung stehen, oder solcher Verbindungen verdächtigt werden, und daher den USA prinzipiell unangenehm sind. Im Irak mußten sich die USA notgedrungen mit den Schiiten arrangieren, waren aber immer unzufrieden mit der Regierung, die sie installiert hatten, vor allem wegen deren Naheverhältnis zum Iran. Das ist wichtig, um die Nicht-Reaktion der USA zu begreifen, als die IS-Kämpfer im Irak vorrückten: die USA hielten sie eine Zeitlang anscheinend für ein probates Mittel, um sich der irakischen Führung zu entledigen.
Als der Bürgerkrieg in Syrien losging, war die westliche Politik und in ihrem Gefolge die Journaille einig: gegen Assad ist uns alles recht! Dies trotz der Tatsache, daß Syrien kein wirkliches Tabu des Westens gebrochen hatte, außer seinem Bündnis mit dem Iran. Sogar der Bürgerkrieg im Libanon wurde durch syrischen Einfluß beendet. Dennoch galt Syrien als ein „Regime“, dessen sich die USA entledigen wollte – koste es, was es wolle.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt des syrischen Bürgerkriegs: er wurde von Strategen der USA als eine Möglichkeit gesehen, die islamischen Fanatiker und Gotteskrieger als eine Art Magnet anzuziehen und an einem Ort zu konzentrieren. Das Schlachthaus Syrien sollte als eine Art Mistkübel dienen, in dem sich die islamischen Störenfriede gegenseitig fertigmachen, um andere Weltgegenden von ihnen zu „befreien“.
Diese Vorstellung hat sich angesichts der jüngeren Ereignisse sehr gründlich blamiert.
2. Die überflüssige Jugend
Die Europäische Union hat gerade durch den Erfolg des bei ihr versammelten Kapitals jede Menge überflüssiger Menschen produziert. Das ist ein Ergebnis dessen, wie das Kapital vorgeht: immer mehr lebendige, also von Menschen verrichtete Arbeit wird durch Maschinen – oder inzwischen durch Computer und Internet – ersetzt, weil dadurch die Gewinne der Unternehmen gesteigert werden. Das wird unter den sehr anerkannten Parolen „Produktivität“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ öffentlich gelobt und quasi heiliggesprochen. Das heißt nichts anderes als: immer mehr Menschen werden durch Maschinen oder Softwareprogramme überflüssig gemacht. Diese aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedenen werden dann als Belastung der sozialen Netze besprochen und durch Bücher wie Thilo Sarrazins Bestseller als Ballast für den Rest der „Nation“ an den Pranger gestellt.
Besonders betroffen ist durch diese Entwicklung die Jugend. Die nachwachsenden Arbeitskräfte können von dem bereits gesättigten Arbeitsmarkt nicht oder nur teilweise aufgesogen werden. Die von der Werbung hofierten „Kids“ gelten nur solange etwas, als sie zahlungsfähig sind. Mehr und mehr jungen Leuten wird von allen Seiten – Arbeitsämter, Medien, Polizei – beschieden, daß sie niemand brauchen kann und sie eigentlich nur im Weg sind. Die Jugendarbeitslosigkeit füllt diverse Studien der EU, die Politiker sehen sie als „Problem“, aber das ganze System ist so geartet, daß es für dieses Problem keine Lösung gibt. Es sind ihrer zu viele, und fertig.
Sobald sie sich mit dieser Perspektive des Elends, – gegenüber allen Propagandalügen völlig unabhängig von ihrer Ausbildung – nicht abfinden und entweder kriminell oder aufmüpfig werden, sehen sie sich der geballten Macht des Staates gegenüber, der über die Eigentumsordnung wacht.
Die Ermordung Carlo Giulianis 2001 war der Auftakt zu einer von den Medien abgesegneten und seither flächendeckend praktizierten Umgangsform mit Armut und Protest der Jugendlichen. Die Aufstände in der Banlieue 2005, die Unruhen in Großbritannien 2011, das Vorgehen gegen die „Empörten“ in Spanien 2011/2012 – all das hat aller Welt, vor allem aber den Betroffenen, vor Augen geführt, daß sie nichts gelten, ihre Anliegen nichtig sind, und daß sie dafür verhaftet, verprügelt, eingesperrt oder auch umgebracht werden können, ohne daß unser feines System von Freedom and Democracy dagegen irgendeine Handhabe bieten würde.
Daraus haben einige den Schluß gezogen, daß es besser ist, in den syrischen Bürgerkrieg zu ziehen. Er bietet einiges: Von Nullitäten, die nichts zu melden haben und Ohnmächtigen, die der Behördenwillkür ausgeliefert sind, können sie sich zu Herren über Leben und Tod verwandeln. Sie können andere Leben auslöschen und sich dadurch zu Mächtigen stilisieren. Aus dem unbedeutenden Omar X. in der französischen Banlieue oder dem Ramiz Y. aus einem Londoner Vorort wird so ein Henker, ein „Macher“, ein Vollstrecker.
Der syrische Dschihad bedient so ein sehr bürgerliches Bedürfnis, das nach Anerkennung: ein unbedeutender Mensch, der nichts hat und nichts kann, verschafft sich über Mord und Totschlag diejenige Stellung, die ihm die normale bürgerliche Gesellschaft verweigert hat, und wird zu einem Richter über Gut und Böse, und über die Berufung auf den einen und wahren Herrn zu einem Pantokrator, dem Richter über das Weltgeschehen.
3. Die Entwicklung in der muslimischen Welt
Die Vertreter des Islam begreifen ihre Religion als die Vollendung allen Glaubens, als die einzige monotheistische Religion der Welt. „Islam“ bedeutet Unterwerfung, Hingabe gegenüber dem einzigen und allmächtigen Gott. Alle anderen Religionen sind gegenüber dieser Vollendung inferior – entweder, sie sind Vorstufen des Islam, wie die Christen und Juden, oder sie sind Leugner derselben und deswegen zu vernichten. So steht es im Koran.
Da der Islam die höchste Stufe des Glaubens ist, so ist es ein Privileg, in diesen Glauben hinein geboren zu sein. Aus dem Islam gibt es keinen Austritt. Wer seine höhere Berufung verleugnet, fällt dem Gericht anheim. Wird er gefaßt, so ist er hinzurichten. Auf jeden Fall ist er vogelfrei, jeder kann ihn umlegen. (Ähnliches gab es im christlichen Glauben, wenn jemand von Papst in Acht und Bann getan wurde.)
Für den sunnitischen Islam gilt die Schia seit jeher als Häresie. Die Schiiten lehnen das Kalifat ab – es ist für sie eine unrechtmäßige Besetzung des höchsten Thrones des Islam. Sie warten auf den Erlöser – den Mahdi –, der den wahren Islam für alle einrichtet.
Das war alles nicht so tragisch, solange in den meisten muslimischen Staaten Regierungen an der Macht waren, die die Religion zu einer Privatsache erklärten, oder eine eigenständige Interpretation des Koran zum allgemeingültigen Dogma erhoben – wie Ghaddafi im Grünen Buch.
1970 erschien das Buch „Der islamische Staat“, in dem die Predigten Chomeinis in Nadschaf zusammengefaßt waren. Darin wird die Aufhebung der Trennung zwischen Staat und Kirche und die Wiedereinführung des islamischen Rechtes gefordert – nicht nur für den Iran. Chomeinis Ansicht war, daß der Islam nur in Form eines Gottesstaates existieren könne. Alles andere sei Verrat an den islamischen Glaubensprinzipien.
Die islamische Revolution 1979 und die Umsetzung von Chomeinis Vorstellungen im Iran setzten die saudische Führung unter Druck. Es konnte doch nicht sein, daß diese Ketzer auf der anderen Seite des Golfs sich päpstlicher als der Papst gaben und zu einer Art Vorbild für die islamische Welt machten! Also wurde betont, daß auch in Saudi-Arabien Kirche und Staat vereint seien, die Rechtssprechung verschärft, der Königswürde der Titel „Hüter der Heiligen Stätten“ hinzugefügt und ein Stiftungsprogramm für Koranschulen im Ausland aufgelegt, das durch seine Erfolge in Pakistan der Weltöffentlichkeit bekannt wurde: dort wurden die Taliban „erschaffen“.
Ab 1979 kamen mehrere Dinge zusammen, die eine militante Auslegung der islamischen Glaubenslehre begünstigten: Die als Fatwa erlassene Aufforderung an alle Muslime, sich am Dschihad gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans zu beteiligen, der Sieg der iranischen Revolution und auch die Besetzung der großen Moschee in Mekka, die mit über 300 Toten endete. Warum eigentlich nur gegen die sowjetische Besatzung eines Landes kämpfen? Was machen eigentlich diese ganzen Ausländer hier, die unsere Sitten verderben, unsere traditionelle Ökonomie ruinieren, ihre Frauen in aufreizender Weise zur Schau stellen, Alkohol und Prostitution einschleppen, usw. usf.? Eine Art Wettbewerb der militanten Moralwachteln ging los, einander an Orthodoxie und Militanz zu übertreffen.
Das Rennen um das Primat der Dschihadisten machte schließlich Al Kaida. Erstens waren ihre Anschläge nach dem Prinzip „Nicht kleckern, klotzen!“ ungleich wirkungsvoller als die der Konkurrenz. Außerdem brachte Ayman Al-Zawahiris Auslegung des Selbstmordattentats als legitimem Mittel des Dschihads so richtig Leben in die Bude, und eröffnete neue Formen des Terrors. Dazu kam die Entwicklung des Internets, das es Sinnsuchern auf dem ganzen Globus ermöglichte, in den Genuß ihrer Ergüsse, Predigten und Koraninterpretationen zu kommen. Der Dschihad erfaßte die ganze Welt.
Es war eine sehr dümmliche, Wildwestfilmen entlehnte Vorstellung der US-Politiker, durch die Beseitigung Bin Ladens diesen Prozeß in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Ein Hydra-Effekt trat ein: für den einen abgeschlagenen Kopf wuchsen unzählige andere, die den seligen Osama noch übertreffen wollen. So beantworten sich die neuen Gotteskrieger die Frage: Warum ist der Islam so schwach und kann dem verderblichen Einfluß der Ungläubigen nicht widerstehen? damit, daß sie jede Menge innere Feinde ausfindig machen: lauwarme Muslime, die ihren Glauben verraten, und andere Konfessionen, die sich wie Maden im Speck in der muslimischen Welt eingehaust haben und ständig als Kollaborateure der westlichen Mächte betätigen. Die Dschihadisten wurden zu Takfiren und beschlossen eine gründliche Säuberung aller Territorien, in denen sie sich breit gemacht hatten – mit demonstrativen öffentlichen Hinrichtungen, damit die Botschaft auch bei allen ankommt.
Als Ayman Al-Zawahiri voriges Jahr in einer Erklärung alle Gotteskrieger aufforderte, die Selbstzerfleischung aufzugeben und ihren Kampf auf die „Kreuzzügler gegen den Islam“, also den westlichen Imperialismus zu richten, war er bei seinem Zielpublikum durchgefallen. Was bildet sich der ein?! Und die Protagonisten des Islamischen Staates sagten sich von Al Kaida los und definierten ihr eigenes Programm:
Islamischer Staat – ja, das ist eine Sache. Aber dieser Staat hat jetzt keine Grenzen mehr und ist nicht auf irgendein Territorium beschränkt. Das Kalifat wird wieder errichtet, und die Weltherrschaft wird angestrebt. Islam für alle! Das ist das Ziel der aktuellen Dschihadisten.
Es wird schwer sein, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen.
– Der Kapitalismus und die Klassengesellschaft, die immer mehr Leute aussortieren und ihnen ihre Nutzlosigkeit auch noch als persönlichen Makel vorwerfen,
– das staatsbürgerlich-untertänige Bewußtsein, das alle Unzufriedenheit in Rechtskategorien einsortiert und nach Schuldigen sucht, die sich natürlich auch immer finden,
– und der höhere Sinn, den so eine Religion in schweren Zeiten stiftet
– all das arbeitet dieser Art von Idiotie in die Hände.