Die EU-Energiepolitik in der Krise 1

„ALTE “ ENERGIEGEWINNUNG – NOTWENDIG, ABER LÄSTIG

Die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Ökonomie zeigt sich sehr schön an der Energiepolitik der EU.

1. Energie – eine Grundlage der Ökonomie – und ein bombensicheres Geschäft?

Der Energiesektor wird zwischen zwei Polen hin- und hergerissen.
Erstens ist er seit den heftigen Privatisierungen der letzten Jahrzehnte eine ganz normale Geschäftssphäre, in der satte Gewinne eingefahren werden oder zumindest eingefahren werden sollten. Die Privatisierung des Energiesektors war eine Aufgabe, die sich die EU explizit vorgenommen hat. Damit sollte Kapital in diesen Sektor gelockt und zu Investitionen veranlaßt werden, die dann die Energie reichlich sprudeln lassen und gleichzeitig verbilligen sollten.
Denn der Energiesektor ist zweitens eines der Schmiermittel der Ökonomie. In jeder Ware, die hergestellt, in jeder Dienstleistung, die geboten wird, ist Energie enthalten und geht somit in den Preis dieser Ware ein. Wenn es jetzt durch Verbilligung der Energie gelingt, den Preis der in der EU hergestellten Waren zu verbilligen, so erhöht das die Wettbewerbsfähigkeit der EU auf dem Weltmarkt, trägt zur Eroberung neuer Märkte bei und stärkt den Euro.
Eine Win-Win-Situation, so dachten die EU-Politiker. Damit das drittens alles klappt, sahen sie auch eine großzügige Subventionierung dieses Sektors vor. Der Kredit der Banken und der Staaten sollte strapaziert werden, um die Energieherstellung günstiger zu machen. Damit eröffnete sich natürlich ein neuer Sektor für das Finanzkapital, das sich nicht lange bitten ließ. Ein drittes „Win“ war somit in die Welt gesetzt.

2. Traditionelle Formen der Energiegewinnung: „Alte“ Energiequellen

Unter diesen Gesichtspunkten wurden die gesamten Formen der Energiegewinnung neu sortiert.

2. a) Die Kohle
Die Kohle geriet auf die Abschußliste der Energiepolitik und -subventionierung. Zu teuer, nicht nur in der Gewinnung, sondern auch in der Anwendung, und außerdem mit schlechten Werten vom Standpunkt des CO2-Ausstoßes behaftet. So wurden Staaten, die über diese Energiequelle verfügten, wie Polen, Tschechien, Rumänien, Spanien usw. dazu angehalten, diesen Sektor möglichst zurückzufahren und auf Dauer sogar stillzulegen. Das bedeutete in diesen Staaten Schließung von Bergwerken, Arbeitslosigkeit unter den Bergleuten und eine Belastung der Handelsbilanz, da die bisher mit Kohle betrieben Kraftwerke jetzt nach Möglichkeit umgestellt und mit Öl- und Gas-Importen betrieben werden mußten.

2. b) Öl und Gas
Diese beiden Formen von Energie sind zwar im Betrieb weitaus günstiger, haben aber Nachteile, die schwer ins Gewicht fallen: sie müssen importiert werden, belasten die Handelbilanzen und bringen Abhängigkeit von den Lieferanten mit sich, die Transportwege beeinträchtigen die Sicherheit der Versorgung, (Naher Osten, Ukraine-Transit-Probleme) und diese Energiequellen sind auch politisch nicht frei von Störfaktoren, weil es die EU von Staaten abhängig macht, die ihrerseits mit dem Energie-Export unangenehme Abhängigkeiten herstellen können (Rußland). Deswegen betrieb und betreibt die EU Pipeline-Projekte mit Staaten wie Turkmenistan, Kasachstan, Aserbaidschan, der Türkei und dem Balkan als Lieferanten und Transit-Länder, um auf nähere und berechenbarere Lieferanten umzusteigen. (Auf diesem Gebiet gingen nicht alle Berechnungen auf, wie das Einstellen des Nabucco-Projektes zeigt.)
Bei diesen beiden Energiequellen wurde dem Gas Priorität eingeräumt, weil es im Ausstoß von CO2 gegenüber dem Öl die Nase vorn hat. Für die Umstellung auf Gas ist ebenfalls, wie schon bei der Umwandlung von Kohlekraftwerken, einiges an Umbau oder der Neuerrichtung von Kraftwerken notwendig.

2. c) Atomkraft
Auf die Atomkraft wurde in den meisten Staaten nicht aus rein energiepolitischen Gesichtspunkten gesetzt. Die ultimative Waffenkategorie, die an Zerstörungspotential alles Bisherige in den Schatten stellte, war der bestimmende Faktor, aus dem heraus sich Staaten wie die USA oder Frankreich für diese Energieform entschieden. Andere Staaten, wie Schweden oder Spanien sahen darin eine moderne und kostengünstige Energieform. Daß die Atomenergie in Deutschland Gegenstand zahlreicher Kontroversen wurde, liegt an dem unentschiedenen Verwendungszweck: Sie sollte zwar die heimische Industrie beflügeln, vom waffentechnischen Einsatz mußte Deutschland aufgrund internationaler Verpflichtungen jedoch Abstand nehmen. Was nicht ist, kann noch werden, dachten sich vermutlich viele Politiker. Erst es einmal haben, das Zeug, ist auf jeden Fall wichtig.

Was die Kosten betrifft, gilt die Atomenergie als sehr günstig – das ist aber nur deshalb so, weil die faux frais, die toten Kosten für die Wartung und Entsorgung vom Staat übernommen oder gestützt werden. Das war, solange der Kredit der betreffenden Staaten außer Frage stand, nie ein Problem. Man muß sich nur vor Augen halten, daß die kapitalistisch kalkulierten Kosten der Atomenergie deshalb niedrig sind, weil die Zahlungen und Garantien des Staates in den Energiepreis nicht eingerechnet werden.

Mit der Neuausrichtung der EU-Energiepolitik der 90er Jahre hatte die Atomenergie gute Karten. Der Import der Brennstäbe ist kostengünstig im Vergleich zur daraus gewonnen Energie. Frankreich bezieht sein Uran aus dem Niger, der praktisch bis heute französische Kolonie ist, was die Versorgung als sicher erscheinen läßt. (Die geschwinde Niederbügelung von Aufständischen in Mali muß auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, daß Frankreich seine Uranversorgung sichern wollte.)
Deutschland erhielt mit der DDR Uranvorkommen, die aber heute angeblich erschöpft sind. Uran wird in verschiedenen Ländern gewonnen, die als politisch verläßlich gelten, wie Südafrika oder Australien. Außerdem läßt sich aus den Brennelementen viel und lange Energie gewinnen, einer geringen Importmenge steht eine Masse an heimischer Wertschöpfung gegenüber. Die Grünen nahmen von ihrer Anti-Atom-Politik Abstand, nachdem sie die Kommandohöhen der Macht erklommen hatten: Atomenergie war als eine autonome und wettbewerbsfördernde Form der Energiegewinnung etabliert, dem wollten sich diese verantwortungsvollen Politiker nicht entziehen.

Neu auf den Weltmarkt getretene und in die EU aufgenommene Staaten wie Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Litauen boten sich als Märkte der Atom-Industrie der Atomenergie-Kapitale Westeuropas an, weil sie dadurch ihre sowjetischen oder westlichen, meistens mit US-Technologie errichteten Kraftwerke erneuern und für ihre Energieversorgung nutzen wollten. Die Atom-Industrie boomte und die Atomkraft erschien als ideale Energieform für die Weltmarkt- und Weltmacht-Ambitionen der EU.

Diese Euphorie in Sachen Atomenergie hat durch den Tsunami in Japan einen Dämpfer erlitten. Die Katastrophe von Fukushima bestätigte das, was die Gegner der Atomenergie stets ins Feld geführt hatten: daß sich die Kettenreaktion letztlich nicht kontrollieren lasse und daß Atomkraftwerke extrem anfällig für Naturereignisse wie Erdbeben – oder eben Flutwellen – seien. Fukushima führt bis heute allen Atommächten vor Augen, daß das ganze Territorium und die Bevölkerung eines Staates durch ein kaputtes AKW gefährdet sind und daß dieses ruinierte AKW nicht kalkulierbare Kosten für die geschäftlichen Gewinne und den staatlichen Handlungsbedarf mit sich bringt. (Japans Entschluß, seinen Kredit unbegrenzt zu strapazieren, ist eine Folge der Kosten, die Fukushima dem japanischen Staat aufhalst. Japan leistet sich diesen riskanten Schritt auch nur deshalb, weil die Krise des Weltwährungssystems ihn möglich macht. D.h., das schlechte Licht, in das Dollar und Euro aufgrund ihrer jeweiligen Krisen geraten sind, ermöglicht dem Yen als dritter Weltwährung diesen Gewaltakt, der die Währung auch so innerhalb eines Jahres um ein Viertel gegenüber den anderen beiden zurückfallen hat lassen.)

Die Atomenergie ist also heute ein wenig in Mißkredit geraten. Um so wichtiger werden die erneuerbaren, also von der Natur sozusagen auf ewig zur Verfügung gestellten Energien.

Fortsetzung: Die „Erneuerbaren“ in der Krise

Zum Jahresausklang II

DIE KRISE UND DIE MEDIEN
Daß die Krise da ist und da bleibt, damit haben inzwischen auch die Medien sich abgefunden, nachdem sie ein paar Jahre lang versucht haben, den Aufschwung herbeizureden, und dem werten Publikum weiszumachen, ab nächstem Jahr würde wieder alles anders.
Es geht also jetzt darum, gewisse Vorstellungen von Prosperität und Wohlstand stillschweigend fallenzulassen, und die Leser weiter auf treue Gefolgschaft gegenüber einem politischen und ökonomischen System einzuschwören, von dem inzwischen immer weniger Leute etwas haben.
Man muß es den Medien lassen, diese Aufgabe wird bravourös gelöst. Übrigens in einer Uniformität und Gleichschaltung, die ehemalige Pravda-Redakteure vor Neid erblassen ließe und Orwellsche Prophezeiungen in den Schatten stellt.
In der Abteilung Außenpolitik bzw. Nachrichten aus der großen weiten Welt bedienen sich inzwischen sämtliche Tageszeitungen irgendwelcher Agenturen. Kaum eine Zeitung hält sich noch Korrespondenten. Viel zu teuer, und wofür auch? Die Leute brauchen eh nicht so genau wissen, was auf der Welt los ist – da kommen sie nur mit den Sichtweisen durcheinander, die sie doch nach Ansicht der Meinungsmacher einnehmen sollen.
Mit den Agenturen ist jeder auf der sicheren Seite. Die bereiten das schon mundgerecht auf, und übernehmen ihre Nachrichten von anderen Agenturen, die schon eine Vor-Aufbereitung vorgenommen haben. Die letztendlichen Quellen sind dann Presseaussendungen von Regierungen oder Firmen, da kann man sich auch drauf verlassen, daß da alles paßt.
So kommt es, daß man bei außenpolitischen Ereignissen aller Art erstens sofort die entsprechenden Sprachregelungen ins Haus bekommt: Irgendwo muß ein „wahnsinniger“ oder „skrupelloser“, auf jeden Fall „Diktator“ gestürzt werden, damit die Kräfte des Guten, sprich die NATO und ihre Verbündeten endlich zum Zug kommen. In allen mißliebigen Staaten, von Rußland über China bis Venezuela kommt es andauernd zu „Menschenrechtsverletzungen“. Leider gibt es einen Haufen Gründe, warum man dort leider noch nicht einmarschieren und für Recht und Ordnung sorgen kann. In Afrika bekämpfen sich „Stämme“ und „Fanatiker“, zumindest so lange, bis irgendein NATO-Staat rettend eingreift und „Frieden stiftet“. Und in den restlichen Staaten wird von Zeit zu Zeit gewählt, da sieht man wieder, daß dort alles in Ordnung ist.
Aber es sind nicht nur die vorgefertigten Textbausteine und Phrasen, die einem von den Medien vorgelegt werden, sondern auch die Themen und Länder, auf die man gerade den Blick richten soll. Einmal wird der Scheinwerfer hingehalten, dann ist er wieder weg und die Weltgegend rutscht zurück in die mediale Finsternis. Wann habt ihr denn das letzte Mal was über Libyen gehört? Überhaupt, der „arabische Frühling“, als der uns die Personalrochade in Nordafrika verkauft wurde, was ist draus geworden? Wie kommen eigentlich die Bewohner Zyperns über die Runden? Weiß irgendwer, was in Vietnam, Laos und Kambodscha los ist, nach Jahren der Kriege und Bürgerkriege?
Ein afrikanischer Ex-Politiker stirbt, dessen Einfluß schon zu Amtszeiten gering war, und der seit über einem Jahrzehnt aus der Politik verschwunden ist. Tagelang ergehen sich die Gazetten über seine angebliche Größe, andere Ereignisse rutschen auf die Seiten 2-7, oder fallen ganz unter den Tisch.
Auch Kultur und Sport fordern ihren Tribut. In den letzten schlecht- oder ungeheizten Behausungen Osteuropas und des Balkans fiebern die Bewohner mit Bayern München oder dem FC Barcelona mit, wenn sie aus der Champions-League hinausfliegen – oder drinbleiben. Messi! Messi! lacht es einem aus Auslagen und von Kinder-T-Shirts entgegen. In einer Kulturnation wie Österreich wird man abwechselnd von Volksmusik oder Opernsängerinnen angesungen, und überall werden irgendwelche Shows mit Flitter, Flutlicht, pink und knallblau veranstaltet, wo getanzt, gesungen oder sonstwie unterhalten wird, nach dem Motto „Kitsch laß nach!“
Während die Abteilung „Brot“ von diversen Pizza-Buden und Fast-Food-Etablissements abgedeckt wird, lassen die Medien in der Abteilung „Spiele“ nichts anbrennen. Für jeden Geschmack ist etwas da, mit dessen Konsum sich die Menschheit die Zeit vertreiben kann.
(Auch fürs Futtern gibts ein Medien-Angebot: jede Menge Kochprogramme, wo Leute, die nicht kochen können oder wollen, anderen dabei zuschauen, wies gemacht wird.)
Eine ganz eigene Abteilung ist die Innenpolitik, also die Parteienkonkurrenz der diversen EU-Staaten. Da die Krise inzwischen überall angekommen ist, gilt es, Schuldige zu finden, die man präsentieren kann, ohne daß das große Ganze leidet. Ex-Minister, Ex-Banker, manchmal sogar echte Prominenz geben sich die Klinke bei Gerichtsverhandlungen. Von Rumänien bis Portugal versorgen die Medien ihre Zuseher mit den neuesten Nachrichten aus dem Gerichtssaal. Die Rechtssprechung hat sich in eine Art großes Theater verwandelt, das nach einem zentralen, EU-weit gültigen Drehbuch eine Vorstellung nach der anderen gibt: Meischbergers „I bin nackert!“ und die Salzburger Derivaten-Pleite sind Teil einer großen Seifenoper mit unzähligen Fortsetzungen: die Kassenbücher von Barcenas, die Anzüge von Camps und die Machinationen des Fürsten von Palma in Spanien; Frau Lagarde, Bernhard Tapie, Sarközy und die L’Oreal-Erbin in Frankreich, Berlusconis Partys in Italien, Korruption und Unterschlagung in Portugal, Rumänien, dem Baltikum usw. usf. – überall wird einem eingehämmert, daß es schwarze Schafe in den eigenen Eliten sind, die das Wachstum vergeigt und den Volkswohlstand verpraßt haben – und deshalb wird die arme EU jetzt von der Krise gebeutelt.
Praktischerweise gibt es auch noch eine Nicht-Regierungs-Organisation, die jährlichen einen Länder-Korruptionsindex erstellt, ähnlich wie PISA-Studien fürs Bildungsniveau, und diesem ganzen Zirkus dadurch auch noch den Schein von Objektivität verleiht.
Damit die Sache nicht fad wird, wird hin und wieder noch etwas Sex drübergestreut, um die Spannung zu erhalten.
Man merke also: es liegt nicht an den Gewinnkalkulationen von Banken und Unternehmen, am Geld als universell gültigem Maß der Werte, dem sich jede Produktion und jeder Akt des Konsums zu unterordnen hat, wenn Menschen hungern oder frieren. Es liegt auch nicht an der Konkurrenz der Nationen, an den imperialistischen Ambitionen der europäischen Staaten, für die sie sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben, um den Rest der Welt an Macht und Reichtum auszustechen. Nein, die Verfahrensweisen und Ziele der europäischen Demokratien, schon gar die Staatsform selber sind fraglos gut und dürfen überhaupt nicht thematisiert werden. Dafür werden dem moralischen-staatsbürgerlichen Geist jede Menge Korruptions- und Pflichtverletzungs-Fälle vorgeführt, um Scheitern und Elend als bloßes Ergebnis der menschlichen Hybris darzustellen.
Und dieses Angebot wird, wie man diversen Internet- und Medien-Foren entnehmen kann, gerne angenommen. Das p.t. Publikum der Qualitäts- wie der Boulevard-Blätter übertrifft sich in geifernden Angriffen auf diverse Sündenböcke, und stellt sich damit in seiner ganzen untertänigen Dummheit als die willige Manövriermasse ebendieser Politiker dar, die ihm vielleicht morgen einmal auch wieder als Korruptionsmeister im Gerichtssaal präsentiert werden.

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LEBEN MIT DER KRISE
Unter den Linken, vor allem den marxistisch-leninistisch inspirierten, gab es einmal so etwas wie Verelendungstheorien. Sie stützten sich auf die von Marx und vor allem von Engels vertretene Vorstellung, die Konzentration des Kapitals würde zu einer Polarisierung der Gesellschaft führen, die die Weiterexistenz der Arbeiterklasse verunmöglichen und deswegen unweigerlich zum Aufstand und zur Umwälzung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse führen müßte.
Die erste Enttäuschung war, daß die – durchaus stattfindende – Konzentration des Kapitals nicht die Folgen für die bürgerliche Gesellschaft zeitigte, die von den Theoretikern des Sozialismus angenommen worden waren: Die Arbeiterklasse verelendete nicht, sondern konsolidierte sich als Ausbeutungsmaterial des Kapitals. Dazu trug das Wirken der Sozialdemokratie ein Wesentliches bei, auch die Herausbildung staatlicher Sozialpolitik, Arbeitsgesetzgebung usw.
Dennoch oder vielleicht gerade deshalb blieb der Traum von der Verelendung bestehen, – die, sollte sie doch einmal eintreten, allen Erniedrigten und Ausgebeuteten die Augen öffnen würde. Die Arbeiterklasse sei verbürgerlicht, „gekauft“, aber irgendwann würde denjenigen, die sie mit Geld und Arbeitsplätzen „bestechen“, das Geld ausgehen, und dann käme der Big Bang. Die bisher unter den Teppich gekehrten Gegensätze würden unüberwindbar, und den Armen und Elenden bliebe gar keine andere Wahl, als die Produktionsverhältnisse umzukehren.
Schon die letzte Weltwirtschaftskrise war diesbezüglich ein großer Flop. Die verelendeten Massen liefen beliebigen Rattenfängern hinterher, ergaben sich dem Alkoholismus, und pflegten ihren Nationalismus im großen Völkerschlachten.
Die jetzige Krise liefert ebenfalls ein bezeichnendes Sittenbild der arbeitenden Menschheit. Steigende Arbeitslosenzahlen – in Griechenland und Spanien mehr als 25%, EU-weit mehr als 10% – ohne Aussicht auf Verbesserung, und ein System der Arbeitslosenversicherung, das diese Last bald nicht mehr stemmen kann, prägen das Bild. Eines ist klar: das Kapital ist durch den gehorsamen Einsatz der Arbeitenden von gestern inzwischen so erfolgreich geworden, daß es alle Waren und Dienstleistungen, die auf dem Markt absetzbar sind, mit immer weniger Personen weltweit produziert und daher – nicht nur in Europa – immer mehr Menschen überflüssig macht.
Die Reaktionen der Betroffenen fallen völlig systemkonform aus: mit Demonstrationen und Petitionen fordern sie ihre Wieder-Benützung ein: Der Staat oder das Kapital soll gefälligst Arbeitsplätze für sie schaffen! Jugendliche „Empörte“ fordern Jobs, in denen sie sich bewähren können. In Ost- und Südeuropa demonstrieren die Massen gegen „Korruption“ und fordern gute und anständige Führer, die man wählen und denen man sich dann unterordnen kann. Systemkritiker fordern eine „gerechtere Verteilung“ der Steuerlast, ebenfalls von den Politikern, die gerade an der Macht und mit der Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft beschäftigt sind.
Als Schuldige des Elends werden mit ungebrochenem Nationalismus die Elendsgestalten anderer Nationen dingfest gemacht: faule Griechen und andere parasitäre EU-Bürger, und Immigranten aus Afrika ff., die es auf „unseren“ Wohlstand abgesehen haben.
Zwischen Fast-Food, Reality-Shows, Krimis und Fußballmatchen hält sich die arbeitende Menschheit bei Laune für den Tag X, wenn sie doch wieder vom Kapital gebraucht werden könnte. An einem Fest wie Weihnachten zeigt sich noch einmal die grundlegende Zufriedenheit mit den Zuständen: Religion, Moral, Kitsch und Kaufwut bilden den vertrauten Kreis der Bedürfnisse des modernen Bürgers, der auf seine Illusionen genausowenig verzichten möchte wie auf seinen Anspruch, als anständiger Mensch anerkannt zu werden. In diesem rührseligen Schmarrn werden alle ökonomischen und politischen Gegensätze ertränkt, und jeder Außenstehende als Spielverderber gebrandmarkt. Religions- und andere Gemeinschaften, die sich dieser alljährlich wiederkehrenden Hysterie entziehen, sind per se höchst verdächtig.
Natürlich stünden die solchermaßen denkenden Menschen auch für andere Dienste zur Verfügung, wenn sie jemand einfordern sollte: Krieg gegen die Angehörigen anderer Nationen, oder Strafexpeditionen gegen Ungehorsame aller Art.
All das beweist nur eines: es liegt am Bewußtsein der Menschen, wie sie sich zu ihren Lebensumständen verhalten, nicht an Klassenlage, Herkunft, Geschlecht, Einkommen und Ähnlichem. Und nur wenn dieses Bewußtsein sich ändert, ist eine Änderung der Gesellschaftsordnung möglich.