María Antonia Sánchez-Vallejo
„DIE LANGE GRIECHISCHE AGONIE
Trotz der Rettungspakete der Euro-Gruppe zeigt die griechische Wirtschaft nach sechs Jahren harter Anpassungen Anzeichen von Entkräftung .“
Nun ja. Korrekt ausgedrückt müßte es heißen: „Nach 6 Jahren sogenannter Rettungspakete, die die Gläubiger Griechenlands vor Verlusten bewahren, ist die griechische Wirtschaft ziemlich am Boden.“
Was die „Anpassungen“ betrifft, so wird überhaupt nichts „angepaßt“ – was eigentlich an was? – sondern der griechischen Ökonomie in einem fort Mittel entzogen, was zum Schrumpfen der Wirtschaftsleistung führt. Mit „Anpassung“, einem Vokabel, das aus dem segensreichen Wirken des IWF während der vergangenen Jahrzehnte herrührt, wird sehr plump so getan, als gäbe es ein richtiges Maß an Armut, bei dem dann die Gewinne der Unternehmer und Banken wieder in Schwung kommen. Diese Lüge blamiert sich an Griechenland sehr gründlich.
Es wäre allerdings auch nicht richtig, die Rettungspakete und die mit ihnen einhergehenden Kürzungen von Gehältern und Pensionen sowie Preis- und Steuererhöhungen allein für den trostlosen Zustand Griechenlands verantwortlich zu machen. Sein Kredit, der mit diesen Maßnahmen vom Rest der Eurozonen-Länder gestützt wird, ist Griechenland ja schon vorher abhanden gekommen. Daß es nicht gelingt, ihn wiederherzustellen, ist ein Ärgernis für die EU und den IWF und führt inzwischen auch zu deutlichen Spannungen zwischen diesen beiden Institutionen.
Zurück zur Analyse des El País, dem die EU eine heilige Kuh ist.
„Trotz der Rettungsleine, die die Euro-Gruppe Griechenland diesen Dienstag hingeworfen hat, zusammen mit dem Versprechen der Umschuldung, die mit dem Datum 2018 gut dem deutschen Wahlkalender angepaßt ist, scheint das Schulterklopfen für Athen lediglich einen Zeitgewinn zu bezwecken.“
Eine Augenauswischerei, auf gut Deutsch. Fragt sich nur, auf wen zielt sie?
„Die Wirtschaftskrise, verbreitet sich im siebten Jahr der Rezession nach einer kurzen Aufschwung zwischen 2014 und 2015 wie ein Ölfleck;“
Ein schönes Bild. Man muß der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß der erwähnte Aufschwung eine reine Showaktion für die europäische Öffentlichkeit und das griechische Wählervolk war, um die Nea Demokratia als Konkursverwalter im Sattel zu halten.
„– sie betrifft inzwischen nicht nur die Arbeiterklasse, sondern verbreitete sich durch Arbeitslosigkeit und den Verlust von Subventionen und Sozialleistungen auch auf die qualifizierten Berufe, die Vertreter einer Mittelklasse und Oberschicht, die zunehmend durch neue steuerliche Anpassungen und die dringend gebotene Liberalisierung des Arbeitsmarktes gesellschaftlich abstürzt.“
Was die „dringend gebotene Liberalisierung des Arbeitsmarktes“ angeht – auf gut deutsch: jeder soll für jeden Hungerlohn arbeiten gehen müssen, dem Ideal nach – so wurde sie mitsamt den „Hilfspaketen“ und „Rettungsleinen“ von der Troika verordnet, also das Gebot hat Subjekte und ist nicht eine vom Himmel gefallene Notwendigkeit.
Die gleichzeitig brutale und dumme Vorstellung, die dergleichen zugrundeliegt, ist die, daß man die Arbeitskraft nur gründlich genug verbilligen muß, um die heiß ersehnten Investoren anzulocken.
Man fragt sich, warum so wenig Investoren nach Afrika eilen? Dort sind die Löhne konkurrenzlos niedrig.
Oder nach Rumänien oder ins Baltikum, dort gäbe es ebenfalls Niedriglöhne innerhalb der EU. Stattdessen wandern von dort Billigarbeiter ab, um dann in anderen EU-Ländern den Preis der Arbeit zu drücken.
Es ist jedenfalls der Preis der Arbeitskraft nicht der einzige Gesichtspunkt bei den Standortentscheidungen des Kapitals.
„Nach vier aufeinander folgenden Monaten von Streiks, in Folge derer sich Tausende von Gerichtsakten aufgetürmt haben, beschlossen die Anwälte, ihren Streik im Juni zu verlängern. Berufsgruppen in Anzug und Krawatte stehen jetzt an der Spitze der Demonstrationen gegen die Reformen der Regierung anstelle derer, die von den traditionellen Gewerkschaften angeführt wurden, die bereits unzählige Generalstreiks ausgerufen haben, nur um ihre Wirkungslosigkeit festzustellen. Griechenland erlebt eine noch nie dagewesene Mobilisierung, die Togen und Hacken vereint; eine allumfassende und allgemeine Unzufriedenheit, klassenübergreifend und über Gewerkschaftserklärungen hinausgehend. Ein Gefühl von extremer Erschöpfung.
Unterdessen wächst der Schuldenberg von 330 Mrd. €, 180% des BIP – und behindert jegliche Erholung. Auf jeden Bewohner Griechenlands,– passive Klassen, Kinder und Babys inbegriffen – kommt eine Schuld von 30.000 € pro Kopf. Diese Schuld bleibt auch dann aufrecht, falls es zu einer Erleichterung des Schuldendienstes kommen sollte.“
Dieser leicht kryptische Satz stellt klar, daß eine Schuldenstreichung für Griechenland auf keinen Fall in Frage kommt, und alle Umschuldungen daher nur Fristverlängerungen beinhalten dürfen.
„Nachdem zwei ernsthafte Bedrohungen in Sachen Grexit in den Jahren 2011 und 2015 in letzter Minute abgewendet wurden, hat das letzte diesbezügliche Treffen der Euro-Gruppe den Geist des dritten wohl gebannt, aber den Mängeln der Realwirtschaft kaum abgeholfen. Es kam lediglich zur Auszahlung einer Tranche des dritten Rettungspakets in der Höhe von 10.3 Mrd. €, die vollständig für Fälligkeiten von 11 Mrd. € im Juni und Juli aufgeht.
Für Dimitris Rapidis, politischer Analyst und Berater von Syriza »verschafft der Abschluss der ersten Überprüfung des (Rettungs-)Programms der Regierung Zeit, ihre beiden obersten Prioritäten voranzubringen: die Förderung von Investitionen und vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen.«“
Man fragt sich, wie die Regierung mit diesen „Prioritäten“ vorankommen will. Weder hat sie irgendwelche Mittel, um selbst aus der Staatskasse Investitionen zu machen oder sie für das private Kapital attraktiv zu machen. Noch ist sie in der Lage, Arbeitsplätze zu schaffen. Im Privatsektor ist das Sache des privaten Kapitals, und im Staatssektor gibt es durch Troika-Auflagen praktisch ein Einstellungsverbot. Man könnte höchstens die vorhandenen Arbeitsplätze in jeweils 2 aufteilen und sowohl dem bisherigen Beamten/Lehrer/Arzt/Rundfunkangestellten als auch den neu Eingestellten jeweils die Hälfte zahlen, es ist aber nicht sicher, ob das von den Betroffenen gut aufgenommen würde. Aber die Regierung ist zuversichtlich:
„Man setzt auf folgende vier Sektoren: »Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Tourismus, mit dem Flaggschiff der Einweihung der TAP [Trans Adriatic Pipeline] in Thessaloniki in ein paar Wochen, die ein positives Signal für die ausländischen Märkte darstellt«, wie er unterstreicht.“
Man muß hier bemerken, daß es sich bei dieser „Einweihung“ um die Verlegung der ersten Rohre handelt. Bis durch durch diese Rohre Gas fließt, dauert noch ein paar Jahre – vorausgesetzt, der entsprechende und viel längere Teil durch die Türkei kommt zustande.
Verlegung der ersten Rohre für eine sehr unsichere Pipeline – das soll die internationalen Finanzmärkte begeistern und das Arbeitsplatzwunder per se darstellen?
Irgendwie werden hier Textbausteiene aus saudummen Ökonomiebüchern genommen und beliebig zusammengestellt, um die Illusion zu verbreiten, die Regierung hätte irgendein anderes Konzept als Konkursverwaltung.
„In einem rapide alternden Land wurden in diesem Monat die Pensionen seit 2010 zum 11. Mal gekürzt – ein Rückgang von fast 50% in sechs Jahren –, obwohl sie für mehr als ein Drittel der griechischen Familien die einzige Einkommensfamilien darstellen, während die Arbeitslosigkeit sich bei 25% verfestigt, da ihre strukturelle Komponente sich ca. auf 20% beläuft, erinnerte der IWF diese Woche. »Das heißt, es wird einige Zeit dauern, bis die Arbeitslosigkeit zurückgeht, nach und nach auf 18% im Jahr 2022, 12% im Jahr 2040 und 6% erst im Jahr 2060.«“
Abgesehen davon, daß der IWF für diese aus den Fingern gesogenen Prognosen überhaupt keine Anhaltspunkte hat, so sagt er doch damit, daß in den nächsten Jahren sowieso keine Verbesserung zu erwarten ist – ganz wurscht, wie sehr die Regierung „Prioritäten“ setzt:
„»Der Beitrag der Arbeit zum Wachstum wird nur 0,3% betragen«, das ist das niederschmetternde Urteil des Fonds. Obwohl Premierminister Alexis Tsipras versichert, daß 2017 das Wachstum nach Griechenland zurückkehren wird,“
Worauf sich wohl dieser fromme Wunsch gründet?
„(so sieht das auch die EU, die ein Wachstum von 2,7% prognostiziert),“
Das ist eine dreiste Lüge, die allen Mitgliedsländern aufgetischt wird, damit sie weiter der Kreditierung Griechenlands zustimmen, obwohl eigentlich klar ist, daß das eine Ende-Nie-Veranstaltung ist.
„steht am Ende dieses langen Fegefeuers ein Pyrrhussieg:“
Bildstörung!
„Lediglich beim öffentlichen Defizit gibt es einige Verbesserungen, “
Das steht in Widerspruch zu einigen Absätzen weiter oben, wo steht, daß es sowohl absolut als auch relativ zum BIP angestiegen ist.
„aber das ist etwas, was die Bürger in der Tasche nicht spüren.“
Alles verkehrt. Das Defizit ist gewachsen und die ganzen aufgenötigten Sparmaßnahmen spüren die Bürger Griechenlands sehr wohl:
„»Die Erhöhung der Beiträge, in einigen Fällen bis zu 70% des Einkommes, trifft die Durchschnittseinkommen schwer, und die Folgen werden schrecklich sein und viele Selbständige auf ein Existenzminimum reduzieren«, sagt Vasilis Kampanis, Präsident des Verbandes der Freien Berufe zu der am 8. Mai beschlossenen unpopulären Reform der Sozialversicherung, – eine weitere Forderung der Gläubiger. Für diese Vereinigung bedeutet »die Erhöhung der Steuerbelastung den Ruin vieler Geschäfte, verstärkte Steuerhinterziehung, Nichtzahlung von Beiträgen, steigende Arbeitslosigkeit und Kapitalflucht. Es wäre sehr wichtig, herauszufinden, wo die Milliarden von Sozialversicherung und Pensionsfonds während 40 Jahren Mißwirtschaft verloren gegangen sind«, sagt Kampanis.“
Oder auch nicht. Wieder auftauchen werden sie wohl kaum, und Gerichtsverfahren gegen die Mißwirtschaftler füllen die leeren Kassen auch nicht auf. Außerdem ist auch hier das Getue lächerlich:
„Nach offiziellen Angaben beläuft sich das Defizit der Sozialversicherungsanstalt (IKA Pensionskasse der Angestellten) auf eine Milliarde; das der Selbständigen auf 540 Millionen und auf 15,35 Mrd. die Rückstände der Beiträge zur Sozialversicherung bis zum Ende des Jahres 2015.“
1,5 Milliarden Defizit in 40 Jahren, das kann an einem ganz normalen Mißverhältnis zwischen Ein- und Auszahlungen liegen, bei 25% Arbeitslosigkeit kein Wunder. Nichts, worum man Lärm machen müßte. Und die 15,35 Milliarden, die nicht eingezahlt werden, zeigen, was die von den Gläubigern geforderte „Reform der Sozialversicherung“ bringt, nämlich nichts.
„Griechenland ist verbrannte Erde, wirtschaftlich am Boden zerstört. Die Industrieproduktion sinkt Jahr für Jahr, während die Abwanderung von Unternehmen vom Balkan weiter ansteigt. Deshalb wird der ferne Horizont einer Umschuldung oder zumindest eine gewisse Nachsicht bezüglich der zu leistenden Raten das Land weder kurz- oder mittelfristig aus dieser Situation befreien (noch weniger, nach Ansicht der Kritiker, mit einem vorgeschriebenen Budgetüberschuß von jährlich 3,5%, einer gleichsam als Schlachtroß angenommenen Grundlage in den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten, eine nicht bewältigbare finanzpolitische Anstrengung für eine völlig ausgelaugte Wirtschaft).
Nur die allmähliche Lockerung der seit Ende Juni vergangenen Jahres in Kraft befindlichen Kapitalverkehrskontrollen, die die Regierung diese Woche ankündigte, und die touristische Saison, die den Rekord 2015 zu übertreffen verspricht, kann in der unmittelbaren Zukunft ein wenig zur Entlastung der Eurozone beitragen angesichts einer Lage, die sie gleichsam an ihre Südostflanke gefesselt hat.“
Hier denkt die Verfasserin des Artikels an die Entlastung der Eurozone, wenn sie Schönwetter-Prognosen abgibt. Für Griechenland selbst, so heißt das, ist überhaupt nix drin.
„Von der griechischen Wirtschaft bleibt kaum mehr als ein Gehäuse. Oder anders gesagt: ein humpelndes Skelett“ (!!) „nach sechs Jahren der Anpassungen, die die großen strukturellen Anomalien des Staates beheben sollten, der echte bodenlose Abgründe der öffentlichen Ausgaben darstellen.“
Eine Serie von Bildstörungen, die daraus herrühren, daß der Zustand eines Staates, der zahlungsunfähig ist, als „Anomalie“ dargestellt werden soll, obwohl er immer mehr zur Normalität innerhalb der EU wird. Die Maßnahmen, die diese angebliche Anomalie beheben sollen, verschärfen sie nur, aber auch das soll nicht so einfach hingeschrieben werden, weil das hieße ja, daß die Situation unlösbar ist – eine bittere Wahrheit, um die sich die Analysten mit allen Mitteln herumdrücken.
„An erster Stelle steht die enorme Größe des öffentlichen Sektors, gemästet durch Korruption und politische Patronage: Im Jahr 2004 gab es 447.000 Beamte, und im Jahr 2010 waren es 768.000; seit dem ersten Hilfspaket wurden rund 250.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen.“
Diese Zahlen bedürfen einer genaueren Analyse. 447.000 Beamte sind in einem 10 Millionen-Land keine hohe Prozentzahl, wenn man bedenkt, daß hier Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Richter und Angestellte des öffentlichen Verkehrs sowie der Staatsverwaltung inbegriffen sind. Hier soll die Vorstellung erweckt werden, das sei ungeheuer viel. Vergleiche mit anderen Ländern fehlen. Laut OECD- und Weltbank-Statistiken hatte Griechenland bis zum Ausbruch der Krise 2008 keineswegs den größten Beamtenapparat im Verhältnis zur erwerbstätigen Bevölkerung, der Prozentsatz war in einigen nordeuropäischen Staaten viel höher.
Der große Anstieg bis 2010 läßt sich daraus erklären, daß vermutlich zum Abfedern der Krise manche Staatsangestellte einen Beamtenstatus erhalten hatten, die vorher keinen besaßen. Es muß sich also nicht unbedingt um Neueinstellungen handeln, sondern nur um eine Umdefinition bereits bestehender Anstellungsverhältnisse. Die absolute Zahl, so wie sie hier dasteht, ist jedenfalls wenig aussagekräftig. Sie soll aber den Leser dazu bringen, mit viel Verständnis für die Überwindung dieses untragbaren Zustandes die Entlassung von 250.000 Personen gutzuheißen, die EU und IWF Griechenland aufgenötigt haben.
Griechenland zahlt nur ein halbes Jahr Arbeitslosenunterstützung und kennt keine Sozialhilfe. Freiberuflicher kriegen auch die Arbeitslosenunterstützung nicht. Bis zu den im Rahmen der Kreditstützung verordneten Reformen war daher die hauptsächliche staatliche Unterstützung die Pension. Das heißt, daß die meisten dieser 250.000 Entlassenen ziemlich ohne Mittel dastanden. Da die Pensionen inzwischen gekürzt wurden, wie weiter oben erwähnt, so begreift man, warum es an allen Ecken des Landes Suppenküchen gibt und die Anzahl der Obdachlosen und Selbstmorde enorm angestiegen ist.
Außerdem hat Griechenland ein sehr großes stehendes Heer. Möglicherweise macht das Offizierskorps einen Teil der Beamtenschaft aus. Interessanterweise ist dieser Umstand nie Thema bei den Verhandlungen mit der Troika. Beim Heer wird kein Sparstift angesetzt. Man kann über die Gründe nur spekulieren. Einspruch der USA, die Griechenland auf jeden Fall in der NATO und sich daher das Heer gewogen halten wollen? Einsprüche derjenigen EU-Staaten, die Griechenland seit einem Jahrzehnt mit Waffen und Ausrüstung beliefern und nicht wollen, daß diese Geschäfte ans grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden? Oder will man sich das Militär als Garant der Regierbarkeit Griechenlands halten? Können sich EU-Politiker unter bestimmten Umständen eine Neuauflage des Obristen-Regimes unter EU-Anleitung vorstellen?
„Ebenso wird mit Zähnen und Klauen die Steuerhinterziehung bekämpft, dieses schwarze Loch in der Staatskasse, das sich einem Bericht der Europäischen Kommission 2011 zufolge zu Beginn der Krise auf 60 Mrd. Euro in unbezahlten Steuern belief.“
Wie kommt die Europäische Kommission auf diese Summe? Was wurde da alles zusammengezählt? Wieder wird hier mit Zahlen um sich geworfen, um zu zeigen, was da alles im Argen liegt. Es wird nämlich vorgespiegelt, diese 60 Milliarden brauchten ja nur abkassiert zu werden, der Staat hat ein Recht darauf, die Leute müssen sie nur herausrücken. Ob diese Steuern überhaupt vorgeschrieben wurden oder die Organe der EU nur meinen, sie hätten vorgeschrieben gehört, und ob die Betroffenen das Geld überhaupt haben, interessiert hier niemanden. Die Verfasserin schlägt die Hände zusammen und schreibt: 60 Mrd., ach Gottedoch!
„Schließlich bemüht sich Athen um die Abspeckung des defizitären und überlasteten Pensionsystems, über das jahrelang Geld in unzählige Fonds und Sozialkassen abgeflossen ist … Um hier eine Lösung zu erzielen, wurde im Zuge der Reform der Sozialversicherung eine einheitliche Mindestpension von 384 € eingeführt und der stufenweise Abbau der ergänzenden Solidaritätsfonds für niedrigere Renten und der Innungskassen bis zum Jahre 2018 beschlossen.
Als Gegenleistung für die am stärksten betroffenen Personengruppen wird, »die Regierung einen sozialen Solidaritätsfonds schaffen, die den Budgetüberschuss der Jahre 2015 und 2016 zu Gunsten der am stärksten gefährdeten Gruppen in Form einer finanziellen Unterstützung an solche Haushalte verteilt, die mit Steuern oder Darlehen im Rückstand sind, oder an Haushalte mit begrenztem Zugang zu grundlegenden Gütern wie Strom, Wasser oder Energie«, erklärt Rapidis.“
Vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein Budget-Plus, was dem bisher Verlauteten nach unwahrscheinlich ist. Was unterm Strich übrig bleibt, ist, das ganze Familien von einer monatlichen Pension von 384 € leben müssen, um das „überlastete“ Pensionssystem zu entlasten.
„Die Realwirtschaft, die das Land von einem Tag zum anderen bringt, hinkt oder ist zumindest mit dem Überleben beschäftigt. »Nach der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland Ende Juni 2015 verdoppelte sich die Zahl der griechischen Unternehmen in Bulgarien, von 5.500 bis 11.500, parallel mit der Eröffnung von 60.000 Firmenbankkonten. Die Verlagerung des Firmensitzes fand aufgrund des wesentlich günstigeren Steuerklimas statt, weil die Körperschaftssteuer dort mit 10% fast 20 % niedriger ist als in Griechenland, auch die Löhne sind niedriger«, erzählte im Januar Panos Kutsigos, Präsident der der griechisch-bulgarischen Handelskammer. Viele dieser ausgelagerten Unternehmen kommen aus dem Norden Griechenlands. Diese Region liegt sowieso durch jahrhundertelange Vernachlässigung im Argen, mit einer Arbeitslosenquote von mehr als 20% über dem nationalen Durchschnitt, um die 40% und bis zu 70% bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren.
Die Flüchtlingskrise hat sich zur wirtschaftlichen gesellt, nicht nur durch die Kosten, die dem Staat als Gastland durch Bereitstellung von kostenloser Gesundheitsversorgung für alle Flüchtlinge erwachsen sind, oder für die Ausbildung, um den Schulbesuch von Migranten ab September 2015 in allen Ausbildungsschritten zu gewährleisten. Der Migrationsdruck hat auch direkte wirtschaftliche Kosten: Die Sperre der Bahngleise in der Nähe des Lagers Idomeni hat laut dem Wirtschaftsblatt Naftemporiki Verluste von 7.000 bis 10.000 Euro (täglich?) wegen gestrandeter Güter verursacht. Die Blockade, die fast drei Monate gedauert hat, hat auch die Aktivität des Hafens von Piräus eingeschränkt, der inzwischen der chinesischen Firma Cosco gehört, und die Umleitung des Warenverkehrs über Bulgarien hat den Transport verteuert und Verzögerungen zur Folge gehabt. Man erkennt hier die wichtige Rolle der Geostrategie, positiv (der chinesische Appetit zur Kontrolle der Handelsströme, die TAP Pipeline-Route) wie negativ.“
Mit diesem Gut-Schlecht versucht die Autorin dem Umstand, daß Griechenland zumindest noch Transitland für Waren und Energie ist oder sein wird, zu einer möglichen Erfolgsstory umzuinterpretieren – dabei ist es doch nur das Eingeständnis, daß Kapitalakkumulation dort praktisch nicht mehr stattfindet.
„Die Fortdauer der oben genannten strukturellen Ungleichgewichte hat diejenigen belastet, die immer dafür herhalten müssen, die Kleinverdiener. “
Eine exquisite Art, den Sachverhalt auszudrücken. Nachdem wir erfahren haben, daß von der griechischen Ökonomie kaum mehr etwas übrig ist und die Arbeitslosigkeit über 20% beträgt und sich daran nichts ändern wird, erhält diese unerfreuliche Lage den schönen Titel eines „strukturellen Ungleichgewichts“. Mit „un-“ wird behauptet, es gäbe so etwas wie einen tollen Idealzustand, den man durch Veränderung von „Gewicht“ herstellen kann.
„Denn um von der Euro-Gruppe weißen Rauch zu erhalten, musste Griechenland die Schraube noch stärker in Richtung Sparprogramme drehen. Die in Form eines doppelten Paketes in getrennten Abstimmungen am 8. und 22. Mai genehmigten Anpassungen erhöhen die Steuern auf alle erdenklichen Waren, Tourismus und Immobilien. Der Spitzen-Mehrwertsteuersatz wird zwischen dem 1. Juni und dem 1. Januar nächsten Jahres um ein Prozent von 23% auf 24% steigen; auch die Steuern auf Treibstoff und Heizöl, Kaffee, Alkohol, Tabak, Luxusgüter, Festnetztelefondienste, Glücksspiel und Pay-TV werden erhöht.
Für die vierköpfige Familie Adiamandis, mit einer bescheidenen Eigentumswohnung und eingefrorenen Zukunftsplänen, bedeuten die Steuererhöhungen eine weitere Belastung ihrer ohnehin bereits prekären Existenz. »Wir leben von 757 € pro Monat von meiner Arbeit als Buchhalter in einer Firma, die nicht mehr lange bestehen wird. Durch die Erhöhung der Enfia (Grundsteuer) und der Mehrwertsteuer schätze ich, dass unsere Kaufkraft um rund 30% reduziert wird, so können wir nicht einmal von einer Urlaubswoche irgendwo am Land träumen. Allein der Einkaufskorb wird uns von nun an mindestens 25% mehr kosten«, sagt der studierte Ökonom Jorgos Adiamandis.
Die derart herbeigeführte Reduktion der Kaufkraft hat in den letzten Jahren zu einem 40%igen Rückgang des Inlandskonsums, und infolgedessen zu einer andauernden Deflation geführt. Deshalb kann die Familie Adiamandis nicht an irgendwelche Zusatzausgaben denken, wie an Kurse oder Postgraduate-Ausbildungen für ihre beiden studierenden Kinder, die deshalb auswandern wollen. Von den 180.000 bis 200.000 Absolventen und Ärzten, die das Land verlassen haben, sind nur 15,9% nach Griechenland zurückgekehrt, nach Daten des Europarats, was alle Aussichten für die Erholung des Landes vernichtet.
Die ungewisse Zukunft ist eine andere Sackgasse der Krise. Mehrere Indikatoren zeigen, daß diese Gesellschaft sozusagen auf lange Zeit so etwas wie eingefroren ist, wogegen keinerlei Initiativen helfen können.“
Dieser Satz ist fast unmöglich zu übersetzen. Im Original wird das Bild der Zeitlupe bemüht, um zu zeigen, daß jede Sichtweise der griechischen Gesellschaft hoffnungslos ist, aber es wird so getan, als sei dieser Zustand bloß ein Übergang (– wohin?)
„Die Geburtenrate ist seit Ausbruch der Krise um 10%, von 1,3 bis 1,1 Kindern pro Frau gesunken, angesichts der Kürzung der Sozialleistungen und der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes wegen Schwangerschaft. 93% der griechischen Jugendlichen (zwischen 16 und 30 Jahren) »fühlen sich vom wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen«, nach einer vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebenen Umfrage … und dieses Gefühl der Ausgrenzung bewegt 43% von ihnen, ihren Lebensunterhalt im Ausland zu suchen. Nur Zypern, mit 51%, übertrifft Griechenland bezüglich der Abwanderung. Wenn junge Menschen die Zukunft Griechenlands sind, so scheint Griechenland keine Zukunft zu haben.
In nur sieben Jahren hat Griechenland eine seismische Erschütterung, eine existenzielle Veränderung erfahren. Von einem landwirtschaftlich geprägten und armen – »aber seelisch intakten« (mit den Worten des Schriftstellers Petros Markaris) – Griechenland vor noch ein paar Jahrzehnten, zu einer Wirtschaft des XXI Jahrhunderts, funktional und profitabel. »Was wir erleben, ist eine groß angelegte kulturelle Revolution, so extravagant diese Einschätzung auf den ersten Blick scheinen mag. Das Ergebnis wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Entweder wird es eine positive Entwicklung geben, weil sich die Wirtschaft erholt und die Menschen ihre tiefen und schmerzhaften Wunden heilen werden, oder eine negative, einen gescheiterten Staat, einen europäischen Paria oder ein zerstörtes Land«, schließt der Analytiker Rapidis.“
Sehr viel Unsinn in einem Absatz: Das Ideal der funktionalen und profitablen Wirtschaft wird hochgehalten, obwohl weit und breit nichts davon zu sehen ist. Nicht nur in Griechenland, übrigens.
Oder ist damit nur gemeint, daß jede Wirtschaft, in der irgendjemand Profite macht, funktional ist – ganz gleich, wie der Rest der Gesellschaft dasteht? Ist damit das volkswirtschaftliche Dogma angesprochen, nach dem der nicht zahlungsfähige Teil der Menschheit gar nicht existiert, weil er als Nicht-Konsument gar nicht im VWL-Buch aufscheint?
Man merkt auch, wofür so Analytiker wie der Herr Rapidis gefüttert und vor die Mikrofone gebeten werden: um jede Niederlage in einen möglichen Sieg umzuinterpretieren, und alle dazu aufzurufen, das Unmögliche zu vollbringen. Die Quadratur des Kreises sozusagen.
„Es gibt einige positive Entwicklungen, aber sie sind auf Athen und Thessaloniki begrenzt und stehen völlig außerhalb der traditionellen Sektoren, die die produktive Basis Griechenlands ausmachen. In den letzten Jahren sind Start-up-Nester wie Openfund entstanden,“ (ein Unternehmen zur Finanzierung und Beratung von Unternehmensgründungen!) „das 200 Unternehmen betreut, oder The Cube Athens“ (ebenfalls eine Beraterfirma, die auch Büroräume für neu gegründete Unternehmen zur Verfügung stellt,) „entstanden. Die Kleinbetriebe hingegen kümmern vor sich hin, die 85% der Beschäftigten im Privatsektor bei sich vereinigen, mit einer Ausnahme: die unzähligen Imbißstuben, die in der Hitze oder Kälte der Krise entstanden sind, und wo man schnell und sehr billig gut essen kann. 2014 und 2015 wies Griechenland einen starken Anstieg im Index von GEDI (Globales Institut für Unternehmen und Entwicklung ) auf, mit welchem das Ökosystem von Unternehmen der New Economy bewertet wird: E-Commerce, ITT (Telekommunikation), F&E (Forschung und Entwicklung). Auf der Schattenseite der wirtschaftlichen Landschaft stimmt der marode Kohlesektor im Norden seinen Schwanengesang an: (die nächste Bildstörung!) Während er vor zwei Jahrzehnten 70% der Elektrizität des Landes generierte, sind es inzwischen nur mehr 40%.“
Das kann natürlich auch etwas mit der EU-Politik zu tun haben, die die Kohle zurückdrängen will. Der Sektor wird also marode gemacht. Außerdem heißt das, daß die Schießung der Kohlengruben Griechenland dazu nötigen würde, 40 % seines Elektrizitätsbedarfes anderweitig zu generieren oder zu importieren.
Der Artikel schließt – sehr angemessen und sehr angestrengt poetisch – wieder mit einem ganz absurden Bild:
Diese Landschaft wird gleichsam nach der Schlacht nach und nach schwarz übergossen, sie ist voll mit ruinenhaften Diagrammen.
Kategorie: Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten
Rollback in Lateinamerika
AUS DER TRAUM?
„Warum endete Südamerikas progressiver Traum so plötzlich?“ fragte vor einigen Tagen der Guardian und bot auch gleich seine Erklärung an: Die alte Korruption holt die neuen Hoffnungsträger ein und macht ihre Bemühungen zunichte:
„Die langsame Zurückdrängung von Südamerikas »rosaroter Welle« bringt die weit verbreitete Korruption ans Tageslicht, die unter dem wirtschaftlichen Erfolg verborgen war, mit dem sich die fortschrittlichen Regierungen der Region eine Zeitlang schmücken konnten. Abgewählt in demokratischen Wahlen in Argentinien, vertrieben durch eine Art Palastrevolution in Brasilien, oder am Rande der sozialen Zusammenbruchs schwankend in Venezuela, – eine Liga von ähnlich tickenden progressiven Präsidenten wurde im Zeitraum von sechs Monaten auseinander gebrochen.“
Es gibt zwar auch noch „progressive“ Regierungschefs, die relativ fest in ihren Sätteln sitzen, wie die Castros in Kuba und Morales in Bolivien, aber im Großen und ganzen gibt der Artikel die Entwicklungen korrekt wieder. Auch die chilenische Regierungschefin Bachelet hat ihren Nimbus verloren, auch dort wurden Korruptions-Vorwürfe laut. Man könnte in diesen Reigen noch die fast vergessenen Putsche gegen Lugo in Paraguay 2008 und Zelaya in Honduras 2009 hinzuzählen, die schon einige Zeit zurückliegen, aber auf eines der zugrunde liegenden Probleme dieser Art von Politikverständnis hinweisen:
1. Was heißt eigentlich „progressiv“?
Was ist das Gemeinsame all dieser Regierungschefs, die als „progressiv“, oft sogar als „links“ eingestuft werden, meistens von ihren Gegnern, die zeigen wollen, daß „links“ endgültig out ist?
Das Gemeinsame ist der Glaube an die Demokratie als Herrschaftsform zu Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen, und an die Marktwirtschaft als einzig mögliche Wirtschaftsform, mit denen sich diese Figuren einen doppelten Widerspruch einhandeln.
Erstens wollen sie einen national erfolgreichen Kapitalismus hinlegen und damit der für ihre Nationalökonomie unvorteilhaften „Arbeitsteilung“ auf dem Weltmarkt entkommen, die sie zu Rohstofflieferanten und Märkten für die Heimatländer des Kapitals eingerichtet hat. Sie wollen also auf dem Weltmarkt gegen ihn die Oberhand behalten. Dieses Projekt wurde auch von antiimperialistisch eingestellten Personen weltweit unterstützt und als inzwischen einzig mögliche Form von Fortschritt und Volksbeglückung beklatscht und hofiert. Sowohl die „progressiven“ Regierungen als auch ihre Anhänger geben damit ihr Einverständnis in die eingerichtete Eigentumsordnung, in Markt, internationalen Handel und die Herrschaft des Geldes, und wollen nur die Spielregeln modifizieren, nach denen diese feinen Einrichtungen weltweit funktionieren.
Es geschieht ihnen also recht, wenn sie jetzt durch die Wirklichkeit eines Besseren belehrt werden.
Zweitens wollten sie diese nationale Kapitalakkumulation gegen ihre einheimische Unternehmerklasse durchsetzen.
Man spricht in Lateinamerika mit gutem Grund von einer Kompradorenbourgeoisie. Diejenigen Eliten, die sich im Laufe der Zeit dort durchgesetzt haben, sind genau diejenigen, die von dieser Rolle als Markt und Rohstofflieferant profitieren. Entweder sie betreiben die Rohstoffquellen, in Bergbau und Landwirtschaft, oder sie vermitteln ihren Export, oder sie bereichern sich am Import der Konsumgüter, die im Land zwar benötigt, aber nicht hergestellt werden. Die Bedienung des inneren Marktes mit vor Ort produzierten Waren ist ihnen kein Anliegen, es läuft ihren Interessen zuwider.
Es ist daher klar, daß die einheimischen Eliten den Kurs der Progressiven von Anfang an hintertrieben haben. Daß sie dabei natürlich auch viel Hilfe aus dem Ausland erhielten und erhalten, ist ebenfalls klar. Schließlich sind sie ja die Garanten dessen, daß die für die USA und EU gedeihliche „Arbeitsteilung“ auf dem Weltmarkt erhalten bleibt.
Das nur an die Adresse derjenigen, die beklagen, die derzeitigen Entwicklungen in Lateinamerika liefen irgendeiner höheren Ordnung oder dem Wohl der Bevölkerung zuwider. Dem Wohle der Bevölkerung dient weder die nationale noch der internationale Vorherrschaft von Geschäft und Gewalt. Und die Idee vom allerseits gedeihlichem Handel und Wandel, der bei etwas gutem Willen doch allen Beteiligten gut täte, ist ein Unfug, der von den Parteigängern des Kapitals verbreitet wird und vor dem sich seine Kritiker hüten sollten.
2. Die internationale politische Dimension des Zurückdrängens
Der Aufschwung diverser lateinamerikanischer Nationalökonomien war dem Aufstieg Chinas – als Macht und als Handelspartner – geschuldet. China zahlte bessere Preise für die Rohstoffe und Agrarprodukte, umging teilweise die Klasse der nationalen Zwischenhändler, vergab Kredite zu günstigeren Konditionen als der IWF und leierte Joint-Ventures auf dem Gebiet der Energieversorgung und der Infrastruktur an. Damit half China dem Kapitalmangel in diesen Ländern ab, ohne die betreffenden Unternehmen dadurch der Oberhoheit der dortigen Regierungen zu entziehen, wie das bei privaten Kapitalinvestitionen ausländischer Firmen sonst der Fall war.
Die Abwicklung all dieser Verbindlichkeiten steht inzwischen an – ob z.B. Argentinien oder Brasilien Verträge aufkündigen will, ob bei China aufgelaufene Schulden einfach nicht mehr gezahlt werden, ähnlich wie bei denen der Ukraine an Rußland, und ob das dem internationalen Währungssystem sehr gut tun wird, wird sich alles erst zeigen.
Die Kehrtwende in Brasilien, sofern sie überhaupt vollzogen wird – die neue Regierung Temer steht derzeit noch, entgegen den Meldungen der Medien, auf sehr wackligen Füßen – hätte sehr weitreichende Folgen.
Was wird aus den Lebensmittellieferungen nach Rußland, mit denen Brasilien nebst anderen lateinamerikanischen Ländern die gesperrten Lebensmittelimporte aus der EU zu ersetzen versuchte, und die aufgrund einer schon vorher getroffenen Übereinkunft nicht in Dollar, sondern direkt über Rubel und Real verrechnet werden? Werden die jetzt wieder auf $ umgestellt, wird Rußland darin einwilligen? Wenn nein, werden sie gestoppt? Was heißt das für Rußland und was für Brasilien?
Was wird überhaupt aus der BRICS-Initiative, wenn ein so wichtiges Land wie Brasilien herausbricht? Was wird aus der BRICS-Entwicklungsbank in Schanghai? Orientiert Brasilien überhaupt seinen ganzen Außenhandel um?
Wenn China aus Brasilien und Argentinien hinausgedrängt wird, springt dann der IWF als Kreditgeber ein? Kann er das überhaupt noch? Oder sind die inneren Spannungen und der Prestigeverlust durch die Ende-Nie-Baustellen im Euro-Raum bereits so fortgeschritten, daß er mit weiteren Löcherstopf-Aktionen seine Funktionalität für das Weltwährungssystem aufs Spiel setzen würde?
Dergleichen Entwicklungen haben das Potential, einen neuen Sturz auf den Weltbörsen auszulösen, da sie die Zahlungsfähigkeit vieler Länder aufs Spiel setzen, die sich bereits teilweise vom Weltgeld $ verabschiedet hatten, und nicht so einfach wieder dorthin zurückkehren können. Auch der Euro als Alternative erscheint nicht mehr sehr perspektivenreich.
3. „Korruption“ als Evergreen des Erklärungsnotstandes, und der wahre Grund: Rohstoffkrise
Diese sehr schwerwiegenden Folgen für die einzelnen Länder, für die Weltwirtschaft und das Weltwährungssystem werden irgendwie gleichermaßen verharmlost und verkehrt dargestellt, wenn der Verfasser im Guardian so locker hinschreibt: „bringt die weit verbreitete Korruption ans Tageslicht, die unter dem wirtschaftlichen Erfolg verborgen war“. Erstens war sie ja nicht verborgen, jeder wußte davon. Es gibt nichts Langweiligeres als die in den Medien so gerne breitgetretenen „Enthüllungen“ über Korruptionsfälle. Zweitens hat sie ja auch niemanden gestört, solange der Kuchen groß genug war, wo die Bestechungsgelder abgeschnipselt wurden.
Und das weist auf den wirklichen Grund der verpufften Reform-Energien oder des Endes der „progressiven“ Illusionen hin. Die solchermaßen hochgejubelten Staaten sind im Grunde Rohstofflieferanten und Märkte für Konsumgüter geblieben, nur hatten die Rohstoffe einen guten Preis und die Konsumgüter waren günstig. Letzteres hängt vom Wechselkurs ab, – wenn sich der ändert, so ändern sich auch die Preise der Importgüter.
Inzwischen ist sowohl der Hunger nach Energieträgern als auch deren Preis stark zurückgegangen. Die schrumpfende Bedarf Chinas und die allgemeine Krise haben überall Produktionsrückgänge zur Folge gehabt. Die Preise für Energieträger sind gefallen, und damit geraten Staaten, die einen guten Teil ihrer Einnahmen daraus beziehen, in Schwierigkeiten. Der ganze Prozeß, der zur Absetzung der brasilianischen Präsidentin geführt hat, nahm seinen Ausgangspunkt bei Ermittlungen im staatlichen Erdölkonzern. In Venezuela schließlich gerät die ganze Devisenbewirtschaftung durcheinander, weil sich die Einnahmen aus dem Ölverkauf so stark reduziert haben.
Im Falle von Rußland hat sich durch die gesunkenen Ölpreise die Zahlungsfähigkeit verringert, sodaß dieses Land auch innerhalb der BRICS als Markt nicht mehr das gleiche Potential hat wie noch vor einigen Jahren. Obendrein hat sich die russische Führung entschlossen, zumindest auf dem Gebiet der Lebensmittelproduktion die Auslandsabhängigkeit zu verringern und den inneren Markt wieder vermehrt mit eigenen Erzeugnissen zu beliefern. Wenn das gelingt, so werden die großen Agrarproduzenten Lateinamerikas weitere Exportausfälle zu verzeichnen haben.
Also von wegen, aus der Traum wegen Korruption und sonstigen menschlichen Schwächen! Genau derjenige Weltmarkt, auf den sie gesetzt haben, hat auf die „Progressiven“ zurückgeschlagen.
Wer zum Schwert greift …
Wahlen
DIE BESTELLUNG DES DEMOKRATISCHEN HERRSCHAFTSPERSONALS
In Österreich wurde gerade ein neuer Bundespräsident gewählt. Das Echo, das dieser Umstand nicht nur im heimischen, sondern auch im internationalen Blätterwald hervorgerufen hat, ist bemerkenswert – um so mehr, als bei der letzten Wahl vor 6 Jahren ziemlich tote Hose war:
„Die große Überraschung bei dieser Wahl (2010) war, dass die Wahlbeteiligung mit 53,6% so gering wie noch nie war. Damit wurde sichtbar, dass Bundespräsident Heinz Fischer und noch mehr das Amt des österr Bundespräsidenten ein deutliches Akzeptanzproblem bei der Bevölkerung hat. Im Anschluß an die Wahl gab es heftige Debatten bei den Parteien und in den Medien, ob man das Amt des Österreichischen Bundespräsidenten nicht einsparen sollte. Das Amt bringt der Bevölkerung wenig und kostet viel zuviel Steuergeld. Die anderen argumentierten, dass es besser wäre, wenn es keine Möglichkeit zur Wiederwahl gäbe. … Die ÖVP schaffte es nicht, einen Kandidaten aufzustellen und gab sogar eine Wahlempfehlung zum Ungültig-Wählen an ihre Anhänger ab.“ (Wahlinformation.at)
Bei der Wahl 2016 wurde auf einmal entdeckt, daß dieses Amt sich keineswegs in rein formal-protokollarischen Repräsentationstätigkeiten erschöpft, sondern daß ihm quasi diktatorische Potenzen innewohnen:
„Laut Verfassung ist der Bundespräsident die höchste Instanz der Republik. Zu seinen Kompetenzen zählt unter anderem die Ernennung und Angelobung der Regierung. Ebenso kann er den Kanzler und seine Minister entlassen – und zwar ohne Angabe von Gründen. Formal amtiert er sogar als Oberbefehlshaber des Bundesheeres.“ (Profil, 9.1. 2016)
In der spanischen Tageszeitung „El País“ nahm der Sieg Van der Bellens den ersten Platz auf der Titelseite ein. Die argentinische Tageszeitung „Clarín“ titelt ähnlich:
„Mit nur 31.000 Stimmen bremst ein „Grüner“ die extreme Rechte in Österreich“
und verrät gleich mit den Grund für die allgemeine Aufregung:
„Erleichterung bei den Führern der EU.“ (Clarín, 24.5.)
Angesichts dieser erklärenswerten Widersprüche und Ungereimtheiten einmal eine Untersuchung dessen, um was für ein Amt es sich da eigentlich handelt.
1. Der österreichische Bundespräsident
Der erste und wichtigste Auftrag dieses Amtes besteht darin, daß sein Inhaber die Nation repräsentiert, also sozusagen das Allerheiligste des heutigen Staatsbürgers bzw. Staatsverständnisses.
Darüber sollte man sich keine Illusionen machen – auch wenn manche Leute beim Begriff Nation schief dreinschauen, auf Demokratie und Rechts- und Sozialstaat pochen und damit ihre Verbundenheit mit diesem Land ausdrücken wollen – letztlich ist es die Nation, die alle zusammenhält und auf die sie als gute Österreicher auch nicht verzichten wollen, wenn sie verantwortungsbewußt zu den Wahlurnen schreiten.
Mit dem Begriff der „österreichischen Nation“ hapert es nämlich ein bißl. Ungern wird sich daran erinnert, daß Hitler Österreicher war, noch weniger gern daran, daß Beethoven keiner war, und daß Nikola Tesla einer war, nimmt die Allgemeinheit erst recht nicht zur Kenntnis.
Die moderne Ideologie, daß das staatliche Gewaltmonopol sozusagen natürlich, gleichsam wie ein Baum aus Sprache und Brauchtum hervorwächst, hat nämlich in Österreich aufgrund von historischen Wachstums- und Schrumpfungsprozessen ihre Sollbruchstellen. Vor einigen Jahrzehnten verschwand Österreich sogar für einige Jahre von der Landkarte und nur eine obskure „Ostmark“ nahm seine Stelle ein.
Deswegen ist es um so wichtiger, daß Österreich einen Bundespräsidenten hat, der glaubwürdig den heutigen Staat Österreich vertritt – glaubwürdig nach innen und nach außen, also die Einheit zwischen Staat und Volk und damit auch den sozialen Frieden in seiner Person vereinigt, auf die sowohl der Politiker als auch der Staatsbürger, der citoyen, so viel Wert legen.
Darüberhinaus ist das Amt auch in guten Zeiten nicht so rein protokollarisch, wie oft getan wird. Man erinnere sich an die Besuche des scheidenden Bundespräsidenten Fischer in China, dem Iran und anderswo, bei denen er sich als Türöffner für die nachdrängende österreichische Unternehmerwelt betätigt hat.
Der BuPrä ist also nicht nur der Vertreter des Volkes, sondern auch des nationalen Kapitals.
Was die jetzt neu entdeckten Vollmachten des Bundespräsidenten betrifft, so sind sie keineswegs neu. Es liegt aber an den jüngeren Entwicklungen innerhalb der EU, daß sie jetzt von verantwortungsbewußten Geistern thematisiert werden.
Jede demokratische Verfassung kennt nämlich auch den Notstand des Staates. Wenn das Volk aufmüpfig wird oder sich nicht auf eine gemeinsame Herrschaft einigen kann, so bietet jede Verfassung die Ausrufung des Notstandes, was was soviel heißt wie:: Demokratie und Bürgerrechte ade! Und diesen Notstand auszurufen und zu betreuen ist – in Österreich zumindest – Sache des Bundespräsidenten. Er, als der höchste Repräsentant der politischen Herrschaft, hat sich um ihre Bewahrung bzw. Wiederherstellung zu kümmern.
Diejenigen Kritiker, die in diesen Befugnissen eine Gefahr für die Demokratie sehen, sitzen einem gründlichen Mißverständnis über das Wesen der Demokratie auf. Die ist nämlich eine Form der bürgerlichen Herrschaft, also derer, bei der es um die Verwaltung der gewinnorientierten Produktion geht. Wenn dieses Ziel mit dem demokratischen Procedere nicht mehr verfolgt werden kann, so sind eben andere Herrschaftsformen gefragt.
Es gilt also nach wie vor der Spruch Horkheimers: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen!“
2. Die Parteienkonkurrenz
Die Parteienkonkurrenz ist identisch mit dem demokratischen Kampf um die Macht. In guten Zeiten, wenn die Profitmacherei der vermögenden Klasse funktioniert und die Arbeiterklasse großflächig dafür eingesetzt wird, ist es leicht, Staat zu machen und die demokratischen Wahlkämpfe laufen mit einer gewissen Routine ab. Von allen Plakaten und Bildschirmen lächeln einem die Kandidaten entgegen und versichern dem p.t. Publikum, daß sie der Beste für das Land sind. Der eine macht mehr auf christlich, der oder die andere mehr auf soziale Gerechtigkeit. Einer trägt einen Trachtenanzug, ein anderer eine rote Krawatte, und alle entdecken die sozial Schwachen, denen sie versichern, daß sie nicht vergessen sind. Dann gibt es noch etwas Geplänkel um Steuern und Bildung, und im Grunde versichern alle, daß es so weitergeht wie bisher, und das Erreichte abgesichert werden soll. Und die Verlierer beglückwünschen nach der Wahl den Sieger und gestehen zu, daß er einfach besser war.
Seit der Krise 2008 klappt diese Idylle immer weniger. Die Ratlosigkeit innerhalb der Parteien wächst, wie sie mit der immer mehr bröselnden Marktwirtschaft umgehen sollen. Auf einmal wollen alle Veränderung. Die Veränderungswünsche klingen ein wenig nach Qualtingers „Wilden auf seiner Maschin’“: Ich weiß nicht wohin, aber dafür bin ich schneller dort!
Als Obama seinerzeit die Wahlen mit der Parole „Change!“ gewann, waren alle hellauf begeistert. Niemand dachte daran, daß Veränderung auch zum Schlechteren führen könnte.
Und so macht sich in der Parteienkonkurrenz und in den Wahlkampagnen einerseits Lustlosigkeit, andererseits Dämonisierung breit. Ich bringe Veränderung! – versprechen viele – ohne genauer zu präzisieren, worin die eigentlich bestehen sollte. Die einzigen, die konkrete Vorschläge haben – abgesehen davon, ob die jetzt gut sind – sind die Parteien der Rechten, die bereits deshalb als „extreme Rechte“ gehandelt werden. Der Rest der Parteienlandschaft zieht sich auf Positionen wie Steuerreform oder erneuerbare Energien zurück, die im Grunde keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, weil jedem klar ist, daß damit keines der Probleme gelöst werden kann, denen sich die diversen Staaten gegenübersehen: Schuldenkrise, kaputte Banken, Negativzinsen, Nullwachstum, Flüchtlinge usw.
In Spanien kommt deshalb seit Monaten keine Regierung zusammen, weil niemand weiß, wie mit dem ganzen dort angehäuften Mist umgegangen werden soll. Die Krise in Spanien wird durch die Austritts-Bestrebungen Kataloniens noch intensiviert. Es ist gar nicht abzusehen, ob Neuwahlen irgendetwas an dem Chaos verändern könnten.
Man muß sich auch vor Augen führen, daß der österreichische Regierungschef zwischen den beiden BuPrä-Wahlgängen zurückgetreten ist und daß sich bei beiden regierenden Koalitionsparteien Auflösungserscheinungen zeigen. Es ist gar nicht klar, wie lange in Österreich eine regierungsfähige Mehrheit zustandekommt.
Stefan Petzner – der „Ziehsohn“ Jörg Haiders, – hat vor dazu ein bemerkenswertes Interview gegeben, dessen Lektüre ich jedem empfehle.
Die Parteien der Rechten bzw. „extremen Rechten“ werden deshalb von den anderen Parteien dämonisiert – sie gefährden angeblich das ganze „System“. Das ist insofern bemerkenswert, als zwar Politiker wie Boris Johnson oder Marie Le Pen den Austritt aus der EU befürworten bzw. überlegen, aber die FPÖ des BuPrä-Kanditaten Hofer dergleichen gar nicht angedacht hat. Österreich gehört eindeutig zu den Gewinnern der EU, so ein Schritt wurde von keiner Oppositionspartei auch nur erwogen. Aber alle Parteien der Rechten stehen unter dem Generalverdacht, die Auflösung der EU zu betreiben – deswegen, wie die EU selbst inzwischen dasteht.
3. Die EU
Die EU hat immer weniger zu bieten – sowohl materiell: jede Menge EU-Gelder für Projekte aller Art wurden in den letzten Jahren eingefroren, und die meisten EU-Mitgliedsstaaten können kein Wachstum vorzeigen – als auch ideell: die Flüchtlingskrise hat die Ratlosigkeit der EU gegenüber den Opfern der imperialistischen Politik, die die EU mitgetragen hat und weiter mitträgt, gezeigt. Die Flüchtlingsströme haben dieses imperialistische Staatenbündnis, das über 23 Millionen Arbeitslose hervorgebracht hat, in seinem Nerv getroffen: Jede Menge Habenichtse kommt in die EU und trifft da auf den Abbau des Sozialstaates hierzulande. Das System des Ein- und Auszahlens aus den Sozialtöpfen kommt langsam an sein Ende, weil immer weniger Menschen vom Kapital benützt und immer mehr aus den jeweiligen Budgets erhalten werden müssen. Das wachsende Elend der EU-Staaten kann den Zustrom der Vertriebenen der imperialistischen Kriege nicht verkraften, und darüber ist die EU als Projekt mehr als fragwürdig geworden.
Es zeigt sich nämlich, daß die ursprüngliche Zielsetzung der EG/EU – als Konkurrent zu den USA um die – zumindest ökonomische – Weltherrschaft zu ringen, gescheitert ist. Die EU ist inzwischen mit Schadensvermeidung beschäftigt, und mit dem Versuch, das ganze Projekt überhaupt vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren.
Man führe sich vor Augen, was ein Auseinanderbrechen der EU bedeuten würde: der Euro als Weltgeld würde entwertet. alle Handelsbeziehungen müßten auf regionale Gelder umgestellt werden und das ganze Weltwährungssystem wäre in Frage gestellt. Sowohl der Brexit als auch die weitere Kreditierung Griechenlands stellen diese Rute ins Fenster.
Deswegen wird die Bestellung des Herrschaftspersonals in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu einer Haupt- und Staats-Aktion. Sogar ein vergleichsweise kleines Land wie Österreich und ein vergleichsweise kleiner Posten wie der des österreichischen Bundespräsidenten werden zu Eckdaten in der Frage: wann bricht die EU auseinander?
Die Frage bewegt, wie man sieht, nicht nur Österreich oder die EU, sondern die ganze Welt.