HORST KÖHLERS „INSOLVENZORDNUNG“
„Der Vorstoß von Bundespräsident Horst Köhler für eine Insolvenzordnung für Staaten kommt nicht von ungefähr. Die Idee war ursprünglich von einem Gremium ersonnen worden, dem Köhler einst selbst vorstand. Der Bundespräsident war bis 2004 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Doch die Insolvenz-Idee des Fonds zu Beginn dieses Jahrzehnts fand nie den Weg in die reale Politik. Grund waren Bedenken, dass mit einer Insolvenzordnung weitreichende Eingriffe in die Souveränität von Staaten verbunden seien. Der Plan liegt daher seitdem „wie eine lebende Leiche im Keller“, wie Mitarbeiter des IWF sagen.“ (Handelsblatt, 22.3.)
Eine innerstaatliche Insolvenzordnung, also rechtliche Grundlagen zur Abwicklung eines Bankrotts, bedeutet zunächst einmal, daß Mißerfolg in der Geschäftswelt als notwendiges Moment der Konkurrenz aufgefaßt wird. Es wird also damit anerkannt, daß ein Unternehmen, das zum Zwecke des Gewinnemachens angeleiert worden ist, dabei baden gehen kann. Die rechtsförmliche Abwicklung eines Bankrotts umfaßt Regelungen, wie die eingegangenen Verbindlichkeiten aus der Konkursmasse zu bedienen sind, welche Gläubiger Vorrang vor anderen haben, und wie Vergleiche zustandekommen können – daß also Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen. In Insolvenzordnungen wird auch die Rangordnung der Gläubiger festgelegt: Banken, Lieferanten und Gehaltsforderungen haben einen unterschiedlichen Stellenwert. Im bürgerlichen Recht hat ein Masseverwalter, der vom Gericht bestellt wird, die Forderungen zu prüfen und über ihre Rechtmäßigkeit und das Ausmaß, in dem sie zu befriedigen sind, zu entscheiden.
Wenn jetzt Köhler laut darüber nachdenkt, ein Insolvenzrecht für Staaten zu entwerfen, so will er damit dieses Element des Zivilrechts in die Sphäre des Völkerrechts übertragen. Das hieße, daß eine allgemeine Instanz – sei es der IWF oder der angedachte EWF – sich über einen souveränen Staat stellt und diesen zu einem schiefgegangenen Unternehmen erklärt. Das erste, was einem bei diesem Vorschlag ins Auge springt, ist ein Angriff auf die Souveränität der Staaten, der sich gewaschen hat. Das betrifft einmal die Seite des Schuldners. Wer ist der Masseverwalter, und wie geht er vor gegen den Schuldner? Was ist die Konkursmasse, was geht alles in diese ein? Im Falle Griechenlands: Inseln, also Territorium? Infrastruktur? Private Unternehmen?
Zweitens, auch auf der Seite der Gläubiger hat es dieser Vorschlag in sich. Der vorgestellte übernationale Masseverwalter würde damit nämlich eine Einstufung der Gläubiger vornehmen, Welche Gläubiger haben Vorrang vor anderen? Andere Staaten, die Anleihen des betroffenen Schuldners in ihrem Staatsschatz haben; Hedgefonds, Pensionsfonds, Banken, aber auch private Unternehmen, die mit Unternehmen des betroffenen Staates Geschäfte gemacht haben, würden nach diesen Insolvenzregelungen eingestuft. Wer kriegt was, und wer schaut durch die Finger? Eine solche Insolvenzordnung macht einen vorgestellten Masseverwalter zum Herren über die gesamte Staatenwelt und über das gesamte internationale Kapital.
Als Köhler Chef des IWF war, hat er also ein solches ambitiöses Projekt ausgearbeitet. Warum daraus nichts geworden ist, ist klar: Es wäre eine Kampfansage an das internationale Geschäft und die gesamte Staatenwelt gewesen.
Diese „Leiche im Keller“ des IWF hat dennoch Folgen gehabt: Der IWF hat seinen Musterschüler Argentinien 2001/2002 pleite gehen lassen. Und das, nachdem Argentinien sich über ein Jahrzehnt lang allen Austerity-Programmen des IWF unterworfen, unter der Ägide des IWF sein Currency Board – die 1:1-Parität des Peso zum Dollar – eingerichtet, und alle Auflagen des IWF erfüllt hatte.
Die Folgen dieses Staatbankrotts für Argentinien selbst und für ganz Lateinamerika sind hier nicht Thema. Interessant ist hier die Frage, wie sich diese Zahlungsunfähigkeit Argentiniens für den internationalen Anleihenmarkt ausgewirkt hat. Staatsanleihen gelten generell als relativ risikofreie Anlage. Staaten, die nicht so vertrauenswürdig sind, müssen einen höheren Zins zahlen als solche, die als völlig solid eingestuft werden. Argentinien hatte zwar ein schlechteres Rating als die Länder der Eurozone, oder der EU, galt aber bis kurz vor seinem Konkurs als relativ verläßlicher Schuldner, vor allem wegen seiner engen Zusammenarbeit mit dem IWF.
Und auf einmal konnte es seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen. Seine Staatsanleihen waren junk bonds. Eine Menge Investoren in diese Staatsanleihen schauten durch die Finger.
Bemerkenswerterweise ist es dem internationalen Finanzkapital, dem IWF, den Medien gelungen, Argentiniens Staatsbankrott zu einem Sonderfall zu erklären und als solchen zu behandeln. Die betroffenen Gläubiger traten in Verhandlungen ein, und versuchten, zu retten, was zu retten war.
Es kam jedoch zu keiner internationalen Verunsicherung bezüglich Staatsanleihen. Der Umstand, daß ein Staat seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen konnte, hat zu keiner Verunsicherung oder Neubewertung von Staatsanleihen überhaupt geführt. Das völlig allgemeine Moment der Probleme Argentiniens – daß ein Staat sich über Verschuldung auf internationalen Finanzmärkten seine Zahlungsfähigkeit verschafft – wurde nicht in Zweifel gezogen.
Eine ähnliche Schadensbegrenzung versuchen deutsche Politiker jetzt an Griechenland zu vollziehen. Griechenland muß sich sanieren, sich selber aus der Scheiße ziehen – oder untergehen.
Den einen Umstand übersehen sie allerdings: Daß Griechenland Teil der Eurozone ist. Ein griechischer Staatsbankrott würde das Ende des Euro bedeuten.
Es ist in den letzten Monaten schon einiges an Unsinn über Griechenland, den Euro, Staatshaushalte, Anleihen usw. in den Medien verbreitet worden. Die deutschen Politiker schießen allerdings, was die Verbreitung von Blödsinn betrifft, den Vogel ab. Ihr Versuch, zu behaupten: Griechenland soll sich um sich selber kümmern und geht uns nix an, ist nichts weniger, als das ganze Projekt der Gemeinschaftswährung – ein vor allem ursprünglich deutsches Projekt! – scheitern zu lassen.
Es gibt also bei deutschen Häuptlingen anscheinend die Vorstellung: Wenn der Euro als Währung zerbröselt, macht uns das gar nix, und die DM ersteht wieder wie Phönix aus der Asche als starke und unangreifbare nationale Währung. Und das ist, gelinde gesagt, verrückt.
Kategorie: Recht und Gewalt
Die Auswirkungen der Krise in Rußland
PIKALJOVO — EINE BANKROTTE STADT
Die 22.000-Einwohner-Stadt im Bezirk Leningrad wurde erst im letzten Jahr in Rußland so richtig bekannt.
Sie zählt zu denjenigen Städten, für die in den letzten Jahren der Name „Mono-Stadt“ populär geworden ist. Mono-Stadt deshalb, weil die ganze Stadt aus sowjetischen Zeiten her sich um einen einzigen Großbetrieb herum abspielte, ja oft rund um ihn erst gebaut wurde. So ging die sowjetische Planwirtschaft seinerzeit vor: An dieser Stelle gibt es irgendwelche natürlichen Ressourcen, und/oder sie liegt auch transportmäßig günstig, da stellen wir ein So-und-so-Kombinat hin. Oft wurden Straßen oder Eisenbahnen dann erst direkt hin- oder nahe vorbeigebaut.
Solange das sowjetische System noch in Kraft war, also bis zur Mitte der 80-er Jahre, bevor die Perestrojka ihre zerstörerische Wirkung entfaltete, funktionierten diese Städte auch halbwegs. Die sozialen und kommunalen Aufgaben wurden entweder aus dem zentralen Budget oder über das Kombinat direkt finanziert.
Seither hat es erstens eine Privatisierung gegeben. Das Kombinat von Pikaljovo ging irgendwann um die Jahrtausendwende in den Besitz des Oligarchen Oleg Deripaska über. Er spaltete es in mehrere Betriebe auf: für Zement, Tonerde, Soda, Pottasche u.ä. Alle gehören zu Deripaskas Gruppe „Basic Element“, die auf der Kanalinsel Jersey und auf den Virgin Islands registriert ist.
Die Krise in Rußland erfaßte auch die Bau- und Schwerindustrie, und die in Pikaljovo hergestellten Grundstoffe wurden auf einmal nicht mehr nachgefragt. Ende 2008 und in den ersten Monaten von 2009 schlossen die 3 größten Betriebe Pikaljovos und setzten ihre Arbeiter auf die Straße, nachdem sie ihrnen vorher oft monatelang keinen Lohn gezahlt hatten – etwas, was in der Jelzin-Ära gang und gäbe war, und wogegen aufgrund der russischen Arbeitsverträge auch keine Handhabe gegeben ist. Der Arbeiter kann ausstehende Löhne bei keinem Arbeitsgericht einklagen, sondern höchstens auf Provinzebene Beschwerde einlegen. Das russische Arbeitsrecht ist nämlich absichtsvoll sehr diffus formuliert und auch sehr verschwiegen darüber, welche Instanzen überhaupt für Beschwerden zuständig sind. Es wird mehr oder weniger dem Ermessensspielraum der Regionalbehörden überlassen, wie sie Arbeitskonflikte regeln und wann sie wo die Augen zudrücken, eventuell gegen ein kleines oder größeres Bakschisch.
Diese elastischen rechtlichen Bestimmungen sind eines der Ergebnisse der Ära Putin und seiner Versuche, das Kapital der Oligarchen wieder ins Land zu locken, indem er ihnen günstige Ausbeutungsbedingungen zur Verfügung stellte.
Also, Deripaska gehören die Betriebe, er hat sie zugesperrt, mit einem Haufen Schulden gegenüber der Belegschaft, den Zulieferern, der Gemeinde und den Energieversorgern. Was soll man machen?! Deripaska ist heutzutage beinahe ein armer Schlucker … Ihn pfänden geht auf keinen Fall.
Außer der Privatisierung hat es in Rußland seit den 90-er Jahren auch noch eine Verwaltungsreform gegeben, innerhalb derer die Unkosten, die ein modernes Staatswesen so hat, vom staatlichen Budget nach unten, zu den Regionen, Landkreisen und Gemeinden verlagert wurden. Begleitet, ähnlich wie in anderen postsozialistischen Staaten, von den Schalmeienklängen in der Presse, daß hiermit endlich die Gängelung der Bürger durch die Zentralverwaltung aufhöre, und sich das Individuum in seiner gewohnten Umgebung endlich frei entfalten könne.
Woher nahm also Pikaljovo das Geld für seine Gemeindeausgaben?
Kindergärten, Bibliotheken, Straßenausbau und -ausbesserug, Autobusverkehr usw. will ja auch irgendwie bezahlt werden.
Solange bei den Betrieben von Pikaljovo der Schornstein noch rauchte, kam über Lohnsteuern und Verbrauchssteuern noch einiges herein. Körperschaftssteuer wird Herr Deripaska wohl kaum gezahlt haben, weil wenn er ein Bedürfnis dazu verspürt hätte, so hätte er seine Sub-Firmen ja gleich in Rußland registrieren lassen können und nicht in irgendeinem Steuerparadies.
Seit aber alles zugesperrt ist, kommt weder in die individuellen Haushaltskassen noch in die Gemeindekassen, noch in die Kassen der Energieversorger auch nur ein müder Rubel. Die Einwohner Pikaljovos hatten eine Zeitlang kein heißes Wasser, nahmen Löwenzahn-Salat und ähnliche (kostenlose) Delikatessen in ihr Menü auf und blockierten schließlich die wichtige Fernstraße, die Petersburg mit Vologda verbindet. Der Stau zog sich über ein paar 100 Kilometer, in beide Richtungen.
Pikaljovo hatte sich in ein Ordnungsproblem verwandelt.
Und die Regierungsspitze rückte an. Putin persönlich gab sich die Ehre und stellte erst einmal gegenüber den ausgesteuerten Arbeitern klar: Das letzte, was sie sich erlauben dürfen, ist, gegen die Gesetze zu verstoßen.
Im Anschluß daran machte er alle anwesenden Bezirks- und Gemeindefunktionäre zur Schnecke, einschließlich des etwas kleinlauten Deripaska – wofür eigentlich? Letzterer hatte Gewinne gemacht, und als er keine mehr machte, die Betriebe zugesperrt. Ganz normal, wie es in der Marktwirtschaft üblich ist und wie auch die Gewerkschaften überall inzwischen einsehen.
Und die lokalen Behörden: Sie hatten mit dem Geld gewirtschaftet, das ihnen zur Verfügung stand, und als keins mehr da war, was hätten sie tun sollen? Sie sind ja auf Marktwirtschaft verpflichtet worden, und darauf, daß sie ihre Einnahmen aus dem Wirtschaftsleben zu beziehen hätten, und nicht aus irgendeinem zentralen Geldreservoir. Gleichzeitig wurden ihnen aber alle Möglichkeiten beschnitten, in Form von Steuern und Abgaben legal an den Gewinnen der Unternehmen vor Ort mitzuschneiden, weil man damit die Unternehmer, die neuen Messiasse, womöglich vergrausigt hätte.
„Die überflüssige Bevölkerung wird vielmehr durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich erzeugt, die jeden einzelnen Arbeiter zwingt, täglich so viel zu arbeiten, als seine Kräfte ihm nur eben gestatten. Wenn ein Fabrikant täglich zehn Arbeiter neun Stunden lang beschäftigen kann, so kann er, wenn die Arbeiter zehn Stunden täglich arbeiten, nur neun beschäftigen, und der zehnte wird brotlos. Und wenn der Fabrikant zu einer Zeit, wo die Nachfrage nach Arbeitern nicht sehr groß ist, die neun Arbeiter durch die Drohung, sie zu entlassen, zwingen kann, für denselben Lohn täglich eine Stunde mehr, also zehn Stunden zu arbeiten, so entläßt er den zehnten und spart dessen Lohn.“
Oder, wie Deripaska, läßt alle eine Zeitlang weiterarbeiten, zahlt aber gar nichts.
Wenn es aber partout keine Käufer für die Produkte gibt, nützen alle Methoden der Mehrwertsteigerung nichts. Die Versilberung der Ware gelingt nicht.
„Wie hier im kleinen, so geht es bei einer Nation im großen. Die durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich auf ihr Maximum gesteigerten Leistungen jedes einzelnen, die Teilung der Arbeit, die Einführung von Maschinerie, die Benutzung der Elementarkräfte werfen eine Menge Arbeiter außer Brot. Diese brotlosen Arbeiter kommen aber aus dem Markte; sie können nichts mehr kaufen, also die früher von ihnen verlangte Quantität Handelswaren wird jetzt nicht mehr verlangt, braucht also nicht mehr angefertigt zu werden, die früher mit deren Verfertigung beschäftigten Arbeiter werden also wieder brotlos, treten vom Markte ebenfalls ab, und so geht es immer weiter, immer denselben Kreislauf durch“ (Engels, die Lage der arbeitenden Klassen in England, Die Konkurrenz) –
es sei denn, woanders gibt es wieder einen Aufschwung, was derzeit in Rußland nicht abzusehen ist.
Die Schulden Deripaskas bei den Arbeitern usw. wurden schließlich irgendwie aus Budgetmitteln der Region, mit Garantien aller Art, beglichen.
Das eigentlich Problem aber blieb bestehen: Was wird aus Pikaljovo, und ähnlichen Städten dieser Art, in Zukunft? Absiedeln? Wohin? Woanders ist ja auch keine Arbeit da. Die Überflüssigen werden sogar jeden Tag mehr.
Die Umstellung auf die Marktwirtschaft hat Rußland gebracht:
1. Eine willige und billige Arbeiterklasse, die durch die Entbehrungen der letzten 20 Jahre zu fast allem bereit ist, vorausgesetzt, sie wird angewandt,
2. eine Unternehmerklasse, die auf der ganzen Welt zuhause ist und sehr wählerisch, wo sie wie investiert oder auch, wann sie wo zusperrt,
3. einen Verwaltungsapparat, der dem Ideal, das IWF, EU-Institutionen und Marktwirtschafts-Gurus verbreiten – funktionieren soll alles, aber kosten solls nix – sehr nahe kommt, und
4. eine Staatsführung, die im Zweifelsfall klarstellt, daß sie alle ihr zur Verfügung stehende Gewalt einsetzen wird, damit das alles auch so bleibt, Krise hin oder her.
Eine Geschichte von Sklaverei und Schuldknechtschaft
Kurzer Abriß der Geschichte Haitís
Nachdem der Westteil der Insel Hispañola – der ersten spanischen Kolonie in der Karibik – im Laufe der Jahrhunderte durch eine Mischung aus Piraterie und Besiedlung durch hugenottische Flüchtlinge der spanischen Krone abspenstig gemacht wurde, verzichtete 1697 Spanien offiziell auf dieses Territorium.
Das darauffolgende Jahrhundert gilt als „Blütezeit“ Haitís: Französische Plantagenbesitzer importierten in großen Mengen afrikanische Sklaven und exportierten Kaffee und Zuckerrohr nach Europa. Der ständige Sklavenimport war notwendig, weil sie bei der Plantagenarbeit schnell vernutzt wurden und ständig ersetzt werden mußten. Es ist also sehr bezeichnend, was Blütezeit hier (und meistens auch anderswo) heißt: Die Handelsbilanz stimmte, die Produzenten des solchermaßen erwirtschafteten abstrakten Reichtums hatten nichts davon.
Die Ideen der französischen Revolution konnten von dieser französischen Kolonie nicht ganz ferngehalten werden. Vor allem der erste Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ – wurde von den schwarzen Sklaven – richtigerweise – als ein Beschluß zur Aufhebung der Sklaverei angesehen, obwohl die Nationalversammlung in Paris ausdrücklich die Ungültigkeit dieser Prinzipien für die Kolonien erklärt hatte.
(Auch ein kleiner Widerspruch, „allgemeine“ Rechte zu erklären und dann gleich nachzuschieben, daß sie so allgemein doch nicht seien.)
Und die Sklaven Saint-Domingues (Haitís Name bis zur Unabhängigkeit) erhoben sich gegen die Kolonialherrschaft und ihre weißen Herren.
Unterstützt wurden sie auch von der Schicht der mulattischen Eigentümer, die nationale Souveränität anstrebten, um sich zur neuen herrschenden Klasse Saint-Domingues zu machen.
Die aufständischen Sklaven von Saint-Domingue überlasen den 2. Satz des ersten Artikels: „Soziale Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“ Aber davon später.
Bei dem von beiden Seiten mit äußerster Grausamkeit geführten Krieg zwischen den schwarzen Sklaven und den weißen Kolonialherren kamen den Aufständischen zwei Umstände zugute: Erstens, daß Frankreich nie einen richtigen staatlichen Gewaltapparat in Saint-Domingue eingerichtet hatte, sondern die Herrschaftsaufgaben größtenteils der Privatinitiative der dort ansässigen Pflanzer und Kaufleute überlassen hatten. Zweitens, daß Frankreich selbst in Europa einige Kriege um die Verteidigung seiner republikanischen Verfassung führen mußte und wenig Militär in die aufrührerische Kolonie abkommandieren konnte.
Der Armee der ehemaligen Sklaven gelang sogar zeitweise die Eroberung des spanischen Teils der Insel, wo sie ebenfalls die Aufhebung der Sklaverei verkündeten, von dem sie aber von französischen Truppen bald wieder vertrieben wurden. 1804 erklärte Haití seine Unabhängigkeit.
Man muß sich vor Augen halten, was dieser Akt der Aufhebung der Sklaverei und die Ausrufung einer Republik der Freien in der damaligen „internationalen Staatengemeinschaft“ bedeutet hat. Es war eine Provokation ohne Grenzen und brachte das damalige Gefüge von Herrschaft und Knechtschaft total durcheinander.
Die meisten spanischen Kolonien erkämpften ihre Unabhängigkeit um 1811 herum und hoben zwar die Sklaverei formell auf, wenngleich sie unter anderem Namen bis ins 20. Jahrhundert fortbestand. Es war aber die kreolische Oberschicht, die nachher die Macht übernahm, und keinesfalls, wie in Haiti, die sich von ihren Herren befreit habenden Underdogs. In den USA brauchte es einen mehrjährigen Bürgerkrieg, um die Sklaverei abzuschaffen, und auf der Nachbarinsel Kuba wurde die Sklaverei erst um 1875 aufgehoben, im Zuge der Unabhängigkeitskriege.
Nirgends jedoch auf der Welt war es so, außer in Haití, daß die Sklaven selber ihre Freiheit erkämpften und die Macht übernahmen.
An Haití mußte also ein Exempel statuiert werden, das andere kolonialisierte Bewohner der Neuen Welt vor einem solchen Schritt der Rebellion abschreckte.
Die Unabhängigkeit Haitís wurde von keiner führenden Weltmacht und – unter dem Druck der Großmächte – auch nicht von den frischgebackenen Nachfolgestaaten des spanischen Kolonialreichs anerkannt.
Um irgendwie einen Platz in der Welt zu erlangen, das Ende des gegen sie verhängten Handelsembargos zu erwirken, und das ständig drohende Risiko fremder Interventionen abzuschwächen, die sich unter dem Beifall aller imperialistischer Mächte dieses Niemandsland aneignen würden, unterzeichnete die Regierung Haitís 1825 und 1826 Verträge mit Frankreich, in denen sie sich im Austausch gegen die Anerkennung als Staat zur Zahlung von Entschädigungszahlungen bereit erklärte. Von 150.000 Goldfrancs wurde diese Schuld angeblich später auf 90.000 reduziert. Über die Höhe dieser vertragsmäßig übernommenen und dann auch tatsächlich gezahlten Summe gibt es verschiedene Angaben. Ihr genaue Höhe ist aber gleichgültig, es geht um das Prinzip, das damit ausgedrückt wurde.
Mit dieser Schuld übernahm Haití erstens die Anerkennung des Privateigentums. Seine Regierung erkannte gezwungenermaßen an, daß das erst gewaltmäßig angeeignete – und später auch wieder gewaltmäßig enteignete – Land rechtmäßiges Eigentum der Plantagenbesitzer und Sklavenhalter gewesen war, und ihr Akt der Enteignung unrechtmäßig, weshalb ihre früheren Unterdrücker und Ausbeuter bzw. deren Nachfahren zu entschädigen seien.
Die Befreiung vom Joch der Sklaverei wurde also im Nachhinein zu Unrecht erklärt, die Sklaverei zu Recht.
Zweitens, Haití wurde damit in die internationale „Arbeitsteilung“ hineingezwungen. Seinen Bewohnern wurde klargemacht, daß sie sich nicht einfach um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern und sich vielleicht auf eine Art Selbstversorgung einrichten könnten, sondern daß sie sich darum zu kümmern hätten, an international anerkanntes Zahlungsmittel heranzukommen, um diese Schuld zu begleichen. Sie mußten also exportfähige Produkte herstellen, die Abzug vom ohnehin geringen nationalen Reichtum bedeuteten. Sie waren also genötigt, wieder vermehrt Kolonialwaren wie Kaffee und Zucker anzubauen, anstatt die Anbauflächen für Grundnahrungsmittel zu verwenden. Es entbrannte ein erbarmungsloser Kampf um das Land zwischen der neuen herrschenden Elite, die sich um die Begleichung der Schuld bemühte, und dem Rest der Bevölkerung, die einfach nur leben wollte – ein Kampf, der bis heute anhält.
Drittens, Haití konnte sich trotz aller Anstrengungen von dieser Schuld nie befreien. Es wechselte nur die Gläubigerländer, indem sie in anderen Staaten Kredite aufnahm, um sich von der Abhängigkeit von Frankreich zu lösen. Vom klassischen Kolonialismus stürzte es also in die moderne Schuldenfalle, die bewährte Waffe des modernen Imperialismus – auch darin durchaus ein Pionier unter den Unabhängigkeitsbestrebungen der 3. Welt.
Haití und der Imperialismus heute: strategisch wichtig, ansonsten unwichtig
Bezüglich seiner inneren Verfaßtheit hat sich Haití einen Widerspruch geleistet, an dem das Land bis heute trägt: Es hat sich die Ideale der bürgerlichen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – auf seine Fahnen geschrieben, ohne über die bürgerliche Klasse von Besitzenden zu verfügen, die sich diese Prinzipien für ihr Gedeihen seinerzeit ausgedacht und in ihre Verfassungen hineingeschrieben haben. Haití war von Anfang an ein Staat der Proletarier, aber gemäß den Idealen des Bürgertums. Der seit 2 Jahrhunderten unternommene und größtenteils erfolglose Versuch – vor allem der Minderheit der Mischlinge –, eine bürgerliche Klasse als Besitzer produktiven Eigentums erst einmal zu schaffen und sich durch die Aneignung der unbezahlten Mehrarbeit der Eigentumslosen zu bereichern, ist die Grundlage der stets bejammerten „Instabilität“ Haitís.
Ein weiteres Handicap Haitís ist seine Lage. Seine Westküste stößt an die Windward Passage, den wichtigsten Verkehrsweg für die USA zum und vom Panama-Kanal. Die USA waren daher schon vor der Eröffnung des Panamakanals (als die Landenge von Panama auch bereits ein wichtiger Transportweg war) im Jahr 1914 sehr interessiert an der Kontrolle über Haití. Als Haití versuchte, seine Kreditabhängigkeit zu „diversifizieren“ und Deutschland in die Liga seiner Gläubiger aufnahm, nötigten die USA 1910 die damalige Regierung Haitís, einen Kredit bei amerikanischen Banken aufzunehmen, um ihre Kreditabhängigkeit in Richtung USA zu verlagern. Um die Bezahlung dieser Kredite sicherzustellen, besetzten die USA schließlich 1915 Haití. Die folgenden 19 Jahre lang hielt die US-Besatzung die Armen Haitís in Schach, setzte diverse Marionettenregierungen ein und ab und versuchte, aus dem Land an Reichtum herauszuquetschen, was eben irgendwie möglich war. Der Abzug der USA 1934 war wiederum mit politischen und wirtschaftlichen Auflagen verbunden, die sicherstellten sollten, daß dieses Land sich weiterhin dem Druck von Geschäft und Gewalt nicht entziehen konnte.
Die neuere Geschichte Haitís ist geprägt durch seine Nähe zu Kuba. Direkt nebenan ist nämlich ein Staat entstanden, der sich durch die Hilfe der inzwischen untergegangenen Sowjetunion dem Diktat des Weltmarktes entziehen konnte und sich die Versorgung seiner Bevölkerung zum Ziel gesetzt hat. Für die verelendeten Massen Haitís muß so eine Herrschaft als eine Art irdisches Paradies erscheinen. Die USA und ihre Verbündeten mußten also alles tun, um ein Überspringen dieses „Bazillus“ zu verhindern. Zunächst fanden sie einen kongenialen Statthalter unter Francois Duvalier (1957-71). Als zweifelhaft war, ob sein Sohn seine Bevölkerung genauso mit dem nötigen Terror in Schach halten würde, ließen seine Gönner in Washington ihn 1986 fallen. Seither suchen die imperialistischen Mächte nach einem geeigneten Ersatz, was schließlich aufgrund von Erfolglosigkeit 1995 in einem UNO-Mandat mündete.
Inzwischen haben sich die USA offenbar wieder für Direktintervention entschieden.
Die Spenden, die jetzt reichlich Richtung Haití fließen, dienen ein und demselben Zweck wie alle Maßnahmen der letzten 200 Jahre: Die Haitianer dazu zu bringen, ihr Elend „in Würde“ zu ertragen, keine Spielregeln zu verletzen, sich dem Weltmarkt unterzuordnen, – und auf jeden Fall Liebäugeleien mit dem „kubanischen Modell“ zu unterlassen.
Alle Spenden, die irgendwer für Haití einzahlt, werden für diese Zwecke verwendet. Dafür sorgen die Herrschaften vor Ort schon.