Überlegungen zum Coronavirus – 6.: Italiens Gesundheitswesen

WARUM ITALIEN? – TEIL 6
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
1. Gesundheit
Was als „Gesundheit“ angesehen wird, hängt von der Gesellschaft ab, in der man lebt.
Die alten Griechen trieben Sport, um fit für den Krieg zu sein. Gesund war, wer seine Feinde aufgrund seiner körperlichen Verfassung bezwingen konnte, und diesem Ziel war zumindest die körperliche Betätigung untergeordnet.
In den indigenen Gesellschaften gab es Medizinmänner, die mit Wissen über Pflanzen und Rauschzustände dafür sorgten, daß der Stamm halbwegs fit für Jagd, gegebenenfalls Ackerbau, und Reproduktion blieb.
In der heutigen Marktwirtschaft ist das Wichtigste, daß jemand arbeitsfähig ist. Sowohl nach körperlicher als auch nach geistiger Verfassung wird das Individuum dazu erzogen, sich an seinem Arbeitsplatz zu bewähren. Das heißt, daß sich bereits Kinder oder Jugendliche darauf vorbereiten sollen, andere gegebenenfalls auszustechen – im Sport, bei schulischen Leistungen, im Ergattern eines Partners. Gesund sein im weitesten Sinne heißt: bestmöglich gerüstet für die Konkurrenz.
Die Volksgesundheit, die modernen Staaten ein Anliegen ist, soll den ganzen Volkskörper möglichst für dieses Ziel befähigen. D.h., möglichst viele Individuen sollen nach dem Ideal der Gesundheitspolitiker möglichst sportlich, ehrgeizig und fleißig sein, um die möglicherweise nicht so gut vorbereiteten Untertanen fremder Herrschaften auf allen Gebieten – Kultur, Produktivität, Sport, usw. – auszustechen. Dieses Ziel geht auch in Form rassistischer Witze über andere Nationen in das Denken der jeweiligen Staatsbürger ein.
Der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Art von Gesundheit dienen die Bildungseinrichtungen eines Landes und das Gesundheitssystem. Wenn letzteres untersucht wird, sollte man sich jedenfalls vor Augen halten, wie die Gesundheit definiert wird: Nicht als allgemeines Wohlbefinden, Abwesenheit von Krankheiten und Schmerzen und allumfassende Fertigkeiten, Geschicklichkeit und Frohsinn, sondern um die Funktionalität für die kapitalistische Klassengesellschaft.

2. Das Gesundheitssystem
a) Gesundheit im Sozialismus

Als der junge Medizinstudent Ernesto Guevara in den Ferien mit dem Motorrad durch Lateinamerika fuhr, fielen ihm bei den Leuten, die er kennenlernte, Bergarbeitern in der Atacama-Wüste oder Leprakranken in Ecuador, zwei Dinge auf: Erstens, daß unser Gesellschaftssystem Leute krank macht, vernutzt und Schäden und Gefahren aussetzt, weil es hier wie dort legal ist, daß die Reichen die Armen ausnützen, für sich arbeiten lassen und so noch reicher werden.
Zweitens, daß diesen solcherart Beschädigten dann auch noch wegen ihrer Armut die ärztliche Hilfe verweigert wird und im 20. Jahrhundert Menschen an Krankheiten leiden und sterben, die längst heilbar sind.
Er zog daraus den Schluß, daß er an dieser Gesellschaftsstruktur etwas ändern will, und sich nicht damit abfinden will, als Arzt diejenigen zu betreuen, die sich das eben leisten können.
Er wollte eine Gesellschaft errichten, in der Leute erstens nicht mutwillig krank gemacht, und zweitens ihre Krankheiten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geheilt werden.
Auf diesen beiden Prinzipien beruht das heutige kubanische Gesundheitssystem, das in diesen schweren Zeiten als besonders vorbildlich hervorsticht und Ärzte-Brigaden in die Zentren des Kapitalismus schickt, weil deren Gesundheitssysteme mit dem Coronavirus nicht mehr fertig werden.
b) Gesundheit im Kapitalismus
Der fundamentale Unterschied unseres Gesundheitssystems zum kubanischen besteht darin, daß Punkt 1 nie angedacht wurde. Das sehr gerühmte sozialstaatliche Gesundheitssystem Mitteleuropas beruht auf der Überzeugung, daß die Leute die Arbeit, die Umweltverschmutzung, den Streß und die Konkurrenz aushalten müssen, zumindest mehrheitlich.
Die Denkmäler dieser Auffassung sind Berufskrankheiten und Grenzwerte.
Bei ersteren ist anerkannt, daß gewisse Berufe krank machen. Diese Art von Beruf wird aber nicht eliminiert, oder so umgestaltet, daß er der Gesundheit nicht schadet. Die bereits Erkrankten werden, wenn sie Glück haben und ihre Beschädigung anerkannt wird, mit einer Invalidenrente ausgestattet.
Bei Grenzwerten wird festgestellt, daß verschiedene Stoffe nachteilige Folgen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Sie werden aber nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern lediglich mengenmäßig beschränkt.
Eine Kritik an unserem Gesundheitswesen lautet, daß sie Symptome behandle, nicht Ursachen. Das ist zwar nicht immer richtig, hat aber natürlich in der Ausgangslage des ganzen Gesundheitswesens ihre Grundlage. Eigentlich könnten viele Ärzte angesichts der Lage ähnlich Schlüsse ziehen wie Che Guevara, aber irgendwie scheint sich diese Denkweise nicht so richtig durchzusetzen.
Ein schönes Beispiel für den Zustand unseres Gesundheitswesens ist die Krebsforschung. Es sind alle möglichen Stoffe bekannt, die krebsfördernd wirken. Die werden eben dann beschränkt und mit Grenzwerten versehen.
In andere Richtungen – wie sehr der Streß, die Existenzangst, das Mobbing, andere Formen der Konkurrenz und die zeit- und geldbedingte Mangelernährung breiter Volksmassen zur Folge haben, daß einige Zellen im Körper einfach kippen und zu Killern werden – wird gar nicht geforscht. Stattdessen suchen gutdotierte Institutionen nach Mitteln, diese Killerzellen wiederum zu killen. Auch alle Folgekosten, wie Chemotherapie, Rehab und Frühpensionierungen und Invalidenrenten, werden vom Gesundheitssystem in Kauf genommen. So sieht eben die Reparaturarbeit in unserer Gesellschaft aus.
Dem Gesundheitswesen entstehen außerdem beachtliche Kosten nicht aus der großartigen Entlohnung der dort Angestellten – viele Berufe im Gesundheitswesen streifen bereits die Prekariatsgrenze –, sondern daraus, daß die pharmazeutische und sonstige Medizinindustrie auch ihre Kosten kommen soll. Gerade solche Staaten leisten sich ein flächendeckendes Krankenhausnetz und behandeln ihre Bevölkerung großzügiger als andere Staaten, die damit auch ihrer Medizinindustrie eine zahlungsfähige Nachfrage und daneben ein Experimentierfeld für neue Behandlungsmethoden und Medikamente sichern.
Man kann das Gesundheitssystem unter diesem Gesichtspunkt durchaus auch als eine Art Standort- und Wirtschaftsförderung betrachten.
Wenn also die Neoliberalismus-Kritiker rufen: „Gesundheit darf kein Geschäft sein!“ und eine höhere Dotierung dieses Sektors fordern, so übersehen sie sehr geflissentlich, welchen Geschäften das ganze Gesundheitssystem von Anfang an dient: Sowohl den gesundheitsschädlichen nämlich als auch den heilenden.

3. Das Gesundheitswesen Italiens

„Zu Beginn der 1970er Jahre gab es in Italien noch rund 100 Krankenkassen. Dieses System wurde 1978 mit Einführung des nationalen Gesundheitsdienstes abgeschafft. Mit einem einheitlichen Leistungsangebot wollte die Regierung dem starken Gefälle zwischen reichem Norden und armen Süden entgegenwirken. In der Praxis hat dies nicht so ganz funktioniert, sodass es mittlerweile bereits vier größere Reformen gab.“ (Krankenkassenvergleich)
Ein Ergebnis dieser Reform von 1978 ist, „dass die medizinische Grundversorgung für alle Bürger kostenlos ist.“ (ebd.)
Was als Grundversorgung definiert, und was darüber hinaus geleistet ist, hängt von der Dotierung der Spitäler ab, und das wiederum hat mit dem Steueraufkommen derjenigen Region zu tun, in der sich die medizinische Einrichtung befindet.
Was im Mezzogiorno in medizinischen Einrichtungen als Grundversorgung angeboten wird, unterscheidet sich daher aufgrund der finanziellen Mittel sehr von Regionen wie Rom oder den reicheren Provinzen des Nordens. Die wirtschaftliche Entwicklung Italiens spiegelt sich also in der Ausstattung seiner Krankenhäuser, und auch in der Anzahl derselben: „Auf lokaler Ebene gibt es die Unita Sanitarie Lokale (USL). Pro USL werden zwischen 50.000 und 200.000 Einwohner betreut.“ (ebd.)
Man kann sich also vorstellen, was in solchen USL (= Krankenhaus, Notfallambulanz oder auch nur Ordination) los ist, wenn auf einmal massenhaft Leute krank werden.
„37,5 Prozent der Kosten werden mit Steuergeldern finanziert. Weitere 40,8 Prozent stammen aus den Versicherungsbeiträgen, die komplett vom Arbeitgeber übernommen werden.“ (ebd.) Der Rest kommt aus Selbständigen-Beiträgen und Selbstbehalten – für Medikamente oder Behandlungen, die über die Grundsicherung hinausgehen.
Dieses italienische Gesundheitswesen funktionierte zu Zeiten der Scala Mobile bis 1992, als die Gehälter hoch waren, halbwegs gut. Erstens war die allgemeine Gesundheit besser, zweitens war der Altesdurchschnitt niedriger, und auch die Steuern und Abgaben deckten die Anforderungen des Gesundheitswesens besser ab.
Sogar 8 Jahre später, nach sehr großen Veränderungen in Sachen Arbeitsmarkt, individuelle Einkommen und Abgaben erhielt Italien ein großes Lob der WHO: „Trotz der regionalen Unterschiede stand das Gesundheitssystem Italiens im Jahr 2000 an zweiter Stelle der Weltrangliste der Weltgesundheitsorganisation … Italien gibt knapp 10 Prozent seines BIP für das Gesundheitswesen aus und liegt damit im OECD-Durchschnitt.“ (Wikipedia, Servizio Sanitario Nazionale)
Als die Finanz- und Eurokrise die Eurozone erschütterte, trat die Regierung Berlusconi zurück, nachdem sie bereits das erste von EU-Beamten in Brüssel verordnete Sparpaket unterzeichnet hatte. Ihm folgte der Wirtschaftswissenschaftler Mario Monti als Übergangspräsident. Obwohl er gar nicht gewählt, also nach der italienischen Verfassung gar nicht zu solchen einschneidenden Maßnahmen berechtigt war, setzte er weitere Sparmaßnahmen durch. Die betrafen auch das Gesundheitswesen: „Unter anderem sollen 50 der insgesamt 100 Provinzverwaltungen verschwinden; im Gesundheitswesen sollen mittelfristig 18 000 Krankenhausbetten wegfallen.“ (Tagesspiegel, 7.7. 2012)
„Wegfallen“ – das klingt ganz so, als seien diese Betten bisher überflüssig gewesen, ein reines Dekor sozusagen.
Weitere Einsparungen nahm sich 3 Jahre später die Regierung Renzi vor: „Italiens Gesundheitswesen wird milliardenschweren Sparmaßnahmen unterzogen. Einsparungen in Höhe von zehn Milliarden Euro stehen dem Gesundheitssektor in den kommenden fünf Jahren bevor. … Schon im kommenden Jahr will die Regierung 2,3 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben kürzen. Die Einsparungen werden jedoch nicht die Dienstleistungen für die Bürger belasten, versicherte Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin. … Maßnahmen seien auf lokaler Ebene mit Hilfe der Regionen geplant. Kleinere Krankenhäuser sollen geschlossen werden. … Der Präsident des Veneto, Luca Zaia, meinte, in seiner Region seien nach den beträchtlichen Einsparungen der vergangenen Jahre keine weiteren Ausgabenkürzungen mehr möglich.“ (Salzburger Nachrichten, 29.7. 2015)
Das solchermaßen verkleinerte Gesundheitswesen Italiens mit überlastetem Personal, das aufgrund der Kürzungen seit 2012 eigentlich schon seit Jahren an der Grenze seiner Kapazitäten operiert, setzte ähnlich wie die Ärzte und Spitäler in den USA auf Entlastung: Statt aufwendiger stationärer oder auch ambulanter Behandlungen verschrieben die Ärzte vor allem älteren Patienten und solchen mit chronischen Krankheiten lieber Medikamente und schickten sie nach Hause.
Damit schufen sie eine zusätzliche Verschärfung der Situation, weil diese Patienten waren wenig widerstandsfähig, als das Coronavirus bei ihnen anklopfte.
Fortsetzung (Bonus Track): Der Smog

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise

EIN GELDREGEN FÜR DIE ARMEN? GESCHENKE FÜR DIE REICHEN?
Während auf der einen Seite mit einer Mischung aus Beschwichtigung, Kontrolle, Verordnungen und Panik an der medizinischen Bewältigung des Coronavirus gearbeitet wird, machen sich die Politiker auch Gedanken um den Fortgang von Geschäft und Gewinn. Wenn nämlich Betriebe zusperren, Leute nach Hause geschickt werden, die Arbeitslosigkeit steigt und die Umsätze stagnieren, so ist mit der Produktion des abstrakten Reichtums gleichzeitig der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang in Frage gestellt.
Hier soll es bei den Postings darum gehen, was für ökonomische Folgen die Stillegung des öffentlichen Lebens hat, und wie darauf reagiert wird.
Neben Aufrufe an Freiwillige und Zwangsverpflichtung von Reservisten und Wehrpflichtigen werden Hilfen für die Wirtschaft erwogen, wobei niemand eine Ahnung hat, wie die aussehen sollten und wie sie ausgezahlt werden sollen.
Derweil krachen die Börsen und jede Menge Geld, also abstrakter Reichtum wird vernichtet, was nicht ohne Folgen auf die Währungen und Notenbanken bleiben wird.
Die Bewältigung der Krise heizt die Konkurrenz der Nationen an.

Pressespiegel: Rebelión, 5.2.

ARGENTINIEN IST IN DER SCHULDENFRAGE NICHT NACH SCHERZEN ZUMUTE

Es besteht kein Zweifel, dass alles, was mit der eingeforderten Schuld verbunden ist, schwerwiegend ist. Sie ist verhaßt, unrechtmäßig, unerträglich und kann niemals getilgt werden. (1) Die Regierung hat dieses Thema zum wichtigsten und – neben dem Thema Hunger – vorrangigen Thema ihrer Tagesordnung gemacht. Jeder, der mit Ämtern zu tun hat, kann das wahrnehmen. Alle wichtigen Pläne, Programme und Sprachregelungen scheinen von der Lösung dieses Problems abhängig zu sein.
Der Gesamtbetrag der angeblichen Schulden beläuft sich auf rund 100 Milliarden US-Dollar (2), verteilt auf Schulden internationaler und privater Organisationen. In diesem Rahmen will die Regierung zahlen, indem sie Verbesserungen auf drei Ebenen anstrebt: Zinsen (niedriger), Fristen (länger) und Streichungen (vom Gesamtbetrag). Das ist es, was sie für machbar im Sinne von „wachsend zahlen“ (3) hält.

Um sich auf diesem schwierigen Terrain nicht zu verirren, sind in diesem Szenario vier Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Die Fristen der Verhandlungen; mögliche Fallen, die dort gestellt werden können; die auftretenden Gegensätze und die einzuschlagende Regierungspolitik.

1. Fristen
Die Regierung selbst hat festgesetzt, daß die Verhandlungen bis Ende März abgeschlossen sein müssen. Der Grund dafür ist, daß nachher Zahlungen fällig wären, die für die argentinische Staatskasse nicht zu bewältigen sind.
Können die Verhandlungen bis dahin abgeschlossen werden, so herrscht für beide Seiten Klarheit. Wenn nicht, so haben beide Seiten – Argentinien und seine Gläubiger – ihre jeweiligen Grenzen aufgezeigt. (4)
Gelingt keines von beiden, so ist zu untersuchen, welche Folgen die Einstellung von Zahlungen auf Land und Leute und die wirtschaftliche Entwicklung haben würde. (5)
Nach der Logik, der die Regierung folgt, würde also im April ihr Wirtschaftsprogramm in Angriff genommen. Das hat einige Widersprüche, da die finanzielle Situation Argentiniens ungeklärt ist.

2. Das Stellen von Fallen bei den Verhandlungen
Betrug und Täuschungsmanöver sind in heimischen Kartenspielen üblich und lassen sich auch in dieser Frage beobachten, sodaß gar nicht klar ist, was die genauen Verhandlungspositionen sind. Die Verhandlungspartner spielen falsch – mit der Zukunft von Millionen von Argentiniern, und letztlich von uns allen.
Den Betroffenen dieser Verhandlungen, die von selbigen ausgeschlossen sind, bleibt nur der Protest auf den Straßen. (6)
Es ist wahrscheinlich, daß diese Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu unerfreulichen Ergebnissen für die Bevölkerung des Landes führen werden.

Hier sei an die Worte von Joseph Stiglitz erinnert, – der Nobelpreisträger, ehemaliger prominenter Mitarbeiter der Weltbank und Mentor des derzeitigen argentinischen Finanzministers Martín Guzmán, der in diesen Verhandlungen die argentinische Delegation anführt.

In Anspielung auf die jüngsten Proteste in Ecuador, Kolumbien und vor allem in Chile meinte er, „das Überraschende sei, daß sich die Unzufriedenheit erst mit solcher Verspätung äußert“.
Die Regierung seines Schülers sollte das nicht vergessen.


3. Auftretende Widersprüche bzw. Gegensätze
Bisher haben Alberto Fernández und Cristina vorsichtig Konflikte vermieden und sich als geschlossener Block präsentiert.
Die Frage der Schulden droht jedoch dieses fragile Gleichgewicht zum Kippen zu bringen. Einige Fakten der jüngsten Vergangenheit weisen darauf hin, daß es innerhalb der Regierungspartei größere Gegensätze gibt als zwischen Regierung und Opposition.
Kürzlich haben mit 3 Ausnahmen alle Parlamentsabgeordneten für die „Wiederherstellung der Nachhaltigkeit der Auslandsschuld“ ausgesprochen. In dieser Frage herrscht also bemerkenswerte Einigkeit zwischen Regierung und Opposition. (7)

Während also mit der Opposition in dieser Frage Einigkeit herrschte, gab es innerhalb der Regierungspartei Zwist. Es war der Gouverneur von Buenos Aires, Axel Kicillof, der sich widersetzte und verkündete, ohne finanzielle Unterstützung aus der Staatskasse seine am 28. Jänner fälligen Zahlungen an die Gläubiger der Provinz nicht zahlen könne. (8)
Er versuchte Fristverlängerungen in den Verhandlungen mit den Gläubigern zu erreichen, aber es gelang nicht.

Aus dem Umfeld von Wirtschaft und Präsidentschaft wird versucht, dieses Problem herunterzuspielen und darauf hinzuweisen, dass es sich um eine vereinbarte Strategie handeln könnte. Es wächst jedoch der Eindruck, dass die Provinz Buenos Aires eine andere Vorgehensweise bei der Lösung des Schuldenproblems verfolgt. Schließlich ist Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner die unmittelbare Vorgesetzte von Kicillof. (9)
In diesem Zusammenhang rief auch die kürzliche Israelreise Kicillofs und sein Abendessen mit Netanyahu Kritik in kirchnerschen und anderen Kreisen hervor. Es entsteht der Eindruck, daß er sich israelische Fürsprache in den USA für die Verhandlungen mit dem IWF und privaten Anleihenbesitzern sichern will, offenbar im Gegenzug für die Unterstützung Argentiniens für den zwischen Israel und den USA abgeschlossenen „Jahrhundert-Deal“ zur Zurückdrängung der Palästinenser. (10)

4. Regierungskurs und andere Entwicklungen
Der IWF scheint das „Spiel“, das Argentinien vorschlägt, zu akzeptieren oder daran beteiligt zu sein, und hat gerade angekündigt, dass das Land – angesichts der bestehenden „Unsicherheiten“ – bis April vom Report über Ausblicke für Lateinamerika und die Karibik ausgenommen wurde. (11) Innerhalb dieser „Unsicherheit“ unternimmt die Regierung einige Schritte, die den zukünftigen Kurs markieren sollen.
Die Regierung bekräftigt ihren Kompromiß mit der westlichen Welt unter Führung der USA. (12) Obwohl angenommen werden kann, dass dies Teil ihrer Strategie in Bezug auf den IWF und die „Verschuldung“ ist, gibt es Fakten, die diesen Charakter überschreiten und die künftigen Entwicklungen gefährden. (13)
Bezüglich der Schulden gibt es den oben erwähnten Beschluß der Abgeordneten, die Schuld auf jeden Fall anzuerkennen und zu bedienen. Die Rechtmäßigkeit der Forderungen wird außer Frage gestellt und die argentinische Regierung unterwirft sich in strittigen Fällen den ausländischen Gerichten.
Hier fällt das dröhnende Schweigen verschiedener sozialer Organisationen auf, die glauben, die drückenden Schulden, die auf der gesamten Bevölkerung lasten, durch guten Beziehungen zur Obrigkeit abschütteln zu können.

Ebenso wurde mit einer Mehrheit ähnlich wie bei der Abstimmung der Schulden eine Genehmigung für die Anwesenheit ausländischer Truppen und den Verlegung nationaler Streitkräfte zur Teilnahme an den Übungen, die im Programm für kombinierte Übungen vorgesehen sind, bis zum 31. August genehmigt 2020. Dem radikalen Block zufolge sind dies bereits 18 Militärübungen. (14)
Jeder, der es herausfinden möchte, kann sich über die engen Beziehungen zwischen diesen Operationen und den von den USA geförderten Putschen informieren.
Eine gemeinsame Operation mit den US-Marines in Gewässern des Südatlantiks, in denen sich die argentinischen Falklandinseln befinden, die nach wie vor von den mit den USA in der NATO verbündeten Briten besetzt sind, ist in diesem Rahmen ebenfalls möglich.

Der gegenwärtige Regierungskurs dürfte schwerlich mit den souveränen Interessen unserer Völker und der Region vereinbar sein.

Rebelión, 5.2.
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(1) Zum Begriff der „odious debt“ siehe hier.

(2) Hier scheint sich der Verfasser auf unmittelbar anstehende Schulden zu beziehen. Die Außenstände Argentiniens sind viel höher, offiziell 300 Millionen, aber möglicherweise gibt es auch viel verborgende Schuld, die durch Sonderklauseln bei Schuldaufnahmen auch noch irgendwo auftauchen wird.

(3) Damit ist gemeint, die Schuld zu bedienen und dennoch Wirtschaftswachstum zu erzielen. Der Schuldendienst soll also das Wachstum nicht übersteigen. Bei der Schuld Argentiniens ist das unmöglich.

(4) Hier wird etwas Zweckoptimismus an den Tag gelegt. Die Gläubiger sind natürlich auch Konkurrenten, sie bilden keine einheitliche Gruppe. Die Schulden Argentiniens verteilen sich auf jede Menge verschiedene Banken, Hedgefonds, private Anleihen-Halter und den IWF selbst.

(5) Die argentinische Regierung droht also offen mit einem neuerlichen Zahlungsstopp. „Wir können auch anders!“ sagen sie. Die Einstellung des Schuldendienstes 2002 hatte üble Folgen für Argentiniens Bevölkerung, aber auch die Maßnahmen der Schuldenzahlung unter Macri haben ähnliche Folgen gehabt: Hunger in einem Land, das seit langem ein großer Agrarexporteur ist.

(6) In diesem Zusammenhang sollte man sich daran erinnern daß es die Proteste auf der Straße waren, die zum Sturz des Präsidenten De La Rua im Jahr 2001 führten und damit den Bankrott Argentiniens 2001/2002 auslösten.

(7) Diese Einigkeit wurde aber relativ billig hergestellt, da dieser Beschluß eine Leerformel darstellt. Was heißt denn „Nachhaltigkeit“ in Schuldfragen, noch dazu bei einer solchen Überschuldung wie in Argentinien? Gemeint ist offenbar, daß eine Zahlungsunfähigkeit, ein „default“, auf jeden Fall vermieden werden soll. Das wiederum läuft darauf hinaus, sich den Bedingungen des Währungsfonds auf jeden Fall zu beugen.

(8) Hier zeigt sich ein Erbe der Ära Macri: Um im Parlament eine Mehrheit für die Wiederaufnahme des Schuldendienstes für die Altschuld zu erreichen, gewährte Macri den Provinzen eigene Verschuldungsfähigkeit, und ein munteres Schuldenmachen setzte ein, dessen gesamte Ergebnisse nach Schuldsumme, Zinszahlungen und Zahlungsfrist noch nicht einmal alle erfaßt sind.
Kicillof erbte die Schuld seiner Vorgänger und setzte jetzt die Regierung unter Druck, wieder die Verantwortung für die gesamte öffentliche Schuld zu übernehmen, was natürlich die Verhandlungen erschwert, weil immer mehr Schulden-Leichen im Keller auftauchen.

(9) Axel Kicillof ist ein keynesianisch orientierter Ökonomieprofessor, der in der Regierung Kirchner von 2013 bis 2015 Finanzminister und damals eine der Triebkräfte der abweisenden Verhandlungen mit den „Geierfonds“ war.

(10) Es ist unwahrscheinlich, daß Netanyahu in dieser Frage viel ausrichten kann. Außerdem berührt diese Frage die Außenpolitik Argentiniens, die möglicherweise anderen Prioritäten folgt. Kicillof kann darüber gar nicht entscheiden, und es ist anzunehmen, daß Netanyahu das auch weiß. Sehr viel wurde mit dieser Goodwill-Reise also nicht ausgerichtet.

(11) Diese Entscheidung, zu Argentinien für die nächsten 2 Monate nichts zu verlautbaren, erhöht die Unsicherheit, denn der IWF stuft natürlich damit das Land als unsicheren Kantonisten ein. Andererseits ist das natürlich keine Überraschung – niemand weiß, wie Argentinien seine Schulden stemmen wird, und es ist übrigens fraglich, ob im April diesbezüglich mehr Klarheit herrschen wird.

(12) Diese Beobachtung bezieht sich wohl vor allem auf die Haltung gegenüber China und der BRICS-Gemeinschaft, die unter Kirchner die bevorzugten Handelspartner und Gläubiger Argentiniens waren.

(13) Hierbei handelt es sich um Verpflichtungen, die gegenüber diesen Staaten – China und BRICS – eingegangen wurden und die die argentinische Regierung nicht ohne weiteres ad acta legen kann. Es geht vermutlich um Lieferverpflichtungen für Rohstoffe als Zahlung früherer Kredite.

(14) Hier scheint es sich um Manöver zusammen mit US-Streitkräften zu handeln, eine Art Plan für den Hinterhof, zur Niederhaltung widerspenstiger Regierungen oder Protestbewegungen. Die Regierung Macri scheint diesbezüglich einiges in die Wege geleitet zu haben, denen sich die jetzige Regierung nicht entziehen will. So werden eventuell Schuldenmoratorien an Interventionen in mißliebigen Staaten gekoppelt.
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Das sind ja schöne Perspektiven. Teil einer Interventionstruppe zu sein, um vom IWF Kredit zu erhalten.
Man wird sehen, wie sich dieses System von Abhängigkeiten und Erpressungen entwickelt.

Siehe auch bisherige Beiträge zu Argentinien:

ARGENTINIEN; SEIN PRÄSIDENT UND SEINE SCHULDEN – 19. Juni 2019
DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE – 26. September 2018
ARGENTINIEN BITTET DEN IWF UM KREDIT – 11. Mai 2018
RICHTUNGSWECHSEL IN ARGENTINIEN: MAURICIO MACRI, EIN HELD AUF ABRUF – 31. Januar 2016
FLEUNDSCHAFT! – 15. August 2015
DER COUNTDOWN LÄUFT – 11. Juli 2014
usw.