LEBENSMITTELVERNICHTUNG
Die Medien, sogar einige russische, vor allem aber westliche, sind empört: In einem Land, wo „22 Millionen Russen unterhalb der Armutsgrenze leben, … wovon 80 % Familien mit Kindern sind,“ (El País, 7.8.) werden doch glatt Lebensmittel in großem Stil vernichtet. Anstatt sie wenigstens Waisenhäusern zu geben. Im Standard wird sogar der „Kommunistenführer“ Gennadij Sjuganow als Kronzeuge des Humanismus zitiert, „der vorschlug, konfiszierte Lebensmittel doch besser an Kirchen, Bedürftige oder die Bevölkerung in den Rebellengebieten im Donbass zu verteilen.“ Sonst wird Sjuganow eher als Politkasperl dargestellt, der außer ein paar Pensionisten kaum Anhänger für seine weltfremde Sowjetnostalgie um sich versammeln kann. Aber hier kommt er als Putin-Kritiker und Menschenfreund gerade recht.
Es ist schon eigenartig: in einem Wirtschaftssystem, in dem klar ist, daß alles auf der Welt nur für den Verkauf hergestellt wird, und wo regelmäßig entrüstete Berichte über die von den Supermärkten weggeworfenen Lebensmittel veröffentlicht werden, ist die Lebensmittelvernichtung in Rußland ein mittlerer Skandal.
Auch daß es in Rußland arme Menschen gibt, wird in diesen Berichten irgendwie als eine weitere Gemeinheit von Putins Regierung hingestellt. Die zunehmende Armut in Griechenland hingegen ist leider leider! marktwirtschaftlich notwendig und geht daher völlig in Ordnung. Selber schuld, hätten sie nicht vorher Party gemacht, jetzt müssen sie die Zeche zahlen.
Seinerzeit, in den 90-er Jahren unter Jelzin, waren Armut und Elend in Rußland kaum Thema in den Leitmedien, sie galten als Ergebnis schmerzlicher, aber unbedingt notwendiger Reformen auf dem Weg zur Marktwirtschaft.
Die russische BBC-Website erinnert zumindest daran, daß z.B. in Frankreich ständig von Bauern Lebensmittel vernichtet werden, um gegen den Verfall der Preise zu protestieren. Daß es in den USA gerade in der Big Depression unter Roosevelt im Rahmen des New Deal massenhaft zur Vernichtung von Lebensmitteln kam.
Diese Lebensmittelvernichtungs-Aktionen dienen einerseits dem Funktionieren des Marktes und der Geschäftskalkulation. Es geht oder ging darum, Landwirtschaft aufrechtzuerhalten, um einen Nährstand zu erhalten. Die Lebensmittelvernichtungen und Stillegungen des New Deal schufen die Grundlage des Agrarkapitalismus in den USA, weil stabile bzw. steigende Lebensmittelpreise den Agrarsektor für das Kapital attraktiv machten.
Vernichtung von Waren, um Preise in die Höhe zu treiben, gehört zum kapitalistischen Geschäft dazu. Die Stillegungsprämien der EU, die die agrarische Produktion drosselten, um nicht bereits produzierte Lebensmittel vernichten zu müssen, dienten auch diesem hohen Ziel.
Bei den Lebensmitteln ist besonders augenfällig, wie sehr jedes Bedürfnis nur vom Standpunkt der Zahlungsfähigkeit interessiert, und gegebenenfalls auch negiert wird, wenn es dem geschäftlichen oder auch dem übergeordneten nationalen Standpunkt zuwiderläuft.
Auch darum geht es in Rußland, aber es geht auch um mehr: es soll klargestellt werden, daß der Entschluß der russischen Regierung, die gegen Rußland verhängten Sanktionen ihrerseits mit Einfuhrverboten zu beantworten, ernst gemeint und unwiderruflich ist. Diese Botschaft soll erstens im Inland vernommen werden – Umdeklarieren und Einschmuggeln von EU-Lebensmitteln ist nicht nur ein Gesetzesverstoß, sondern eine Art Hochverrat. Das wird Importeuren, Grenzbeamten und dem russischen Handelskapital mit diesen Scheiterhäufen und Bulldozer-Plattmachungen zur gefälligen Kenntnisnahme übermittelt.
Zweitens hat diese Aktion auch Adressaten außerhalb der Landesgrenzen: der EU in allen ihren Abteilungen wird hiermit signalisiert, daß Rußland den ihm hingeworfenen Fehdehandschuh aufgehoben und angemessen reagiert hat und daß diese Entscheidung in Kraft bleibt, solange es sich die EU nicht anders überlegt. Die Vernichtung der Lebensmittel hat damit eine ähnliche Aussagekraft wie der Beschluß, Iskander-Raketen nach Kaliningrad zu verlegen und die Ankündigung, die Krim mit Atomwaffen zu verteidigen. Rußland steht zu seinen Interessen, ohne Rücksicht auf die Kosten! – das soll im In- und Ausland verstanden werden.
Damit das auch mit der nötigen Deutlichkeit wahrgenommen wird, wurden neben den russischen Medien auch solche aus der ganzen Welt eingeladen, an diesen Brandopfern teilzunehmen und darüber zu berichten. Vernichtung beschlagnahmter Lebensmittel fand übrigens bisher auch statt – diesmal jedoch wurde sie als demonstrativer Akt mit möglichst großer Öffentlichkeitswirkung inszeniert.
Angesichts dieser Show können alle Putin-Freunde wahrnehmen, daß hier eine politische Führung die Interessen der Nation über alles stellt und ihr dabei die Bedürfnisse der Untertanen ganz gleichgültig sind, und man kann auch sehen, daß die Herrschaft von Markt und Geld in Rußland heimisch geworden ist.
Kategorie: Postsozialismus
NATO, Rußland, USA, EU und der Konflikt um Ukraine und Donbass
FORTSETZUNG NR. 3
Derzeitige Situation
Aufmarsch von ukrainischen und Söldnertruppen im Süden, Konzentration von schwerem Gerät: Versuch einer Isolierung von Transnistrien
Stationierung von NATO-Panzerbrigaden und anderem schweren Gerät im Baltikum, Polen, Rumänien
Aufgrund eines Urteils in einem von Chodorkowksi angestrengten Prozesses mögliche Beschlagnahmung von russischem Eigentum in Europa
Off topic: Der Balkan
UNZUFRIEDENHEIT MIT DEM EU-HINTERHOF
Obwohl sich die großen Zeitungen Europas in ihren Schlagzeilen auf die Hot Spots und auf solche Themen konzentrieren, die die Gemüter bewegen, so fließt doch in letzter Zeit immer wieder Berichterstattung über Ex-Jugoslawien ein, der man anmerkt, daß die Staaten Europas mit dem Fleckerlteppich, den sie dort einrichten geholfen haben, sehr unzufrieden sind.
Das Prinzip: „aus 1 mach 7“ hat zwar den für die EU erfreulichen Effekt gehabt, daß dort lauter schwache und abhängige Staatsgebilde entstanden sind, die sich nur über ihr Verhältnis zur EU definieren, aber ebenso ist eine gewisse Unkontrollierbarkeit eingetreten. Das Ideal, daß man bei einer abhängigen Regierung seine Wünsche deponiert, die unterschreibt alles, und dann führt sie das auf ihrem Territorium durch – diese einfache Handhabung ist bei praktisch keinem der Nachfolgestaaten Jugoslawiens gegeben.
Da man ja dort jetzt auch formell die Demokratie eingeführt hat und die dortigen Regierungen per Wählerstimme ermächtigt werden müssen, ist ein weiteres Ärgernis gegeben. Die EU kann nicht ihre Statthalter einfach ernennen, und es funktioniert auch nicht so recht, den Wählern anzuschaffen, wen sie gefälligst zu wählen haben. Es kommt sogar vor, daß ein Wunschkandidat der „westlichen Staatengemenschaft“ – die USA und die EU arbeiten da meistens Hand in Hand – an die Macht kommt und sich dann nach einiger Zeit im Amt plötzlich als sperrig erweist und die Hand anknurrt, die ihn füttern möchte.
Besonders ärgerlich sind diese ganzen orthodoxen Völker und Regierungen, die plötzlich anfangen, mit Rußland zu flirten.
Im letzten Jahrzehnt hat Rußland außenpolitische Offensiven gemacht, um das seit Ende des Kalten Krieges verlorene Terrain zurückzuerobern. Das betrifft diplomatische Tätigkeiten, wie eine gesteigerte Frequenz von Staatsbesuchen oder verstärkte Aktivitäten der Botschaften. Das betrifft erhöhte Geheimdienstaktivitäten und eine Aufstockung des Personals diverser Auslandsressorts. Vor allem aber hat Rußland einen Medienfeldzug gestartet: RIA Novosti, Russia Today, diverse Blogs in verschiedenen Sprachen versuchen auf unverschämte Weise und mittels diffamierender Berichterstattung den Westen so schlecht zu machen, wie er wirklich ist. Dann werden noch von russischen halbstaatlichen Firmen Investitionen in strategisch wichtigen Bereichen getätigt und rußlandfreundliche Parteien unterstützt, wobei die russische Führung in ideologischer Hinsicht ausgesprochen tolerant ist. Gerade das Opium des Volkes, die Religion wirkt als weiterer Faktor der Attraktivität Rußlands: es präsentiert sich als christliche Schutzmacht gegen den radikalen Islam und wirkt in dieser Rolle weitaus glaubwürdiger als die USA oder sogar die EU.
Und das bringt die EU- und NATO-Pläne am Balkan durcheinander. Gelang es in Bulgarien noch, durch Sturz der Regierung die Pipeline-Pläne Rußlands zu vereiteln, so ist das bei Mazedonien nicht auf Anhieb geglückt. Die USA arbeiten weiter daran, aber der Mißerfolg ist vorläufig unübersehbar.
Dazu kommt die Griechenland-Euro-Krise, die auch die griechische Regierung mit Rußland liebäugeln läßt. In Serbien wächst die rußlandfreundliche Fraktion in allen Parteien, und die Kosovo-Frage verstärkt diese panslawistischen Neigungen nur noch. Gerade hat der Regierungschef der Republika Srpska in Bosnien ein Vertragspapier mit der EU nicht unterschrieben. Daß es darin um weitere Verelendung und Verschuldung Bosniens ging, ist nur eine Randinformation. Das wirklich Ärgerliche ist, daß man nicht einmal in diesem Protektorat seine Bedingungen wirklich diktieren kann.
Die Führung des Kosovo ist natürlich sehr EU-treu, solange die ihr zugesteckten Kuverts dick genug sind. Dieser Umstand hinderte allerdings zehntausende von Kosovaren nicht daran, diesen Winter ihrer Heimat den Rücken zu kehren und sich in Richtung EU aufzumachen. Sie wurden inzwischen wieder postwendend zurücktransportiert, aber die Episode hat doch wieder einmal den EU-Politikern und auch der Öffentlichkeit vor Augen geführt, daß dort ein failed state entstanden ist, der nur Kosten und Gscher verursacht.
Neben dem Kosovo ist Montenegro Zentrum für Menschen- und Drogenschmuggel, hat noch dazu mit Häfen für diese Handelstätigkeit bessere Voraussetzungen.
Sogar die in die EU aufgenommenen Staaten Slowenien und Kroatien sind kein Quell reiner Freude für die EU. Kroatien steckt seit dem Zusammenbruch der Hypo Alpe Adria in Rezession und Kreditklemme, woran auch der EU-Beitritt nichts geändert hat. Slowenien hat aufgehört, ein Balkan-Tiger zu sein und ist froh, nicht weiter im Gerede wegen seines krisengeschüttelten Bankensektors zu sein. Seit Ende 2013 ist eine Privatisierungswelle angelaufen, deren Ausgang zweifelhaft ist, da Sloweniens Erfolgsweg gerade darin bestanden hat, daß die Wirtschaft nach der Unabhängigkeit weiterhin größtenteils staatlich gelenkt war.
Das Problem als ganzes ist aber größer dimensioniert. Die trostlose Lage der meisten Balkanstaaten, ihre Perspektivlosigkeit und das unverschämte Auftreten der EU, die sie als Märkte benutzt, ihre Ökonomie größtenteils zerstört hat und mit Handelsverträgen und Zollabkommen weiter daran arbeitet, jegliche noch bestehende Produktion dort zu ruinieren – diese Schieflage hat viele Politiker und Wähler nachdenklich werden lassen, ob die Vorgaben der EU wirklich gedeihlich und alternativlos sind. Der immer hysterischere Ton der dort von diversen ausländischen Stiftungen gepäppelten liberalen Presse, die alle EU-Kritik als Nationalismus brandmarkt und damit immer weniger durchkommt, und nicht zuletzt das Beispiel Ungarns, das trotz seiner EU-Mitgliedschaft immer EU-kritischer auftritt – all das läßt den Balkan als Hinterhof fraglich werden. Dazu kommt die strategische Bedeutung dieser Region als Aufmarschgebiet gegen Rußland, als das es in den letzten 2 Weltkriegen gedient hat.
Sowohl die EU als auch die USA verstärken ihre diplomatischen und geheimdienstlichen Aktivitäten auf dem Balkan, schlagen immer unverschämtere Töne an, die die Anerkennung der fremden Souveränität eigentlich schon ad absurdum führen, und versuchen, die Regierungen dieser Region auf Linie zu bringen oder zu stürzen.
Die Befürchtung, daß der Balkan der Kontrolle des Westens entgleiten und ihre rußlandfeindlichen Pläne durchkreuzen oder behindern könnte, ist jedenfalls vorhanden. Man sollte die Berichte der nächsten Monate über diese Region unter diesem Gesichtspunkt lesen und verstehen.