NATO, Rußland, USA, EU und der Konflikt um Ukraine und Donbass

FORTSETZUNG NR. 3
Derzeitige Situation
Aufmarsch von ukrainischen und Söldnertruppen im Süden, Konzentration von schwerem Gerät: Versuch einer Isolierung von Transnistrien
Stationierung von NATO-Panzerbrigaden und anderem schweren Gerät im Baltikum, Polen, Rumänien
Aufgrund eines Urteils in einem von Chodorkowksi angestrengten Prozesses mögliche Beschlagnahmung von russischem Eigentum in Europa

Pressespiegel: Izvestija, 14.5.

WER ZÜNDELT IN MAZEDONIEN?
Der Politologe Oleg Bondarenko legt dar, warum die Balkanregion zu einer neuen Ukraine werden könnte
„Das Wort Maidan klingt auf Mazedonisch fast gleich (wie im Ukrainischen), nur wird es auf der ersten Silbe betont. Dabei spielte die mehr als 500-jährige Zugehörigkeit Mazedoniens zum Osmanischen Reich eine Rolle. Mazedonien war die ärmste der jugoslawischen Republiken. Ungeachtet seines mit Macht verbundenen Namens blieb es ein armer Verwandter in der Familie der Balkanvölker.
Unter diesem von der UNO nicht anerkannten Namen – der offizielle ist FYROM – kann Mazedonien nicht in die EU aufgenommen werden. Der südliche Nachbar ist unerbittlich, denn eine große Provinz Griechenlands mit Saloniki als Hauptstadt heißt auch Mazedonien. … Genau dieses Moment war entscheidend, als vergangenes Frühjahr über die Aufnahme Mazedoniens in die NATO verhandelt wurde. Griechenland als NATO-Mitglied weigerte sich ausdrücklich, der Aufnahme als Republik Mazedonien zuzustimmen.
Anfang Mai wurde dieser kleine Balkanstaat von einigen Ereignissen erschüttert.
Erstens, das Eindringen einer vergleichsweise großen Anzahl kosovarischer Kämpfer in die drittgrößte Stadt Mazedoniens, Kumanovo, die inoffizielle albanische Hauptstadt Mazedoniens. “ (Das ist unrichtig, das wäre Tetovo.)
„Zweitens, die bereits gewohnte Politik, Unruhen in der Hauptstadt zu organisieren, die zu einer Besetzung von Regierungsgebäuden und zum Sturz der Regierung führen sollten. Parallel dazu ließ sich noch das Anheizen von Nationalitätskonflikten und einer regierungsfeindlichen Stimmung beobachten. Die Projektanten der Unruhen gingen dabei sehr ernsthaft zu Werke – irgendjemanden begann der Premierminister Nikola Grujevski, der seit 2006 im Amt ist, sehr zu stören.
Es geschieht recht häufig in Osteuropa und besonders am Balkan: du kommst an die Macht, völlig proeuropäisch und Brüssel-zentriert, wirst Präsident oder Premierminister, aber Schritt für Schritt wächst die Enttäuschung gegenüber dem Westen und die Faszination gegenüber dem Osten. So erging es dem früheren Präsidenten Serbiens Boris Tadic, unter dem es zu bedeutenden Investitionen Rußlands in Serbien kam. So ist es auch mit Nikola Grujevski. Noch 2008 betrachtete er das euroatlantische Mantra als heilig für jeden Osteuropäer. 6 Jahre später wurde er zum Parteigänger der Pipeline „South Stream“, die sich jetzt in eine türkische verwandelt hat. Vom Standpunkt ernsthafter politischer Zusammenarbeit gibt es schließlich nichts Besseres als einen Staatsmann, der gegenüber seinem Lehnsherrn desillusioniert ist.
Der neue Botschafter der USA, Jess Baily, trat seinen Dienst in Mazedonien erst im vergangenen Jahr an. Vorher konstruierte er Maidans in der Türkei. Der inoffizielle Betreuer der bekannten Unruhen auf dem Taksim-Platz kam mit seiner Aufgabe nicht zurecht und wurde bald abberufen. Jetzt organisiert er Taksims in Skopje. Dafür erhält er beträchtliche Summen über die uns wohlbekannte Soros-Stiftung.
Ein langjähriger Empfänger solcher Unterstützungen ist der Anführer der oppositionellen sozialdemokratischen Union Mazedoniens, Zoran Zajev, der in diesem Jahr bereits zweimal – bisher erfolglos – versucht hat, einen Umsturz in seinem Heimatland herbeizuführen. Das erste Mal, im Februar, wurde dieser Versuch von den Sicherheitskräften vereitelt. Das zweite Mal, am 5. Mai, wiederholten sich auf dem Hauptplatz von Skopje praktisch die Ereignisse des 19. Jänners in Kiew – man erinnere sich, als plötzlich Jugendliche mit schwarzen Masken die Polizei und Regierungsgebäude mit Molotov-Cocktails zu bewerfen begannen. Im Unterschied zu Kiew, wo damit gegen die „totalitären Gesetze des Diktators Janukowitsch“ protestiert wurde, (die Poroschenko nicht nur wieder in Kraft setzte, sondern noch verschärfte,) war der Anlaß in der mazedonischen Hauptstadt eine Information, derzufolge ein Leibwächter des Premiers angeblich 2011 einen jungen Mann zu Tode geprügelt hatte.
Klingt nicht sehr glaubwürdig, die Sache.
Mazedonien von innen zu zerreißen wurde bereits mehrmals versucht , so auch 2002, als das Land knapp einem aus dem rauchenden Kosovo angestachelten Bürgerkrieg entkam. Lustigerweise gelang es den mazedonischen Sicherheitskräften damals, mittels einiger rechtzeitig eintreffender Hubschrauber aus der Ukraine den Konflikt auf das Abfeuern zweier Raketen durch albanische Terroristen zu beschränken. Darauf folgte das Abkommen von Ohrid, das die albanische Minderheit (15-20% der Gesamtbevölkerung) mit nahezu unbegrenzten Rechten ausstattete.
Heute wiederholt sich die Geschichte. Leider sieht es so aus, daß man mit neuen Drohungen von Seiten Albaniens und von Kosovaren verübten Anschlägen rechnen muß. Übrigens auch mit neuen Taksims und Maidans. Bereits diesen Sonntag, den 17. Mai, ungeachtet der Staatstrauer für die bei der Schießerei in Kumanovo getöteten Polizisten ruft die Opposition zu einer Versammlung auf, die den Rücktritt der Regierung fordern soll.
Der US-Botschafter sagte den „friedlichen Demonstranten“ seine volle Unterstützung zu. Kein Zweifel: die Unruhen werden großzügig honoriert werden. Das konnte man auch voriges Jahr in Bulgarien sehen, wo innerhalb einiger Tage eine bis dahin nahezu unbekannte Facebook-Gruppe Tausende Unzufriedene auf die Straßen Sofias strömen ließ.
So wurde die sozialistische Regierung gestürzt, die den „South Stream“-Vertrag unterschrieben hatte. Heute regiert statt ihrer der frühere Leibwächter des Königs, Bojko Borissow, der kategorisch gegen eine Zusammenarbeit mit Moskau aufgetreten war. Jetzt macht er sich übrigens für den Rücktritt des mazedonischen Premiers Grujevski stark. Ein wackerer Mann – ein Bürgerkrieg im Nachbarland bereitet ihm keine Sorgen. Dabei sind es von Skopje nach Sofia 200 km und schwups! könnte Bulgarien zehntausende von Flüchtlingen am Hals haben. Der serbische Premierminister Aleksandar Vucic hat bereits erklärt, daß sich der mazedonische Konflikt, sobald er in eine aktive Phase eintritt, unweigerlich auf Südserbien ausdehnen wird.
Dieser Konflikt betrifft unmittelbar die russischen Interessen in Europa. Denn die Gaspipeline soll eben von der Türkei durch Mazedonien und Serbien nach Ungarn verlaufen. Der Versuch, diese Region aufzumischen, berührt die ökonomischen und politischen Möglichleiten unserer Zusammenarbeit mit der EU. Während Gasprom mit der siegreichen Syriza-Regierung in Griechenland verhandelt, legen unsere „amerikanischen Freunde“ etwas weiter nördlich den nächsten Gang ein. … Das „große Schachbrett“ in Aktion.
Man hätte schon viel früher tätig werden müssen, damit Mazedonien nicht die nächste Ukraine oder das nächste Bulgarien wird. Den pragmatischen Premier unterstützen, der der europäischen Versprechen müde ist und konkrete Projekte sucht. Denn das Vardar-Tal, oder die Autobahn A-1, ist die historisch bedeutende Strecke für alle, die nach Europa kommen wollten. Auf dieser Strecke sollte die Eisenbahnlinie von Piräus nach Europa ausgebaut werden – ein Projekt Chinas, das auch den „euroatlantischen Werten“ widerspricht.
Das ist im Wesentlichen unser Kampf mit Washington um Europa. Manchmal beginnt die Rettung Europas am Balkan … “

Die Schatten der Vergangenheit?

GENOZID
Anläßlich des 100. Jahrestages der Deportationen der Armenier im Osmanischen Reich, aber auch wegen der im Rahmen der polnisch-russischen Spannungen wieder aufgelebten Debatte um Katyn ist der Begriff des Völkermords derzeit wieder in aller Munde. Die Gemüter erhitzen sich, diplomatische Noten werden ausgetauscht, Moralwachteln und Nationalisten beschuldigen einander der Geschichtslügen, und ergreifen den Anlaß, um ihrer Selbstgerechtigkeit und ihrem Rassismus wieder einmal freien Lauf zu lassen.
Bei diesem verbalen und schriftlichen Schlagabtausch wird so getan, als sei das Genozid eine erwiesene Tatsache, die von irgendwelchen Schuften geleugnet wird – wie manchmal unterstellt wird, sicher mit dem bösen Hintergedanken, schon den nächsten Völkermord zu planen. Die Genozidvorwürfe gehen daher mit dem entsprechenden Erdogan- und Putin-bashing einher.
Dabei ist das Genozid als juristischer Begriff einer der umstrittensten überhaupt.
1. Das Völkerrecht
Zum Unterschied vom innerstaatlichen Recht, wo ein Gewaltmonopol das Recht setzt und alle seine Bürger darauf verpflichtet, gibt es im Völkerrecht eine solche übergeordnete Instanz nicht. Hier stehen sich Gewaltmonopole gegenüber. Alle Fragen des Völkerrechts betreffen dadurch unmittelbar die Souveränität und werden daher von Regierungen und Verfassungsjuristen mit Vorbehalt behandelt: Man möchte sich dieses Instrumentes vielleicht gegenüber einem anderen Souverän bedienen, aber dabei verhindern, daß es gegen den eigenen Staat in Anschlag gebracht wird.
Aus diesem Umstand, daß sich auf dem Boden des internationalen Rechts feindliche Brüder, Konkurrenten um Weltmacht und Weltmarkt gegenübertreten, ergibt sich auch, daß das Völkerrecht ständig umgeschrieben werden und sich den jeweiligen Konstellationen anpassen muß. Sowohl auf dem Gebiet der Gesetzgebung, also des Abfassens von Tatbeständen und den dafür verhängten Strafen, als auch in der Rechtspflege gibt es da viel Anlaß für Streit und Reibungen.
So gibt es z.B. seit 2002 einen internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der von den USA nicht anerkannt wird. Verschiedene mit den USA verbündete Staaten haben bereits Erklärungen abgegeben, dorthin niemals US-Staatsbürger ausliefern zu wollen. Viele Menschenrechts-Fans betrachten das als Skandal und Mißachtung des Rechts durch die USA. Sie begreifen nicht, oder wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß nicht das Recht über der Macht steht, sondern umgekehrt, und daß es eben die Weltmacht ist, die die Normen setzt oder dies zumindest anstrebt.
2. Der historische Kontext, unter dem der Begriff „Genozid“ entstand
Der Mann, der das Genozid „schuf“, der jüdisch-polnische Jurist Raphael Lemkin, sollte 1943 im Auftrag der polnischen Exilregierung einen Begriff erfinden, oder einen Tatbestand definieren, mit dem die Verbrechen der deutschen und sowjetischen Besatzungstruppen in Polen angeklagt werden konnten.
Die Schwierigkeit, die er vor sich hatte, war zunächst, daß damals der II. Weltkrieg noch im Gange war, obwohl sich die Niederlage der Achsenmächte bereits abzeichnete. Das erste und Allerwichtigste war, den Krieg als solchen, der ja durchaus als Völkermord betrachtet werden kann, aus dieser Definition auszugrenzen. Der Krieg ist nämlich etwas, was sich jede Nation als wichtigstes und letztes Mittel der Durchsetzung bzw. Selbstbehauptung vorbehält, ihn als solches als Verbrechen zu qualifizieren, geht gegen die Grundlagen des Völkerrechts.
Lemkin wollte auch einen Tatbestand festlegen, nachdem folgende Ereignisse strafbar gemacht werden konnten:
1. der Völkermord an den Armeniern 1915 ff., der seit damals unter den Juristen, die sich mit internationalem Recht befaßten, eine ungelöste und ungesühnte Tat darstellten, einen historischen Präzedenzfall, der auch ihn selbst seit seiner Studienzeit beschäftigt hatte,
2. die Verbrechen der Nationalsozialisten an den europäischen Juden, deren Ausmaß damals, 1944, noch gar nicht abzusehen war, obwohl jedem klar war, daß das alles bisher auf diesem Gebiet Dagewesene sprengen würde, und
3. die Massaker des sowjetischen Geheimdienstes an polnischen Offizieren, von denen die polnische Exilregierung seit 1941 wußte, dabei aber bei den Westalliierten auf wenig Gegenliebe stieß, weil diese die Kriegskoalition gegen Hitlerdeutschland nicht gefährden wollten.
Diese drei Massenmorde oder Massenvernichtungen sollten also in diesen Begriff hineinpassen. Damit war zunächst einmal klar, daß die Zahl der Opfer nicht das Ausschlaggebende des Verbrechens sein konnte, da bei keinem der 3 Fälle die Anzahl auch nur annähernd bekannt war.
3. Der Begriff als solcher
Das Genozid als zu verfolgendes und zu bestrafendes Verbrechen ist mit dem deutschen Wort „Völkermord“ unzureichend wiedergegeben. Lemkin ging es darum, die betroffene Personengruppe so zu definieren, daß alle 3 oben beschriebenen Fälle hineinpaßten. Er wähle daher den griechischen Ausdruck „Genos“, das einen Stamm, auf jeden Fall eine Gruppe blutsverwandter Leute bezeichnet.
Hier war es wichtig, die Verfolgung aufgrund von politischer Gesinnung aus der Genozid-Definition auszuschließen – Kommunisten zu verfolgen und umzubringen, wie z.B. eine halbe Million in Indonesien, fällt nicht unter Genozid.
Interessanterweise war es gerade die Sowjetunion, die in den folgenden Jahren immer wieder darauf drang, politische Verfolgung zu keinem völkerrechtlichen Tatbestand zu machen. Die von der massenhaften Vernichtung betroffene Personengruppe mußte also die Charakteristiken aufweisen, die im Nachkriegs-Sprachgebrauch mit dem unappetitlichen Begriff „unschuldige Opfer“ zusammengefaßt wurden: Leute, die von sich aus garantiert keinen Anlaß gegeben hatten, Opfer von Verfolgung zu werden.
Dieser Genos-Begriff gibt immer wieder Schwierigkeiten auf, wenn es um die Frage geht, ob hier ein Genozid vorliegt oder nicht. Die Armenier, die im Osmanischen Reich als eigene Millet – eine bestimmte Autonomierechte genießende Glaubensgemeinschaft – anerkannt waren, fallen genaugenommen nicht unter den Genos-Begriff.
Noch problematischer ist die Angelegenheit bei den Opfern des Holocaust, die vom nationalsozialistischen Staat zu einem Volk definiert wurden, während sie in ihrem Selbstverständnis Angehörige der jeweiligen Nation waren, auf deren Staatsgebiet sie lebten, also Ungarn, Polen, usw. Es wird also bei der Anerkennung der Shoah als Genozid die Definition der Täter über das Selbstverständnis der Opfer gestellt.
Bei den polnischen Offizieren handelte es sich um Kriegsgefangene und Angehörige der Streitkräfte und Vertreter der Elite – das war der Grund, warum sie der Sowjetmacht im Wege standen, nicht bloß der Umstand, daß sie polnische Staatsbürger waren. Auch bei den Ermordeten von Srebrenica ist der Genos-Begriff fragwürdig: Die Muslime als staatsbildende Nation Jugoslawiens wurden in der Kardeljschen Verfassung von 1974 von einer Religionsgemeinschaft zu einer Nationalität umdefiniert, wo ähnlich wie bei den Juden im 3. Reich nur mehr die Abstammung, nicht die religiöse Überzeugung zählte.
Andere Gemetzel, wo der Genos-Begriff zu Recht in Anschlag gebracht werden könnte, wie bei diversen Massenvernichtungsaktionen im Zuge des Kolonialismus, werden nie in den Rang eines Genozids erhoben, weil sich kein Ankläger findet, der an einer solchen Art von Verurteilung interessiert wäre.
Ähnlich ist es mit dem 2. Teil des Wortes. Bei den alten Griechen wurde Lemkin offenbar nicht so richtig fündig – sie waren zu kleinstaatlich organisiert, um richtig klotzige Massenmorde hinzukriegen. Also wandte er sich dem Römischen Reich zu und klebte einen lateinischen Begriff an den griechischen an.
Mit dem bloßen Hinrichten und Abschlachten ist es hierbei aber auch nicht getan: Damit ein Genozid vorliegt, muß die Absicht nachgewiesen werden, die betroffene Personengruppe vernichten zu wollen. Liegt ein derartiger Beweis vor, so genügt das theoretisch bereits für ein Genozid-Urteil, auch wenn die Absicht gar nicht zur Durchführung gelangt ist. So ergibt sich das juristische Paradox, daß die wirklich konsumierten Genozide an afrikanischen und amerikanischen Eingeborenen nie zur Anklage gelangen, während Kriegshandlungen unter dem Gesichtspunkt eines Genozids untersucht und abgehandelt werden, weil sich ein Ankläger findet, der behauptet, diese Absicht hätte bestanden, wie im Fall von Bosnien.
4. Die Geschichte der Genozid-Anklagen und -Vorwürfe
Thematisch gehört das Genozid zu den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die nicht verjähren und vor jedem Gericht der Welt angeklagt werden können. Wegen der politischen Implikationen in Sachen Verfolgung wurde es jedoch ausgegliedert und 1948 durch UNO-Resolution die Völkermord-Konvention erlassen, die seither von einer Reihe von Staaten ratifiziert wurde. Das Gedränge hielt sich in Grenzen. Die Schweiz z.B. ratifizierte sie erst im Jahr 2000. Die Zurückhaltung erklärt sich daraus, daß die meisten Staaten darin kein Mittel ihrer Außenpolitik entdeckten oder aber, wie die Türkei oder die Sowjetunion, als mögliche Täter ins Visier genommen wurden, was ihr Begeisterung für diese völkerrechtliche Keule dämpfte.
In den Nürnberger Prozessen kam der Genozid-Anklagepunkt nicht zum Einsatz – die Urteile wurden auf Grundlage der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verhängt. Das war deshalb, weil sich die Debatten um den Genozidbegriff hinzogen und er deshalb dem Gericht nicht als Instrument zu Verfügung stand.
Während des Kalten Krieges führte der Begriff in juristischen Fachzeitschriften und UNO-Kommissionen ein Schattendasein. Erst in den 90-er Jahren, nach dem Abgang der SU erwachte er zu Leben und ist inzwischen eine regulärer Bestandteil der Außenpolitik vieler Staaten geworden. Die EU machte die Anerkennung des Armenier-Völkermords durch die Türkei zur Bedingung eines EU-Beitritts. Die bosnische Regierung möchte den Genozid-Begriff für einen Staatsgründungs-Mythos instrumentalisieren. In der Ukraine dient der „Hungermord“, der Holodomor, zur Begründung einer antirussischen Politik.
5. Die politische Bedeutung des Genozid-Begriffs
Man muß begreifen, was der Genozid-Vorwurf gegenüber einem Staat bedeutet: Damit wird er bezichtigt, sein Gewaltmonopol mißbraucht und damit seine Legitimation eingebüßt zu haben. Auch wenn es eine Vorgängerregierung war, die dieses Verbrechens bezichtigt wird, so bleibt aufgrund der ebenfalls völkerrechtlichen Rechtskontinuität doch das meiste an der gegenwärtigen hängen: Ein Staat, dem Völkermord vorgeworfen wird, wird zu einem Unrechtsstaat erklärt. Bei aller Vergangenheitsbewältigung und Auschwitz-Gedenkfeiern usw. hat Deutschland nie eine offizielle Erklärung über den Völkermord an den Juden abgegeben – das, was jetzt von der Türkei in Bezug auf die Armenier verlangt wird.
Es kommt den EU-Staaten gelegen, daß sich die Armenier-Massaker dieses Jahr zum hundertsten Mal jähren. Der Grund für die jetzige Verurteilung der Türkei ist diese runde Zahl jedoch nicht.
Die Türkei ist der EU schon seit einiger Zeit ein einziges Ärgernis: Ihre Regierung läßt nämlich durchblicken, daß sie nicht vorhat, sich zum Hinterhof der EU zu machen, und daß sie auch ohne EU-Beitritt gut leben kann. Auch mit den USA hat sie sich angelegt: Sie schert aus der antirussischen Politik des Westens aus und schließt sich den Sanktionen gegen Rußland nicht an, sondern bietet ihnen sogar Unterschlupf für Pipeline-Projekte. Sie unterstützt den IS.
Und was alle besonders ärgert: Die türkische Regierung kann sich diese Haltung leisten. Sie ist nicht erpreßbar, weil sie durch ihre Lage ein viel zu wichtiger Vorposten der NATO ist, um sie Sanktionen oder einer Blockade zu unterwerfen, die sie womöglich endgültig aus dem westlichen Lager abdriften lassen würden.
Also muß sich die westliche Wertegemeinschaft zähneknirschend mit etwas Genozid-Getöse zufriedengeben.