Was gibts eigentlich Neues zum Thema Brexit?

DAS AUSTRITTS-THEATER
Über eineinhalb Jahre ist es jetzt her, daß bei einer Abstimmung in Großbritannien die Mehrheit der Wähler entschieden hat, der EU den Rücken kehren zu wollen.
Das löste bei den Politikern und Medien der EU einen Schock aus. Wie ist es möglich, daß jemand diese tolle Staatengemeinschaft verlassen will? Die ganze Propagandamaschinerie für dieses imperialistische Staatenbündnis hatte auf einmal Sand im Getriebe. Die Austritts-Option gab es nämlich in den EU-Verträgen – ähnlich wie in der jugoslawischen Verfassung – nur aus dem Grund, daß damit die Freiwilligkeit des Dabeiseins noch einmal unterstrichen sein sollte, aber nicht deshalb, damit sie auch wahrgemacht würde.
Ein Austritt war nicht vorgesehen, das ganze Prozedere dazu fehlte, ein Präzedenzfall war geschaffen worden.

1. Die Gründe für die Abstimmung

So eine Abstimmung muß erst einmal angesetzt werden, sie geht also auf jeden Fall zunächst von der politischen Herrschaft aus und nicht vom einfachen Wahlvolk.
Die politische Klasse bzw. die Eliten Großbritanniens sind gespalten in der Frage, ob sie mit oder ohne EU besser gefahren wären oder fahren würden. Die Träume vom Empire wurden nie aufgegeben, und sich als Gleicher unter Gleichen mit den anderen großen Mächten der EU zu begegnen, war schon manchen zuwenig. Noch weniger gefiel Politikern der Abstieg in die zweite Reihe, der trotz der City und des Militärapparates aufgrund des fortgeschrittenen und noch weiter fortschreitenden Verlustes der produktiven Basis droht. Manche rechneten sich anscheinend in einer Rückkehr zum Commonwealth und einer Neuauflage gesonderter Beziehung zu den ehemaligen Kolonien einen Vorteil aus, mit dem ein Austritt aus der EU wettgemacht werden könnte.
Aber die umgekehrte Befürchtung, daß die bereits weit gediehenen Abhängigkeiten nicht mehr ohne größeren Flurschaden rückgängig gemacht werden könnten und vor allem der Londoner Finanzsektor durch eine Abkoppelung von der Eurozone leiden würde, war genauso vorhanden und wohlbegründet.
Als der Premierminister eine Volksabstimmung ansetzte, war er von der festen Überzeugung beseelt, daß das werte Volk ein Einsehen haben und ein sattes Ja! zu Europa zurückschallen würde, ähnlich wie sich bei dem schottischen Referendum 2014 eine relativ klare Mehrheit von 55% für den Verbleib bei Großbritannien ausgesprochen hatte. Womit er wiederum bei Verhandlungen punkten könnte, so in der Art: unsere Bürger haben trotz alledem Vertrauen in die EU, und deshalb wollen wir
2. Das unerwünschte Ergebnis
Daß sich die Mehrheit, wenn auch sehr knapp, gegen die EU positionieren würde, hatten weder der Premier selber noch die lauten Marktschreier des Brexit erwartet, die in den Tagen nach der Abstimmung von ihren Posten zurücktraten. Das Ergebnis überraschte und verstörte alle: die Politiker, die Geschäftswelt, die Propagandisten der EU im Medien und Umfrage-Instituten.
Vor allem die in den letzten Jahren populär gewordene Methode, Wahlkampfprognosen quasi als Aufforderung an die Wählerschaft zu formulieren, der sie gefälligst nachzukommen hätte, blamierte sich gründlich.
Die Publikumsbeschimpfung ließ nicht auf sich warten, und alle überboten sich in Deutungen, welchen finsteren Gefühle und heimtückischen Slogans, nicht zu vergessen die immer präsente machiavellische Hand Russlands, dieses Ergebnis hervorgerufen hätten. Von einem Generationskonflikt war die Rede, von gemeinen Rentnern, die den hoffnungsfrohen Jugendlichen ihre Zukunft verbauen, usw..
Niemand wollte zur Kenntnis nehmen, daß es genug Gründe geben kann, diese EU satt zu haben, mit der schrankenlosen Konkurrenz, der die arbeitende Menscheit dort ausgesetzt ist, und ausufernden Immobilienpreisen, die steigende Verarmung und Obdachlosigkeit verursachen.
Nein, wer gegen diese ständig schön- und alternativlos geredete EU etwas hat, muß verrückt oder dämonischen Einflüsterungen erlegen sein.
3. Die Folgen
Es folgten eineinhalb Jahre Verhandlungen, bei denen absolut nichts herausgekommen ist. Treffen werden veranstaltet, Drohungen ausgesprochen, Brexit-Themen heizen die Parteienkonkurrenz Großbritanniens an. Irgendwelche Fristen werden gesetzt – wofür? Die Freihandelsabkommen sollen erst gekündigt werden und dann auch wieder nicht, weil die Firmen auf dem Kontinent das auch nicht wollen, für die GB ein wichtiger Markt ist. Es stellt sich heraus, daß die Rest-EU mindestens genausoviel, wenn nicht mehr durch einen Austritt Großbritanniens verlieren würde.
Dann soll GB einen Haufen Geld zahlen, um austreten zu dürfen. Warum eigentlich? So genau erfährt das die Öffentlichkeit nie. Die Zahlen sind offensichtlich frei erfunden. Die Verhandler sagen einmal: kommt nicht in Frage! das nächste Mal: gegen verschiedene Vergünstigungen würden wir schon was springen lassen, das dritte Mal wieder: nein, wir zahlen keinen Cent!
Die Märkte reagieren inzwischen ziemlich indifferent. Das Pfund ist um 15% gefallen, was Großbritannien Entschuldung und Wettbewerbsvorteile gebracht hat. Eine Flucht des Finanzkapitals aus London wurde nicht registriert. Alle warten ab, was denn passieren möge – sofern etwas passiert.
Schon gibt es Bewegungen in Großbritannien, die eine neue Abstimmung veranstalten wollen, um das Votum von 2016 rückgängig zu machen.
Das wäre natürlich ganz im Sinne und auch der Tradition der EU, bei ungewünschten Abstimmungsergebnissen einfach so lange neu abstimmen zu lassen, bis das Ergebnis paßt.
Diese Tendenzen Anti-Brexit werden von den Medien sehr euphorisch begrüßt, ihr Erfolg wird sich daran bemessen, wie die politischen Eliten entscheiden.
Vielleicht beschäftigt GB die nächsten 10 Jahre sowohl die EU als ihre eigene Bevölkerung mit dem Brexit-Schmäh.
Morgen, morgen, nur nicht heute!

39 Gedanken zu “Was gibts eigentlich Neues zum Thema Brexit?

  1. Mir gefällt deine Theaterbesprechung, weil sie zwei Gedankenlosigkeiten vermeidet, die unter Linken üblich sind.
    1) In der linken Propaganda ist es üblich, dass Statements von einzelnen Politfiguren als bare Münze auf das Gesamtkonto einer Regierung gut geschrieben werden. Was irgend ein (namhafter) Staatsvertreter äußert, ist jedoch selten bis nie die gemeinsame Meinung der Machthaber. Eine „gemeinsame Meinung“ unserer Machthaber stellt sich immer erst im Widerstreit untereinander und mit äußeren Kräfteverhältnissen her. Im Fall Brexit fehlt eine “gemeinsame britische Meinung” immer noch.
    2) In der linken Propaganda ist es üblich, ständig böse Motive und Absichten der Herrschenden zu „entlarven“. Diese Kritik der Absichten läuft über ein „Einfühlen“ in den Herrschaftswillen. Wenn imperialistische und sonstige Staatsvertreter endlich wissen, was sie wollen, unterscheidet sich ihr gemeinsamer Wille jedoch noch sehr von dem, was sie wirklich können. Die Kritik ihres Willens ist leicht, aber eigentlich witzlos. Die Kritik der (Un)Möglichkeiten und Chancen ist viel wichtiger, erfordert jedoch Faktenwissen und Urteilsvermögen, das nicht auf allen linken Schreibtischen herumliegt.
    Beide linke Gedankenlosigkeiten malen die Machthaber in der Welt stärker als sie sind und die Verhältnisse (und uns) schwächer als sie/wir sind.
    Gruß Wal

  2. … linke Gedankenlosigkeiten malen die Machthaber in der Welt stärker als sie sind und die Verhältnisse (und uns) schwächer als sie/wir sind

    Das “wir” basiert freilich nicht auf Gedankenlosigkeit, sondern hat seine Ursache darin, dass sich unterm Label “links” alle möglichen ‘Politikansätze’ o.s.ä. subsumieren lassen, denen i.d.R. nur eines gemeinsam ist: die ‘Machthaber’ fabrizieren halt fortlaufend so ziemlich das Gegenteil dessen, was das ‘Volk’ für ‘Gemeinwohl’ hält. Die Frage, was weshalb von wem wie kritisiert oder verändert gehört, trennt dagegen Leute, die sich selber unter ‘links’ verorten, mehr als es sie vereinen täte.
    Womöglich basiert die Macht der Machthaber wesentlich darauf, dass das devide et impera eine solide materielle Grundlage hat, wogegen das wir der ‘Linken’ ähnlich dem Paradies der Gottgläubigen nur als Ideal erscheint.

  3. @Samson
    Ja, so sehe ich das auch. „Links“ ist zu einem Etikett für enttäuschte Staatsbürger geworden, die dauernd der Politik ihre eigenen Ideale nachtragen.

  4. @Nestor
    Der Witz ist m.E., dass Konkurrenz offenkundig quasi apriori die Daseinsform von Herrschaft ist, weswegen die ‘Machthaber’ ganz gut damit klarkommen, solange sie ihre Macht nicht einbüßen. Die ‘Linke’, wenigstens in den Metropolen, verdrängt dagegen den Gedanken, dass meinetwegen Macht an sich auf Gewalt basiert, ganz egal ob sie retrospektiv als ‘Agreement’ erscheint oder nicht.

  5. Ich kann mir wirklich keine Lösung für Nordirland vorstellen:
    Einerseits soll es keine harte Grenze zum Süden geben, das geht aber nur, wenn Nordirland de facto in der EU bleibt, jedenfalls was das Zollregime anlangt. Da machen aber die Protestanten nicht mit, die stramm zu GB stehen und keinerlei Sonderregelung akzeptieren wollen. Oder Nordirland wird genauso wie Wales oder England austreten, dann sind die Protestanten zufrieden und bei den Katholiken graben die IRA-Fans wieder die Knarren raus. Wie da ein Kompromiss aussehen soll, will mir nicht einfallen.

  6. Ja, das ist eine interessante Nebenfront des Brexit, die wieder der Sinn Fein Auftrieb geben könnte. Man muß da nicht gleich an die IRA und die Knarren denken. Auch in Nordirland ist, wie im Baskenland, der bewaffnete Kampf inzwischen ziemlich out. Sinn Fein hat sich als gemäßigte sozialdemokratische Kraft im vergangenen Jahrzehnt gut positioniert. Die Mehrheitsverhältnisse im nordirischen Parlament könnten sich gewaltig ändern, wenn Sinn Fein für die EU plädiert, und Sonderregelungen für Nordirland fordert.
    Schottland ist auch nicht weg vom Fenster. Die Brexit-Frage gefährdert jedenfalls die Einheit Großbritanniens.
    Ein Grund mehr, alle Entscheidungen in dieser Frage hinauszuschieben.

  7. Die Theresa May hats nicht leicht. 😉
    Manchen ihrer Parteigenossen und Trump macht sie zu viele Zugeständnisse, der EU offenbar zu wenige.
    Ich bin auch neugierig, was es heißt, daß GB „ohne Vertrag austritt“. Da muß dann die EU ganz viel Grenzpolizei an den Ärmelkanal schicken und GB so behandeln wie, hmm, Serbien?
    Gibt es dann eine neue Kontinentalsperre?
    Entdeckt GB möglicherweise Rußland als Handelspartner?
    (Wenn May stürzt und Corbyn kommt – durchaus möglich.)

  8. Der Schaden für die EU wurde 2016 hier bilanziert:
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/brexit#section10
    Auffällig war übrigens, dass die EU direkt nach dem Brexit unter der Parole “Kein Rosinenpicken” – und keine Alternative zu ihr aufpäppeln – einen strikteren Kurs gefahren zu sein scheint als heutzutage.
    Und auffällig ja auch, dass anscheinend D und F militärisch GB viel stärker umwerben – als sonstige Staaten. Zumindestens in Bezug auf ihre Zukunftsprojektionen von einem EU-Militärwesen, von denen niemand weiß, wie ernst es ihnen damit überhaupt ist …

  9. Soweit man bei diesen Brexit-Verhandlungen von „Kurs“ reden kann …
    Es weiß ja bis heute keiner, wie man diese ganzen Abhängigkeiten und Kooperationen entflechten kann. Und will.

  10. Nachdem bis jetzt gar nichts zustandegekommen ist, ist die Warnung matt. Und man weiß ja auch nicht, was dann Schlimmes passieren würde.
    Vielleicht geht alles so weiter wie bisher?

  11. Hier ein Beispiel für die tendenziöse Berichterstattung in den Medien und das Schindluder, das mit Umfragen getrieben wird:
    „Umfrage: Briten für Referendum über Brexit-Bedingungen
    Eine Mehrheit der Briten will über die Konditionen des Brexits abstimmen. Die Brexit-Gegner hätten derzeit wieder eine Mehrheit, so eine Umfrage für die “Times”. …
    In der am Freitag veröffentlichten Erhebung des Instituts YouGov für die “Times” vertreten 42 Prozent der Befragten die Ansicht, es solle ein Referendum über die endgültige Brexit-Vereinbarung zwischen London und der EU geben.
    40 Prozent sprachen sich hingegen dagegen aus. Die übrigen Umfrage-Teilnehmer legten sich nicht fest.“
    Usw.
    https://diepresse.com/home/ausland/eu/5471073/Umfrage_Briten-fuer-Referendum-ueber-BrexitBedingungen
    Ein Referendum wird in Auftrag gegeben, offenbar von Gegnern des Brexit.
    Darin spricht sich eine Minderheit der Befragten für die Abhaltung eines neuen Referendums aus. 42 von 100 sind eben eine Minderheit.
    Daraus wird im Artikel eine „Mehrheit“.
    Dabei haben sie sich nur für die Abhaltung eines neuen Referendums ausgesprochen, nicht gegen den Brexit.
    Daraus wird (nicht nur in der Berichterstattung der Presse, auch in anderen Medien): Das Lager der Brexit-Gegner wächst!
    Schließlich, wieviel Leute wurden befragt? 1000? 5000? 10.000?
    Daraus wird im Artikel: „Die Briten“.
    Und dieser Schmarrn wird quer durch die Medien als Schlagzeile verkauft, als hätte die britische Regierung irgendwie den Brexit abgeblasen.

  12. Es ist offenbar ein Horror für viele Politiker und Medienfritzen, daß das sehr angeschlagene May-Team abtritt und der Brexit dann womöglich mit Labour und Corbyn zu verhandeln wäre.

  13. Allfälliges vom Brexit:
    Die im Falle des Austritts notwendigen Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland würden das Karfreitagsabkommen verletzen, das den nordirischen Bürgerkrieg beendet hat.
    Ansonsten nichts Neues und immer die Drohung eines „brutalen“ Austritts, von dem niemand weiß, wie er ausschauen soll.
    Mir erscheint, die EU spekuliert auf einen Sturz der Regierung May und ein neues Referendum.

  14. Drohgebärden (SZ, 19.10.2018)
    Von Jan Willmroth
    In politischen Verhandlungen ergeben sich die wirksamsten Druckmittel häufig aus vermeintlichen Nischenthemen. Der Handel mit Derivaten ist so ein Thema, und die USA machen gerade deutlich, dass sie dabei keinen Spaß verstehen. Christopher Giancarlo, Chef der US-Regulierungsbehörde CFTC, die den Derivatehandel in den Vereinigten Staaten reguliert, bezeichnete Pläne der EU-Kommission für den Derivatehandel in der Zeit nach dem Brexit, in dieser Woche als “völlig verantwortungslos” und drohte in harten Worten mit Vergeltungsmaßnahmen.
    Es geht dabei um eines der Herzstücke der internationalen Finanzmärkte: zentrale Stellen an Börsen, über die der Handel mit Derivaten abgewickelt wird. Banken oder Unternehmen schließen solche Finanzverträge beispielsweise ab, um sich gegen Währungs- oder Zinsschwankungen abzusichern. Um die Risiken dieser Geschäfte zu minimieren, sind Börsen als sogenannte Clearinghäuser zwischengeschaltet, etwa eine Tochter der Deutschen Börse oder LCH Clearnet bei der London Stock Exchange.
    Geht es nach dem Willen der Kommission, sollen für letztere nach dem Brexit nur noch EU-Aufsichtsbehörden zuständig sein. Bislang war das ein wirksames Druckmittel in den Brexit-Verhandlungen. LCH ist im Derivatehandel weltweit dominant, wickelt mehr als 90 Prozent der in Euro gehandelten Zinsswaps ab. Giancarlo warnt die EU nun davor, den Briten zu irgendetwas zu zwingen, andernfalls könne seine Behörde europäische Banken von der wichtigen Chicagoer Börse abschneiden oder US-Banken den Handel in der EU untersagen. Dass die Drohung zu einer Zeit kommt, in der USA und EU um den Freihandel streiten, ist wohl kein Zufall. Jan Willmroth

  15. Ganz klar ist mir nicht, wie sich die EU-Kommission vorstellt, diese Londoner Clearingstelle zu schließen? auf den Kontinent zu verlegen? ihr Geschäfte zu verbieten?
    Also wogegen wendet sich dieser US-Regulierer?

  16. Offenbar sollen die Futures usw., so verstehe ich die Drohung mit dem Derivatenmarkt, weiterhin über London abgewickelt werden, und nicht über kontinentale Börsen.
    Der Zugang des EU-Finanzkapitals zum Derivatemarkt ist also eine Trumpfkarte GBs bei den Brexit-Verhandlungen.

  17. Der nächste Exit?
    Der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau über die Rechtsstaatlichkeit eskaliert
    Von Reinhard Lauterbach
    Offiziell schwören polnische Spitzenpolitiker Stein und Bein, dass sie Polens Zukunft »in Europa« sähen. Niemand wolle Polen aus der EU herauslösen, erklärt Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Aber im Gegenzug müsse die EU sich ändern, auf die Formel der »immer engeren Integration« verzichten und sich auf eine Rolle als gemeinsamer Markt und freiwilliger Zusammenschluss souveräner Nationalstaaten beschränken. Jaroslaw Kaczynski sagte 2017 gegenüber der FAZ, er sei sehr für eine eigenständige europäische Militärmacht, gern auch mit atomaren Waffen ausgestattet. Ministerpräsident Morawiecki predigte in diesem Frühjahr im Europaparlament von der »Rechristianisierung« Europas als polnischer Mission innerhalb der EU – allerdings vor weitgehend leerem Saal.
    Und der frühere Außenminister Witold Waszczykowski brachte 2016 in einem Interview mit Bild das ganze Ausmaß der Irritation des PiS-Polens über dieses »Europa der Werte« auf den Punkt: Polen lasse sich von keiner EU eine Diktatur der Vegetarier und Radfahrer aufzwingen. Als sein Kollege im Umweltressort, Jan Szyszko, wenig später glaubte, in dem von der UNESCO als Weltnaturerbe ausgewiesenen Urwald von Bialowieza großflächige Rodungen anordnen zu müssen, eskalierte der Konflikt erstmals bis zu einem Rechtsstreit. Und Szyszko knickte ein: Als ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs den Stopp der Rodungen anordnete und hohe Zwangsgelder androhte, wurden die Kettensägen abgezogen.
    Gleichzeitig ist die PiS in wachsendem Maße genervt davon, wie die EU ihre Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit – die für Warschau bedauerlicherweise mehr als nur Vorstellungen sind, sondern Vertragscharakter haben – gegenüber Polen geltend macht. Konnten verschiedene Ermahnungen Brüssels über lange Zeit von der PiS noch ignoriert werden, spitzt sich die Sache aktuell zu. Denn in wachsendem Maße stellen polnische Gerichte förmlich Anträge auf »brüderliche Hilfe« an ihre EU-Kollegen. Sie richten Anfragen an den Europäischen Gerichtshof, ob diese oder jene »Justizreform« Polens eigentlich mit dem EU-Recht vereinbar sei. Und einstweilen setzen sie dann »zur Vermeidung des Eintretens irreversibler Schäden« die Geltung der strittigen Vorschriften aus. Das trifft auf der Ebene juristischer Verfahrensfragen die Justizreform der PiS ins Mark. Justizminister Zbigniew Ziobro beauftragte seinerseits das bereits auf Parteilinie gebrachte Verfassungsgericht damit, zu prüfen, ob solche Anfragen in Brüssel und Luxemburg überhaupt mit der polnischen Verfassung vereinbar seien.
    Andererseits mehren sich inzwischen Fälle, in denen Gerichte anderswo in der EU etwa vor der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen in Polen gesuchte Verdächtige erst einmal anfragen: Liebe polnische Kollegen, ist bei euch eigentlich die Justiz überhaupt noch unabhängig? Das Bezirksgericht im südpolnischen Rzeszow zog sich neulich mit einer listigen Antwort aus der Affäre: Ja, die Richter seien – als Personen – noch unabhängig, aber die staatlichen Bestrebungen, die Kontrolle über die Justiz – als Institution – zu gewinnen, nähmen zu. Jeder weiß natürlich, dass die persönliche Anständigkeit eines Richters nicht das Kriterium sein kann, ob man mit den Gerichten eines Landes kooperiert. Entsprechende Äußerungen sind damit Steilvorlagen dafür, dass ein Gericht irgendwo in der EU den Präzedenzfall schafft, Verdächtige nicht mehr an Polen auszuliefern, weil ihnen kein fairer Prozess sicher sei.
    Jetzt hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg den zugespielten Ball angenommen. Am letzten Freitag, zwei Tage vor den als politischer Stimmungstest geltenden Kommunal- und Regionalwahlen, veröffentlichte er den Text einer einstweiligen Anordnung: Alle Maßnahmen zur personellen Neubesetzung im polnischen Obersten Gericht seit dem 3. April dieses Jahres seien unwirksam und müssten bis zur Klärung in der Hauptsache ausgesetzt werden. Das trifft den Schlussstein des Gewölbes der Justizreform à la PiS – die Gleichschaltung der oberen Gerichtsinstanzen, die dann angesichts der hierarchischen Struktur des Gerichtswesens nach und nach von selbst dafür sorgen soll, dass die unteren Gerichte entweder ebenfalls nur noch linientreue Urteile fällen oder »falsche« Urteile zumindest in den höheren Instanzen aufgehoben werden. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist nur mit viel gutem Willen nicht als Einmischung in den polnischen Wahlkampf zu verstehen. Die Aktion war ja auch durchaus erfolgreich – die Liberalen haben besser abgeschnitten als erwartet, die PiS schlechter als prognostiziert. Und der Regierung hat der Beschluss aus Luxemburg wohl doch einen gewissen Schrecken eingejagt. Man werde das Urteil »sehr genau analysieren«, war die erste Reaktion von Mateusz Morawiecki. Das sagt man, wenn man Zeit gewinnen will.
    Polens Justizminister Zbigniew Ziobro hat sich in seiner Abwehr der Geltungsansprüche von EU-Recht gegenüber dem nationalen Recht Polens auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 berufen. Gemeint ist das sogenannte Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 (2 BvE 2/08). Darin hatte das BVerfG zu entscheiden, wie sich die Geltungsansprüche von EU- und nationalem Recht gegeneinander abgrenzen lassen.
    Der Europäische Gerichtshof hat nach und nach die Tendenz entwickelt, den Geltungsanspruch des EU-Rechts auf Kosten des nationalen Rechts auszuweiten. Es genieße generell »Anwendungsvorrang«, heißt inzwischen die Theorie. Wichtigster Ansatzpunkt ist dabei die Auffassung des EuGH, das EU-Recht richte sich direkt an die Bürger. Wer also als Bürger glaube, nach Maßgabe des EU-Rechts ungerecht behandelt zu werden, könne sich vor Gericht direkt auf EU-Vorschriften berufen. Klassisches Beispiel sind die immer wieder vorkommenden Klagen wegen Diskriminierung im Alltagsleben. Während es zum Beispiel nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch im Rahmen der allgemeinen Vertragsfreiheit jedem Vermieter freisteht, jemandem eine Wohnung nicht zu vermieten, wenn er etwas gegen Leute mit türkischen Wurzeln oder Schwule hat – es geht dabei nicht um die moralische oder politische Würdigung dieser Haltung, denn es geht beim Wohnungsvermieten nicht um Moral, sondern um Geschäft –, können abgewiesene Mieter aus dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot eventuell eine Handhabe ableiten, die ihnen zwar in der Praxis auch nicht zu der Wohnung verhilft, aber vielleicht immerhin zu Schadenersatz.
    Im Unterschied dazu schrieb das Bundesverfassungsgericht 2009 in den Leitsätzen seines EU-Urteils: »Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.« Es beharrt also darauf, dass die Mitgliedsstaaten noch etwas zu sagen haben müssten. Soweit dürfte Ziobro das Karlsruher Urteil von 2009 gefallen. Beide, das Bundesverfassungsgericht 2009 und Ziobro heute, kämpfen aus einer Defensivposition heraus. Die fortschreitende europäische Integration macht die Ebene der Nationalstaaten tendenziell überflüssig. Man kann das politisch unterschiedlich beurteilen, und die inhaltliche Frage, wie Ziobros Reformen zu beurteilen sind, ist damit überhaupt nicht angesprochen. Der polnische Widerstand gegen das Eindringen von EU-Recht in die eigene Rechtswirklichkeit kann aber letztlich nur um den Preis eines Austritts aus der EU aufrechterhalten werden. Oder die PiS gibt doch noch klein bei. (rl)

  18. Die “inneren Feinde” der EU (25.10.2018)
    BERLIN (Eigener Bericht) – Mit Blick auf den Konflikt zwischen Brüssel und Rom um den italienischen Staatshaushalt werden im deutschen Establishment Rufe nach einem entschlossenen Kampf gegen “innere Feinde” der EU laut. Man müsse die Union “jetzt mit aller Kraft verteidigen”, heißt es in einer führenden deutschen Tageszeitung; die italienische Regierungskoalition sei es “nicht wert”, dass “das Schicksal des Landes riskiert wird”. Anlass dafür, die italienische Regierung zur Debatte zu stellen, ist deren Weigerung, weiterhin den deutschen Austeritätsdiktaten zu folgen. Berlins Dominanz in der EU stößt auch in anderen Mitgliedstaaten auf wachsenden Protest. So spitzen sich nicht nur die Auseinandersetzungen mit Polen und mit Ungarn zu. Auch in Frankreich wächst der Unmut über Berlin. Inzwischen ruft der Gründer von La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon, der bei der Präsidentenwahl 2017 mit fast 20 Prozent den Einzug in die Stichwahl nur knapp verpasste, dazu auf, Frankreich “aus allen europäischen Verträgen herauszuführen”. Die deutschen Eliten reagieren mit zunehmender Härte.

  19. Mitte November hieß es: „Aufatmen in Sachen Brexit!“ Die EU und London hätten sich geeinigt und auch alle strittigen Fragen zu Nordirland und Gibraltar ausgeräumt.
    Nur: Was heißt hier „London“? Die Regierungschefin hat etwas unterschrieben, was mit ziemlicher Sicherheit nicht vom britischen Parlament ratifiziert werden wird. Der für den Brexit zuständige Minister ist gleich zurückgetreten.
    Im Grunde hat Theresa May allem zugestimmt, was die Union ihr vorgelegt hat. Das meiste bleibt beim Alten, GB muß einen Haufen Geld zahlen und darf bei nichts mehr mitbestimmen.
    Das wirklich Harte bezieht sich jedoch auf das Territorium des vereinigten Königreiches. Bleibt die Grenze zwischen Irland und Nordirland offen, also de facto Nordirland in der EU, so könnte das einen Abspaltungsprozeß der Problemprovinz auslösen und die Vereinigung mit der Republik Irland wieder von Politikern auf beiden Seiten ins Auge gefaßt werden – was den nordirischen Konflikt wieder aufleben lassen würde.
    Wird die Grenze aber wieder zu einer gewöhnlichen EU-Außengrenze, so widerspräche das den Abmachungen des Karfreitagsabkommens von 1998, das den nordirischen Bürgerkrieg beendet hat.
    Es kämen also im Falle des Brexit auf diese Gegend auf jeden Fall wieder Unruhen zu.
    Die Medien frohlocken bereits, daß vielleicht eine neue Abstimmung angesetzt wird, wenn der von May angenommene Vertrag im britischen Parlament durchfallen sollte.

  20. Inzwischen, einige Verhandlungsrunden später, kann man sagen, daß es keinerlei Fortschritte und Einigung gibt und es sowohl für die EU als auch für GB viel Chaos geben wird, wenn nicht soagr der Bürgerkrieg in Nordirland wieder losgeht.

  21. Der Brexit-Anhänger läßt den EU-Anhänger in diesem Interview sehr alt aussehen.
    Interessant sind seine Aussagen zur Grenze Nordirland-Irland: Er spielt den Schwarzen Peter hier der EU zu. Wenn die hier eine Außengrenze errichten wollen, so sollen sie es doch tun! – meint er.

  22. Neues Protokoll zum Jour Fixe vom 21.01.2019:
    Europas Großmächte konkurrieren um die Zukunft Europas (GS 4-18)
    Der Macron-Rede im ersten Zitat (GS S. 30) sind zwei Auskünfte zu entnehmen: 1. die Auseinandersetzung der europäischen Großmächte hat seinen Bezugspunkt in Trump und seiner Art, die Weltlage zu verändern. 2. Mit den Forderungen Macrons verabschiedet sich Europa von seinem Charakter als ziviler Staatenbund mit Währungsunion, Wirtschaftsverbund usw. Macron macht die Frage auf: was befördert die Weltmacht Europa?
    Von der Währungsunion übers Geld bis hin zur Militärpolitik, all das, was die EU bisher ausmacht, taucht auf, aber unter einem anderen, neuen Gesichtspunkt.:
    Europa wird unter dem Aspekt betrachtet, was es für seine Weltmachtrolle taugt, um der Herausforderung Trump zu begegnen.
    Die Funktionalität des Bisherigen für das europäische Weltmachtprojekt wird in Augenschein genommen: Was taugt der Euro, die Souveränität der Staaten etc. dafür? …
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf190121-konkurrenzzukunfteuropas.pdf
    – Vgl. dazu den o.g. GS-Artikel
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/europas-grosse-gruendungsmaechte-konkurrieren-um-zukunft-ihres-europa#section2

  23. Nun ja. Offen zum Konkurrenten wird die USA nicht erklärt, und die NATO wird auch nicht in Frage gestellt.
    Wieder einmal der komische EU-Spagat von „mit den USA sie übertreffen“. Einholen und überholen.
    Die Verlegenheit der EU-Imperialisten ist groß.

  24. Der Konflikt um die weitere Ausrichtung der nun beschlosenen Bundeswehr-Aufrüstung dreht sich augenscheinlich um die Positionierung der dt. Armee zwischen Frankreich und den USA, zu beiden Seiten hin mit der Befürchtung, dadurch selber nur zum Mittel für französische oder eben US-Pläne zu werden …
    https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/nein-zum-aachener-aufruestungsvertrag/

    “Ein Tornado-Nachfolger muss technisch dazu in der Lage sein oder in die Lage versetzt werden können, amerikanische Atombomben ins Ziel zu tragen..”
    https://www.sueddeutsche.de/politik/ruestungspolitik-die-spd-will-nicht-bei-trump-kaufen-1.4311002

  25. Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, warum die Aufrüstung der Bundeswehr zum Brexit gehört.
    Die findet nämlich völlig unabhängig davon statt.

  26. Da aktuell kein Europa-Thread vorhanden ist,
    landet manches eben hier …

    Stephan Kaufmann erläuterte im “ND” am 12.01.2019
    einige Widersprüche der Politik Macrons
    Nötig, versprach Macron, sei lediglich der pure Wille zur Veränderung. »Das französische Volk hat es immer vermocht, die notwendige Energie, die Urteilskraft und den Willen zur Eintracht aufzubringen, um den tiefgreifenden Wandel zu vollziehen«, warb Macron. »Wir sind Opfer unserer eigenen Untätigkeit.« Konsequentes Handeln war also gefragt, um die Dynamik zu entfesseln. »Es braucht junge Franzosen, die Lust haben, Milliardär zu werden.«
    Der Franzose machte damit wirtschaftlichen Erfolg zu einer Frage der richtigen Einstellung nach dem Muster: Wer will, der schafft es. Das sollte für das Land wie für den Einzelnen gelten: »Wenn ich Arbeitsloser wäre, würde ich nicht erwarten, dass die anderen alles tun, ich würde erstmal versuchen, alleine klarzukommen«, rief Macron den Arbeitslosen zu.
    Heute dagegen ist das Wunderkind entzaubert: Frankreichs Wirtschaft ist eher schwach, die Arbeitslosigkeit hoch, die Bevölkerung protestiert. Dabei hat Macron nach herrschender Lehre alles richtig gemacht. Er hat die Kündigungen vereinfacht, die Gewerkschaften entmachtet und den Druck auf Arbeitslose erhöht. Das freut die Unternehmer, ebenso wie die Senkung der Kapitalsteuern.
    Doch ist wirtschaftlicher Erfolg nichts, was man einfach per Gesetz erlassen kann. Mit seiner Politik verbesserte Macron zwar die Bedingungen »für jene, die den Reichtum schaffen«, womit der Präsident die Investoren meint. Doch sind Löhne, Steuern und Abgaben nur die Bedingungen des Erfolgs. Ob sich daraus ein Aufschwung entwickelt, hängt an der Stellung Frankreichs im Vergleich zu den Konkurrenten in Europa, Amerika und Asien. Das belegen alle Probleme, die Frankreich attestiert werden: Seine Steuern, seine Löhne gelten als zu hoch – aber nur, weil sie in Deutschland, den USA und China niedriger sind.
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109817.emmanuel-macron-die-machtlosigkeit-des-superhelden.html

  27. Macron hat’s auch nicht leicht. Alle erwarten von ihm, als eine Art EU-Statthalter, daß er den Karren Frankreich wieder flott kriegt, durch bewährte Rezepte der Volksverarmung. Und dann klappt das nicht, und obendrein wehren sich seine Untertanen dagegen.

  28. Na ja, man vergesse nicht, das ist eigentlich kein Europa-Thread hier, sondern es geht eigentlich um den Brexit. Also mein Interesse, mich hier argumentativ zu engagieren, hat seine Grenzen.
    Den einen Satz von Kaufmann möchte ich allerdings nicht unwidersprochen lassen, weil er sehr typisch für eine gewisse fade, aber sehr übliche Art von Kritik ist:
    „Da sie gleichzeitig keine echte Umverteilung von Reich zu Arm starten wollen, setzen sie auf höhere Neuverschuldung.“
    Das klingt so, als wäre eigentlich die „Umverteilung“ die Lösung von dem Problem. Abgesehen davon, daß eh niemand weiß, wie die gehen soll – Enteignung, Spekulationsverbot, oder doch bloß höhere Steuern für die Reichen? – so liegt das wirkliche Problem von Regierungen wie Macron in der nationalen Kapitalakkumulation, modern „Wachstum“, dessen Ausbleiben nur durch Sparen oder höhere Verschuldung ersetzt werden kann.

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