HONGKONG ZEIGT DIE GRENZEN EINES AUF SICH SELBST GESTELLTEN VEREINIGTEN KÖNIGREICHS AUF
Die Krise in der ehemaligen Kolonie zeigt die außenpolitischen Schwierigkeiten einer mittelmäßigen Macht im 21. Jahrhundert
Rafa de Miguel, London
Der britische Löwe, der mit Gebrüll das »Gefängnis« der Europäischen Union verließ, läuft Gefahr, vom Rest der Welt als »Papiertiger« wahrgenommen zu werden. Es ist der chinesische Ausdruck, eine scheinbare Bedrohung zu definieren, die sich im Weiteren als harmlos herausstellt. Die Kampagne der Regierung Boris Johnson gegen Peking zur Einschränkung der Freiheiten in Hongkong mittels des neuen Sicherheitsgesetzes hat die Grenzen des Bestrebens Großbritanniens aufgezeigt, in der Zeit nach dem Brexit mit dem Gütesiegel »Global Großbritannien« eine machtvolle Stimme auf internationaler Ebene zu sein.
Die chinesische Regierung hat ihre Verärgerung über das Angebot Großbritanniens zum Ausdruck gebracht, drei Millionen Bürgern der ehemaligen Kolonie die Türen zu öffnen, und betrachtet es als »grobe Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten«, ist aber weder überrascht noch beunruhigt. Es gibt keine Angst mehr, wie in den 90er Jahren, vor dem möglichen Abzug der Bewohner eines unglaublichen Wirtschafts- und Finanzmotors. Peking verfügt nach Ansicht von Experten über genügend qualifiziertes Personal, um Personen, die von dem Angebot Gebrauch machen, zu ersetzen.
„Es ist wichtig, die Reaktion des Vereinigten Königreichs im Kontext des Brexit zu betrachten, wo die Regierung zusätzlich durch das Management der Coronavirus-Krise geschwächt ist und immer noch versucht, ihre Rolle in der Welt neu zu definieren“, erklärt Tim Summers, Berater des Asien-Pazifik-Programms der britischen Ideenschmiede »Chatham House«.
„Einige sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Idee von Global Britain in ihrem Ansatz ziemlich imperialistisch ist. Hongkong war eine Kolonie, und irgendwie scheint London seine früheren Untertanen schützen zu wollen. Deshalb war die Maßnahme so emotional und nicht strategisch, noch war sie sorgfältig kalkuliert. Vielleicht ist es ein Zeichen für die Fragilität dieser neuen Politik“, schließt Summers.
Eine hübsche Wendung, die Sehnsucht nach vergangener imperialer Größe als „emotional“ zu bezeichnen.
Bei strategischer oder sorgfältig kalkulierter Überlegung käme auch nichts anderes heraus, als daß das UK heute eben keine Mittel hat, China irgendetwas vorzuschreiben.
Johnson schwankt hin und her – im besten Fall auf der Suche nach einem komplizierten Gleichgewicht oder im schlimmsten Fall ohne klares Ziel zwischen zwei widersprüchlichen Faktoren. Es muss in einer Zeit, in der es gezwungen ist, starke Handelspartner zu suchen, um die EU zu ersetzen, gute Beziehungen zu China aufrechterhalten. Er muss gleichzeitig der Forderung Washingtons und eines mächtigen Sektors der Konservativen Partei nachkommen, eine festere und aggressivere Haltung gegenüber dem asiatischen Riesen zu zeigen. Es besteht die Gefahr, dass niemand zufrieden gestellt wird.
„Die Idee für Global Britain basierte größtenteils auf einer Ausweitung des Handels mit China. Was in Hongkong passiert ist, sowie die Haltung der Regierung von Xi Jinping hat es sehr viel schwieriger gemacht, eine positive Beziehung herzustellen “, erklärt Gideon Rachman, der Chefkolumnist für Außenpolitik der »Financial Times«. „Was die Reaktion Londons betrifft, so erwartet niemand, dass sie für sich allein eine Änderung der chinesischen Politik bewirken wird. Das Vereinigte Königreich wird nur dann etwas erreichen, wenn es Allianzen mit anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Australien aufbaut“, sagt er.
Da sind wir bei den Vorstellungen von Medienmagnaten wie Murdoch oder Black, daß sich die englischsprachigen Mächte vereinigen sollten, um die Welt zu beherrschen – ein feuchter Traum, der aufgrund der vorhandenen Bündnisse und Rivalitäten nie so richtig vorangekommen ist.
Johnson – oft mehr der ehemalige Journalist als der derzeitige Politiker – bietet den Vorteil, daß er seine Widersprüche sichtbar macht. „Großbritannien versucht nicht, Chinas Aufstieg zu verhindern. Im Gegenteil, wir werden Seite an Seite an all den Themen arbeiten, in denen unsere Interessen zusammenfallen, vom Handel bis zum Kampf gegen den Klimawandel. Wir wollen eine moderne und reife Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt und der Anerkennung der Rolle Chinas in der Welt beruht“, schrieb der Premierminister auf den Seiten der Zeitung »The Times«, als die Krise in Hongkong losging. Schwarz auf weiß definierte er die Bedingungen, auf denen die neue Außenpolitik zu beruhen scheint, deren Ziele noch vage sind: Die Welt ist ein wohlmeinender Ort voller guter Absichten, und das Vereinigte Königreich genießt strategische Autonomie, um zu entscheiden, welche Interessen es in dieser Welt geltend machen will.
Mit diesen kontrafaktischen „Bedingungen“ wird die britische Außenpolitik wahrscheinlich nicht so recht vorankommen.
Wenn die alte Kolonie die Bewährungsprobe des realen Gewichts von Downing Street darstellt, war der Huawei-Fall ein Wechselbad, mit dem Johnson zu verstehen begann, wie die Rolling Stones sagten, dass „you can’t always get what you want“. Seine Vorgängerin in dieser Position, Theresa May, schien ihm das Problem abgenommen zu haben, indem sie die Entscheidung traf, dass der asiatische Riese an der Entwicklung neuer 5G-Kommunikations-Infrastrukturen im Vereinigten Königreich teilnehmen würde. Ohne vergleichbare eigene Technologie war das chinesische Unternehmen von grundlegender Bedeutung für die großen Pläne zum Wiederaufbau des Landes, die im Wahlkampf der Konservativen Partei versprochen wurden.
Johnson glaubte, dass ein paar Änderungen ausreichen würden, um den amerikanischen Verbündeten in einem erklärten Krieg gegen Huawei und den harten Flügel seiner eigenen politischen Formation zu beruhigen. Falken wie Iain Duncan Smith oder Tom Tugendhat (der Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments) hatten die China Research Group gegründet, einen Druckapparat, um die Haltung Großbritanniens zur asiatischen Macht zu verschärfen, nach Jahren der Annäherung und der Zusammenarbeit seit David Camerons Amtszeit.
China ist auf dem Weg, der neue Brexit der Tories zu werden, immer bereit für Probleme, an denen man sich intern abarbeiten und zerfleischen kann.
Es ist für die große alte Partei der britischen Eliten eben schwer, die Zurückstutzung auf eine mittelmäßige Macht zu ertragen und in ihrer Politik nachzuvollziehen.
Downing Street beschränkte die Beteiligung von Huawei an dem Projekt (des Netzausbaus) auf 35% und legte ein Veto gegen den Zugang zu strategischen und Sicherheitseinrichtungen ein. Damit waren weder Donald Trump noch konservative Kritiker zufrieden. Vierzig von ihnen rebellierten in einer Parlamentsabstimmung, die Johnson auf die Spaltung hinwies, die seine scheinbar bequeme Mehrheit untergraben könnte. Die spätere Entscheidung Washingtons, dem Technologieunternehmen neue Sanktionen aufzuerlegen, hat laut einem Bericht des britischen National Cybersecurity Centre „sehr ernsthafte Zweifel“ geweckt, dass Huawei dennoch die erforderlichen Kapazitäten aufbringen würde, um bei der Entwicklung des 5G-Netzwerks mitzuarbeiten. Man kann davon ausgehen, dass die Regierung in den nächsten Tagen schließlich ein Veto gegen die Teilnahme Huaweis einlegen wird. „Sie können kein goldenes Zeitalter einläuten, wenn Sie China als Feind behandeln“, warnte der chinesische Botschafter Liu Xiaoming den Premier.
Wohlmeinender Ort, gute Absichten, große Pläne, Wiederaufbau, goldenes Zeitalter – je trostloser die Perspektiven, um so blumiger die Sprache.
Alle Probleme gehen von demselben Mangel an klaren Vorgaben und Unsicherheit aus. London möchte die Vorteile, die sich aus der Zugehörigkeit zur EU in fast einem halben Jahrhundert ergeben haben, beibehalten, ohne einer seiner Regeln zu unterliegen. Es versucht, seine kommerziellen und strategischen Beziehungen zu Washington zu stärken, ohne irgendeine Unterwürfigkeit zu zeigen, „gegenüber einer US-Regierung, die nach wie vor eine der historisch unbeliebtesten in Großbritannien ist“, wie Summers erinnert. Oder es beabsichtigt, seine Soft Power (die „Sanfte Gewalt“ oder die historische Einflussfähigkeit des Vereinigten Königreichs) gegenüber Peking einzusetzen, um China in Sachen Demokratie und Menschenrechte Mores zu lehren, und gleichzeitig die notwendigen wirtschaftlichen Investitionen Chinas in GB aufrecht zu erhalten.
Die „Sanfte Gewalt“ ist eine Sprachschöpfung, die die kolonialen Abhängigkeiten beschönigt und als unabhängig von der imperialen Gewalt, die sie geschaffen hat, darstellt.
Die Wochenzeitung »The Spectator«, ein Muss für jeden sich selbst respektierenden britischen Konservativen, feierte das Verlassen der EU mit einem berühmten Cover, das einen Schmetterling in den Farben des Union Jack (der Flagge des Vereinigten Königreichs) zeigt, der aus dem EU-Käfig flieht. „Raus und rein in die Welt“ (frei, um in die Welt einzutauchen), proklamierte die Zeitschrift.
Johnson findet jetzt heraus, dass er nicht in die Luft, sondern ins Wasser geraten ist, und daß das Wasser kalt ist, viel kälter, wenn er alleine und ziellos schwimmt und mehr Haie als Delfine um sich hat.
Ein seltsames Bild, um ein anderes seltsames zu widerlegen.
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Zusatzinfo: DAS ABSCHIFFEN DER ENTWICKLUNGSHILFE
Johnsons angekündigte Entscheidung, das Ministerium für Entwicklungshilfe mit dem Außenministerium zusammenzulegen, hat in seinem Protest ehemalige Premierminister wie den konservativen David Cameron oder Tony Blair und Gordon Brown von Labour, sowie zahlreiche Abgeordnete und humanitäre Hilfsorganisationen zusammengebracht.
Die Schaffung dieser Abteilung mit einem Jahresbudget von mehr als 16 Milliarden Euro und der Möglichkeit, autonom über ihre Projekte und Ziele zu entscheiden, hatte bisher dazu beigetragen, die Soft Power Großbritanniens erheblich zu stärken.
Sie wurde 1997 von einer Labour-Regierung gegründet und macht 0,7% des Staatshaushalts aus. Sie war ein grundlegender Akteur im Kampf gegen Armut, Gewalt gegen den Tod oder den Schutz der Menschenrechte. „Es wurde lange Zeit als frei verfügbarer riesiger Geldautomat am Himmel angesehen“, argumentierte Johnson, um die Logik der Zusammenlegung zu verteidigen. Bei seiner Neugestaltung der Regierungsstrukturen möchte der Premierminister, dass die Auslandshilfe ein weiteres Element ist, das in sein globales Großbritannien in der neuen internationalen Politik einbezogen wird. Und dass es jederzeit auf die verfolgten Ziele abgestimmt wird. Die Entscheidung, warnte sein Vorgänger Cameron, werde „weniger Spezialisierung, weniger Stimmen zur Verteidigung der Entwicklung bei Regierungsentscheidungen, und letztendlich weniger Respekt für das Vereinigte Königreich im Ausland“ hervorrufen.
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Kategorie: Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten
Pressespiegel El País, 2.7.: Abstrakter Reichtum versus konkreten
„DIE WIRTSCHAFT BRICHT EIN UND DER WALL STREET IST ES WURSCHT
Amanda Mars, Washington
Durch Stimuli berauscht und immer weiter von der Straße entfernt, schließt die US-Börse ihr bestes Quartal seit 1998. Gleichzeitig geht das Land durch die schwerste Krise seit der Großen Depression (…)
Der S & P-Index, der das Auf und Ab der 500 größten börsennotierten Unternehmen erfaßt, schloss das zweite Quartal mit dem höchsten Gewinn seit 1998, mit bis zu 20% ab. Für den Dow Jones, beschränkt auf die 30 ganz Großen, der um 18% gestiegen ist, war es der beste Zeitraum seit 1987. Und die Technologieunternehmen von Nasdaq sind um 31% gestiegen, der höchste Wert seit fast zwei Jahrzehnten.
Parallel dazu sind die USA in eine Rezession eingetreten und haben sich von ihrer größten Wachstumsphase in der Geschichte verabschiedet. Der Abbau von Arbeitsplätzen ist auf einem Niveau, das seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr erreicht wurde. Trotz der Anzeichen einer Erholung in der frühen Phase der Aufsperrens sind seit Februar fast 20 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, und die Insolvenzen werden mit dem schnellsten Tempo seit sieben Jahren gemeldet, wobei die Opfer so vielfältig sind wie die Autovermietung Hertz, das Kaufhaus JC Penney oder Chesapeake, der Pionier des Fracking.
Als Draufgabe ist die Coronavirus-Epidemie wieder außer Kontrolle geraten, Infektionen haben sich in weiten Teilen des Landes wieder erhöht und mindestens 16 Staaten bremsen beim Wieder-Hochfahren der Wirtschaft. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass das BIP der USA in diesem Jahr um 8% schrumpfen wird.
Woher diese Aufbruchsstimmung an der Wall Street?
Es gibt eine schnelle Antwort für dieses befremdliche Verhalten der Märkte: Die beispiellose Ausschüttung der Federal Reserve von 2 Billionen $ hat die Taschen von Anlegern gefüllt, die angesichts der Unsicherheit nicht genau wussten, wo sie das Geld anlegen sollten – außer in Aktien. Die Zinssätze für die 10-jährige US-Anleihe, eine dieser klassischen Häfen in Krisenzeiten, liegen bei 0,6%, verglichen mit 2% vor einem Jahr und 3% Ende 2018. Diese Impulse, zusammen mit dem vom Kongress genehmigten wirtschaftlichen Rettungsplan haben den wirtschaftlichen Aderlaß eingedämmt. Und laut Sam Stovall, Chief Investment Officer bei CFRA, »lässt die neue Zunahme von Covid-19-Fällen keine Befürchtungen aufkommen, dass die Erholung entgleist. Die Anleger erwarten keine neue Schließung auf nationaler Ebene, sondern gelegentliche Rückschläge.«
Die längerfristige Entwicklungen beachtende Antwort hingegen deutet auf einen seit Jahren sichtbaren Trend hin: Die Trennung der Börse von der sogenannten Realwirtschaft – die der Unternehmen, die investieren, Verträge abschließen und produzieren, und der Menschen, die konsumieren – nimmt kontinuierlich zu. Die fünf größten Werte des Parketts sind Apple, Alphabet(Google), Microsoft, Amazon und Facebook – Kolosse, die rund 20% des Wertes des gesamten S & P ausmachen, den höchsten Anteil seit 30 Jahren, und die auch in der Welt des Lockdowns bevorzugt wurden. Der hat einen Großteil des täglichen Trubels in die virtuelle Sphäre verlagert, sei es professionell, für Verbraucher oder in der Freizeit. Im April, dem ersten vollen Monat der Quarantäneregelungen, stiegen die Aktien dieser 5 nach Angaben von Goldman Sachs um 10%, während die anderen 495 um 13% fielen.
Wenn eine Wirtschaft als real bezeichnet wird, könnte man daraus schließen, dass die andere etwas Fiktives hat, als ob Apple oder Amazon nicht existierten, keine Mords-Hauptquartiere, keine trendsettenden Produkte und klingelnden Kassen aufweisen würden. Sie haben sie, aber der Beitrag der Technologiegiganten zum Wohlstand auf der Straße ist geringer als der, den die Börsenführer der Vergangenheit generiert haben, als im Wesentlichen Bankwesen, Energie und Dienstleistungen den Kuchen unter sich aufteilten.“
Hier wird die Sache etwas seltsam, weil war da nicht irgendetwas mit Industrie? Die Autorin kennt sich offenbar selber nicht ganz aus mit real und fiktiv.
„Eine Studie der Brookings Institution, einer der renommiertesten Denkfabriken Washingtons, vergleicht die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Kapitalmarkt des 20. und 21. Jahrhunderts und liefert aufschlussreiche Daten: 1962 waren die beiden größten börsennotierten Unternehmen in den Vereinigten Staaten die Telefongesellschaft AT & T und die Autofirma General Motors mit 564.000 bzw. 605.000 Mitarbeitern. Das sind fast 1,2 Millionen zusammen. Im Jahr 2002 hatte Microsoft den ersten Platz belegt (51.000 Mitarbeiter), gefolgt von General Electric (315.000). Weniger als die Hälfte als 1962. Im vergangenen Jahr beschäftigten die beiden Top-Unternehmen im S & P-Index, Microsoft und Apple, insgesamt rund 297.000 Mitarbeiter.“
Daß immer weniger Leute immer mehr Profit schaffen, ist aber vermutlich nicht eine reine Besonderheit der Börsenführer, sondern für die gesamte Unternehmenslandschaft 2020 charakteristisch.
„Der Wechsel in der Arena der Wall Street in diesem Jahr war radikal, der drastischste seit acht Jahrzehnten. Der erste Schock der Sperre, als die Gesundheitskrise bereits global und kapital war, ereignete sich Mitte März und führte im ersten Quartal des Jahres zu einem Rückgang des S & P um 20%. Die Aufholjagd des 2. Quartals hat es ermöglicht, fast den gesamten verlorenen Boden wiederzugewinnen. Die Aussichten bis zum Jahresende sind jedoch mehr als ungewiss. Die Anleger wurden nicht nur durch die Impulse stimuliert, sondern spielten bis zu einem gewissen Grad auch blind an der Börse. Laut Factset, einer Finanzinformationsplattform, haben 200 der 500 Unternehmen des Leitindexes ihre Prognosen für das Jahr wieder zurückgezogen, rechnen jedoch damit, dass die Profite der großen konsolidierten und daher widerstandsfähigeren Unternehmen (die Blue Chips im Börsenjargon) im vorgenannten zweiten Quartal um 44% geschrumpft sind.“
Seltsam ausgedrückt. Es soll heißen: Die Profite aus laufendem Geschäft sind geschrumpft, während die Börsengewinne anwuchsen.
Dazu noch soziale Unruhen und Wahlen in den USA, und wer weiß, was für Stützungsprogramme es noch geben wird …
Pressespiegel El Pais, 13.6.: Der Krieg in Libyen
DIE NEUE SCHLACHT LIBYENS WIRD IN SIRTE AUSGETRAGEN
Francisco Peregil aus Rabat
„Marschall Hafter zieht sich in den Osten des Landes zurück, um mit Unterstützung Russlands gegen den Vormarsch der Regierung der Nationalen Einheit die Kontrolle über die Ölquellen zu behalten
Der Kampf um die Eroberung von Tripolis, den Marschall Chalifa Haftar am 4. April 2019 begonnen hat, kann als beendet angesehen werden. Am 3. Juni nahmen die Milizen, die die Regierung der Nationalen Einheit (RNE) unterstützen – die ihren Sitz in Tripolis hat und von den Vereinten Nationen anerkannt wird –, den internationalen Flughafen ein, der seit mehreren Jahren nicht mehr genutzt wird, sich jedoch an einem idealen Ort befindet, um die Außenbezirke der libyschen Hauptstadt zu kontrollieren.
Zwei Tage später zogen sich die Truppen, die Haftar ergeben waren, aus der Stadt Tarhuna zurück, die 90 Kilometer südöstlich der Stadt liegt. Damit endete die 14-monatige Belagerung. Der Himmel über Tripolis ist frei von feindlichen Angriffen. Aber der Krieg ist noch lange nicht vorbei.
Während die RNE unter Premierminister Fayez Serrasch in Tarhuna ein Massengrab mit von Haftars Truppen ermordeten Personen entdeckt haben will – Zeitungen schreiben von bis zu 120 Opfern –, berichten dem Rebellenmarschall nahestehende Medien, daß die Truppen aus Tripolis in Tarhuna plündern, Häuser niederbrennen und Menschenrechtsverletzungen begehen.
Das Geschehen scheint sich jedoch inzwischen aus Tripolis oder Tarhuna in die 400 Kilometer östlich der libyschen Hauptstadt gelegene Küstenstadt Sirte verlagert zu haben. Die Regierungstruppen der RNE, die vor Ort von türkischen Offizieren und von der Türkei rekrutierten syrischen Söldnern unterstützt wurden, starteten diese Woche eine Offensive gegen Sirte, die Stadt, in der Gaddafi geboren wurde, und den Ort, an dem er Zuflucht suchte, bevor er gefangen wurde.
Diese Stadt der einstigen Ghaddafi-Anhänger, der Schlüssel zur Kontrolle der Ölexporte, wurde 2011 von den Tripolis-treuen Misrata-Milizen erobert. Später wurde sie im Juni 2015 vom Islamischen Staat übernommen. Die Misrata-Milizen eroberten Sirte im Dezember 2016 zurück. Im Januar dieses Jahres wurde die Stadt von Haftars Truppen eingenommen, als bedeutender Schritt seines Vormarsches in diesem Teil des Landes.
Jetzt halten Haftars Truppen, unterstützt von 14 im letzten Monat entsandten russischen Jagdflugzeugen, den Angriff der von der Türkei unterstützten Tripolis-Milizen auf. Haftars Soldaten werden zudem von Hunderten russischer Söldner der vom Kreml unterstützten Firma Wagner verstärkt. Wagners Männer kamen im Oktober nach Libyen und schafften es, das Kriegsglück zu Gunsten Haftars zu wenden. Danach bat die RNE den türkischen Präsidenten Erdogan um direkte Hilfe. Und Ankara schickte Waffen, Offiziere und syrische Söldner, als Gegenleistung für einen vorteilhaften Energievertrag. Heute ist die Türkei das einzige Land, das seine militärische Beteiligung am Libyenkonflikt offen anerkennt. Und bis jetzt hat diese Unterstützung ihre militärische Wirksamkeit bewiesen.
Jetzt geht es um die Entscheidung in Sirte und auch um die Ölquellen. Die Regierung in Tripolis gab am 7. Juni bekannt, dass das Scharara-Ölfeld, das größte des Landes im äußersten Südwesten und – bei voller Funktionsfähigkeit mit einer maximalen Produktion von 300.000 Barrel pro Tag – wieder unter seine Oberhoheit zurückgekehrt ist.
Scharara, ein Ölfeld, an dem unter anderem das spanische Unternehmen Repsol beteiligt ist, stand seit Januar unter der Kontrolle von Haftar. Anfang dieser Woche frohlockte Tripolis angesichts der Rückeroberung und gab bekannt, dass es dort wieder Öl fördert. Am nächsten Tag kündigte er auch eine Wiederaufnahme der Produktiont im Ölfeld El Fil an.
Aber es dauerte nicht einmal 48 Stunden, bis sich die wechselhafte Wirklichkeit des Landes wieder durchsetzte. Die Nationale Ölgesellschaft (NOC) berichtete auf ihrer Website, dass beide Felder von Milizsoldaten übernommen worden seien, die die Arbeiter gezwungen hätten, die Produktion einzustellen.
Ein westlicher Beobachter, der die Ereignisse genau verfolgt und lieber anonym bleibt, sagte: »Die Situation auf diesen Ölfeldern ist stets kompliziert. Sie sind weit weg von allen kämpfenden Parteien. Und sie werden gewöhnlich von Warlords kontrolliert, die sich an den Meistbietenden verkaufen.«
In Bezug darauf, wer Sirte und das Öl erobern wird, heißt es von dieser Quelle: »Die RNE hat es mit Hilfe der Milizen von Tripolis geschafft, Haftar aufzuhalten. Und jetzt hält Haftar Tripolis auf dem Weg nach Sirte und zu den Ölfeldern auf. Alles deutet darauf hin, dass beide Parteien versuchen, ihren Einfluß zu steigern, um in den Verhandlungen, die sie jetzt unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen aufnehmen werden, eine starke Position einzunehmen. Es wird einen neuen Versuch zu einem Friedenschluß geben. Aber der wird nicht einfach sein, weil es in Libyen keine soliden Institutionen gibt.«
Hafter kontrolliert weiterhin den Osten und Süden des Landes und einen Großteil der ruhenden Ölproduktion. Der Marschall wird von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Russland und Frankreich unterstützt. Und die Regierung von Tripolis hat die diplomatische Unterstützung Italiens, die wirtschaftliche Katars und die militärische der Türkei.
Hunderte Tote und mehr als 16.000 Vertriebene waren notwendig, damit sich Haftars Truppen nach Osten zurückziehen er sich auf den Dialog einlassen würde. Aber die Realität sieht ganz anders aus als vor 14 Monaten, als der Marschall mit der Belagerung begann. Damals war die Beteiligung Russlands und der Türkei nicht so eindeutig. Jetzt sind diese beiden Länder zu unverzichtbaren Mächten für die Gestaltung der Zukunft Libyens geworden.“
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Schon die Geschichte der Ölförderung in diesem El Schahara Ölfeld im Fezzan würde Bände füllen. Erschlossen wurde es in den 80-er Jahren mit Know-How der rumänischen Ölgesellschaft Petrom. Darüber findet man wenig Information, da die Petrom inzwischen mehrheitlich der österreichischen ÖMV gehört und die Geschichte der rumänischen Ölförderung zu Zeiten des Sozialismus unter den Tisch gekehrt wird.
Die ÖMV hat jedenfalls mit der Petrom um 2005 herum Anteile an libyschen Ölfeldern gekauft. Damals war Ghaddafi noch in Amt und Würden.
Wie diese Anteile fixiert wurden und was davon an Eigentumsrechten bei der ÖMV landete, steht nicht in den Büchern. Vor allem wußten das andere Ölgesellschaften nicht, als sie sich sich nach Ghaddafis Tod dort breitmachten, nach der Devise: Nimm, was du kriegst!
Repsol verkündete jedenfalls 2016, es hätte in dieser Gegend Ölreserven „entdeckt“.
So so. Gefunden.
Daß andere Firmen dort auch unterwegs sind, wird am Rande erwähnt. Aber wie Repsol dazu kommt, dort überhaupt Öl zu suchen und zu fördern – das bedarf ja einer gewissen Infrastruktur – bleibt im Dunkeln.
Das spanische Unternehmen teilt jedenfalls angeblich die Eigentumsrechte mit der ÖMV und Total (Fr) im Verhältnis 40:30:30.
Verträge?
Mit wem?
Alle Eigentümer – oder besser: Räuber – unterstützen beide Parteien dieses Krieges, um an ihr Öl zu kommen. Aber selbst wenn die Ölförderung laufen würde, ist es unter den gegebenen Umständen sehr fragwürdig, ob irgendwelche Quoten eingehalten werden und das von irgendjemandem konntrolliert würde.
Der libysche Dauerkrieg birgt zwar Risiken für die dort versammelten Ölfirmen, aber diese für die Landesbevölkerung durchwegs unerfreulichen Zustände eröffnen den ausländischen Ölgesellschaften auch Möglichkeiten, für etwas Bakschisch an örtliche Milizen und Warlords Öl in beträchtlichen Mengen an Steuer, Zoll usw. vorbei in andere Länder zu verfrachten.
Das alles gilt allerdings nur, solange das Öl auch gebührend nachgefragt wird. Sowohl die Förderung und die Verladung desselben waren Einnahmequellen der libyschen Kriegsparteien. In Corona-Zeiten mit sinkender Nachfrage und einem kurzfristig sogar negativen Ölpreis ist weder der Abbau des Öls für die Betreiber sehr atttraktiv, noch wollen sie die nötigen Gebühren an Milizen und die RNE-Regierung bzw. die Armee Haftars entrichten.
Aufgrund des Umstandes, daß der einzige wirkliche, auf dem Weltmarkt gültige Reichtum Libyens derzeit ziemlich entwertet ist, kommen vermutlich Haftar seine Geldgeber abhanden. Saudi Arabien z.B. ist sehr betroffen durch den Rückgang der Öleinnahmen.
Katar unterstützt die RNE, weil es seine Hand auf das libysche Öl legen will, um seinen eigenen Einfluß als ölproduzierender Staat zu steigern. Es will die Hand am libyschen Ölhahn haben, bei dem sich dann Repsol, OMV usw. anstellen müssen.
Die Türkei hingegen will das libysche Öl für sich, um der türkischen Wirtschaft eine Energiequelle zu sichern, sie ist also auf den Gebrauchswert des Öls scharf.
Rußland wiederum scheint zu meinen, Haftar sei eher in der Lage, Libyen zu einen als die RNE, und unterstützt ihn deshalb.
Der Kampf um Libyen geht also in die nächste Runde.