Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise III

HANDELSKRIEGE, GRENZSCHLIESSUNGEN, FLUGZEUGE AM BODEN – IN WELCHE RICHTUNG GEHT DIE WIRTSCHAFT?
oder: Über die Entwicklung des Spätkapitalismus in Coronavirus-Zeiten
Bisher liegt noch alles in einem gewissen Schlafmodus, alle Entscheidungen werden vertagt. Das kann aber nicht mehr lange so weitergehen.
Wie wird die Politik reagieren, wenn die geschrumpfte Zahlungsfähigkeit Pleitewellen zum Ergebnis hat?
Werden die Konkursregelungen geändert?
Was geschieht, wenn Leute ihre Mieten nicht mehr zahlen können?
Werden Tausende und Abertausende obdachlos, wie in den USA 2008 ff.?
Oder gehen die Mieten und Kreditraten hinunter?
Wenn ja, wer bedient die dadurch gekrachten oder umgeschuldeten Hypotheken?
Wenn nein, wie werden die weiterhin bezahlt, oder wie werden die Ausfälle durch Delogierungen kompensiert?
Wie geht es weiterhin mit der Mobilität der Arbeitskraft?
Wird der Schengenraum, was er einmal war?
Was wird mit den Banken, der Geldschöpfung und dem Kreditgeschäft überhaupt?

Der Streit um die Eurobonds

SCHULDEN IN DER EU – BELASTUNG FÜR DIE EINEN, KONKURRENZMITTEL FÜR DIE ANDEREN
Hier werden einige Statistiken der Schulden der EU-Staaten angeführt und interpretiert. Für die Euroländer wurde diese Quelle verwendet.
Da die Statistik vorige Woche zusammengestellt wurde, sind die Zahlen bereits veraltet, weil sie laufend aktualisiert wird.
Für die Nicht-Euro-Staaten wurde diese Quelle von Ende 2019 verwendet, die natürlich noch mehr veraltet ist und keine Daten zur Pro-Kopf-Verschuldung enthält.
1. Die Verschuldung in absoluten Zahlen
Frankreich 2 409 900 400 000 steigend
Italien 2 395 000 000 000 steigend
Deutschland 2 051,840.750.000 fallend
Spanien 1 273 217 400 000 steigend
Holland 522 736 020 000 steigend
Belgien 506 669 320 000 steigend
Griechenland 362 075 175 000 steigend
Österreich 313 980 830 000 steigend
Portugal 266 576 710 000 steigend
Polen 240 920 000 000
Irland 221 232 355 000 steigend
Finnland 163 485 022 000 steigend
Schweden 163 430 000 000
Dänemark 104 990 000 000
Ungarn 93 000 000 000
Rumänien 75 980 000 000
Tschechien 69 080 000 000
Slowakei 44 985 848 000 steigend
Kroatien 40 050 000 000
Slowenien 29 885 784 150 fallend
Luxemburg 19 566 598 500 steigend
Lettland 17 266 463 000 steigend
Zypern 16 223 047 600 fallend
Litauen 15 880 323 396 stagniert
Bulgarien 12 280 000 000
Malta 6 983 781 700 steigend
Estland 2 447 239 400 steigend
Von den Euroländern gibt es demzufolge nur 3 Staaten, deren Schulden fallen.
Während die Gründe bei Zypern und Slowenien unterschiedlich sein mögen, ist der Grund bei Deutschland der, daß die Bundesanleihe zu einer Referenzanleihe für Bonität geworden ist und sich daher zu Null- und Negativzinsen bedienen kann.
Je mehr Schulden Deutschland daher aufnimmt, um so mehr entschuldet es sich.
Von dieser kommoden Position her kann es natürlich andere Länder belehren, sie möchten doch gefälligst mehr einnehmen und weniger ausgeben, also ihren „Haushalt in Ordnung bringen“.
Es hat dadurch auch die Möglichkeit, die Schulden gegen andere als Druckmittel einzusetzen, weil es selbst über praktisch unbegrenzte Verschuldungsfähigkeit verfügt und aus dieser Position der Stärke anderen ihre Verschuldung begrenzen bzw. verteuern kann. Für diejenigen Staaten nämlich, deren Schulden steigen und die Zinsen zahlen müssen, erhöht sich die Schuld auch noch durch den Schuldendienst, also die zusätzliche Zinslast, die bei jeder neuen Schuldaufnahme hinzukommt.
Es ist daher begreiflich, daß Deutschland von Eurobonds nix wissen will. Es müßte dann auf einmal selbst wieder Zinsen zahlen.
Dieses Spiel mit: Ich kann ausgeben, soviel ich will, ihr hingegen müßt sparen! – läßt sich nur solange fortsetzen, als der Euro besteht und stabil bleibt. Sobald er in die Krise geraten würde, wären auch die Bundesanleihen nicht mehr so gefragt. Deutschland muß also immer genau so viele Zugeständnisse machen, daß dieser Fall nicht eintritt. Das wird dann eben von Treffen zu Treffen ausgetestet.
Am Schlußlicht dieser Liste, Estland, kann man sehen, daß dieses Land offenbar von Verschuldung nichts hält. Seine Politiker sehen Schulden nicht als Mittel der Konjunkturförderung an, und auch nicht als eines der Krisenbewältigung.
Es ist wahrscheinlich, daß die Schulden, die es hat, vor allem aus der Zeit vor der Euro-Einführung stammen und der Währungspflege dienten – Estland gab Anleihen in Euro heraus, um den Wechselkurs der Estnischen Krone gegenüber dem Euro zu halten.
Aber nicht einmal diese Schulden wird es seither los, sondern sie steigen an. Es ist allerdings möglich, daß die estnischen Politiker nicht unangenehm auffallen wollen als praktische Kritiker der Schuldenpolitik und deshalb diese kleine Schuldenlast weiter mit sich herumschieben.
2. Die Verschuldung in Prozent in Bezug auf das BIP
Griechenland 176,9
Italien 132,7
Portugal 128,9
Zypern 109,1
Irland 106,5
Belgien 106
Spanien 103
Frankreich 96
Österreich 86,2
Slowenien 83,2
Kroatien 74,9
Deutschland 71,2
Ungarn 68,2
Holland 65,2
Finnland 63,7
Malta 63,9
Slowakei 52,9
Polen 47,4
Litauen 42,7
Lettland 36,4
Rumänien 35,4
Schweden 35,1
Dänemark 34,1
Tschechien 32
Luxemburg 22,8
Bulgarien 20,6
Estland 10
Unter den ersten 5 Staaten finden sich außer Italien die 4 Rettungsschirm-Opfer. Der „Rettungsschirm“ war nämlich eher ein Hinkelstein, der ihnen in die Arme gelegt wurde. An dieser Statistik sieht man, daß diese Staaten aus der Schuldenfalle nicht mehr herauskommen, welche Jubelmeldungen der Art „X ist zurück an den Märkten!“ auch immer in den Medien verkündet werden. Sogar Portugal, das kurzfristig auch Negativzinsen verlangen konnte, oder Irland, das sich schon seit längerer Zeit zu einem vergleichsweise moderaten Zins verschulden kann, können diese einmal aufgebürdete Last nie mehr abschütteln.
Italien ist zwar, was die absolute Schuld angeht, inzwischen von Frankreich überholt worden, aber die relative Schuldenlast wird sich weiter in Richtung auf den Spitzenreiter zubewegen, weil die Wirtschaftsleistung Italiens immer mehr zurückgeht und dieses Land wahrscheinlich auch in der Coronakrise noch schwerere Einbußen als die anderen EU-Industriestaaten verzeichnen wird.
An der hohen relativen Verschuldung Sloweniens und Kroatiens sieht man, daß diese Staaten offenbar ihre Möglichkeiten überschätzt haben und ihre Wirtschaft sich nicht so entwickelt hat wie ursprünglich erwartet.
Während Slowenien lange als eine Art Ausreißer und Vorzeige-Land galt, das seine sozialistische Ökonomie erfolgreich in die Marktwirtschaft hinübergerettet hat, ist es im Zuge der Finanzkrise 2008 ff. von der Realität eingeholt worden, weil seine Märkte sowohl in den EU-Staaten als in den ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens geschrumpft sind.
Belgien und Spanien sind seinerzeit knapp an einer Zahlungsunfähigkeit und einem Rettungsschirm vorbeigeschrammt. Sie hatten das Glück, daß diese Stützungsfonds-Politik damals aufgegeben wurde, weil sich das Verhältnis von stützenden zu gestützten Staaten nicht noch weiter nachteilig verändern sollte. Damals wurde dann auf das Anleihen-Aufkaufprogramm durch die EZB umgestellt, das diese beiden seither über Wasser hält. Mehr aber auch nicht. Sie sind ständig davor gefährdet, daß ihre Anleihen von den Rating-Agenturen auf Ramsch-Status (BB) heruntergestuft werden.
Vermutlich mit diesen beiden Staaten im Blickfeld hat Christine Lagarde deshalb vor einigen Wochen verkündet, daß die EZB auch solche Anleihen aufkaufen wird, um eine Abwärtsspirale und eine neue Eurokrise schon im Vorfeld abzuwehren. Spanien ist nämlich eine große Nationalökonomie, Belgien ein Gründungsmitglied der EU und ihr Sitz, Schuldenprobleme in diesem Land hätten eine sehr schiefe Optik.
Ungarn betrat das Nach-Wende-Europa mit einem großen Schuldenberg, nachdem es bereits 1982 dem IWF beigetreten war, um seine Verschuldungsfähigkeit zu erhöhen. Nachher kam auch noch einiges dazu, und da sich die Wirtschaftsleistung nicht so entwickelt, wie es sich Viktor Orbán bei seinem Amtsantritt vorgenommen hatte, wird es diese Schuld auch nicht los. Außerdem muß es wie andere Nicht-Euro-Staaten auch eine Euro-Verschuldung zum Zweck der Währungspflege betreiben und Euro-Anleihen auf Euro-Börsen herausgeben, um den Wechselkurs des Forint stabil zu halten.
Genaugenommen handelt es sich um 2 Wechselkurse, da sich das Mißtrauen der Finanzwelt in die ungarische Währung darin ausdrückt, daß ein ziemlicher Unterschied zwischen dem Ankaufs– und dem Verkaufspreis des Forint besteht. Mit dem heutigen Tag muß man 356 Ft für einen Euro hinlegen, für einen Euro erhält man aber nur 328 Ft – wenn überhaupt, weil hohe Wechselgebühren werden auch noch abgezogen. Vor allem der Verkaufspreis des Forint ist seit den Anti-Corona-Maßnahmen Mitte April stark gestiegen.

3. Die Pro-Kopf-Verschuldung der Euro-Staaten

Irland 43.509
Belgien 38.565
Italien 35.721
Österreich 33.864
Frankreich 31.605
Griechenland 28.805
Deutschland 26.523
Holland 26.133
Finnland 23.895
Spanien 23.088
Zypern 22.390
Portugal 22.299
Luxemburg 19.848
Slowenien 15.546
Malta 13.091
Slowakei 7.619
Litauen 5.437
Lettland 4.467
Estland 1.717
Bei der Pro-Kopf-Verschuldung führt nach wie vor Irland. Die Euphorie über den wirtschaftlichen Aufschwung und die Einführung des Euro, was auch als Unabhängigkeit von GB wahrgenommen wurde, hat dem Land erst eine Immobilienspekulation und dann einen Crash beschert. Die Gewinne aus dem Immobilienboom blieben größtenteils bei deutschen Landes- und Kommunalbanken, die dort groß eingestiegen waren, und die bei der Schuldenübernahme durch den Rettungsfonds mit einem blauen Auge davonkamen. Die Kosten für den ganzen Spaß wurden den künftigen Generationen in Irland aufgebürdet.
Noch ein Wort zu den Niederlanden. Holland liegt bei absoluten Schulden im Spitzenfeld, relativ zu BIP und Bevölkerung im Mittelfeld. Es kann sich also seine hohe Verschuldung leisten, ohne ins Gerede zu kommen. Warum eigentlich? Was kann Holland, was dem benachbarten Belgien nicht gelingt?
Wie sich schon bei der Griechenland-Krise und auch jetzt wieder gezeigt hat, scheint Holland ein Sonderverhältnis zu Deutschland zu pflegen, als eine Art Schildknappe, und das könnte auf einem Kreditstützungs-Deal beruhen. Die Bundesbank kauft holländische Anleihen zu einem sehr niedrigen Zins oder Nullzins, und Holland betätigt sich als Scharfmacher, um die Rolle Deutschlands als Schulden-Champion und Schulden-Diktator nicht allzu deutlich hervortreten zu lassen.
——–
Das ist also das Szenario, auf das die Eurobonds-Vorstellungen Italiens stoßen und vor dem sie zuschanden werden.
Irgendetwas müssen Deutschland und seine Flügeladjutanten Italien aber auch geben. Erstens wäre die Verfahrensweise von 2012-2015 mit Troika und Bedingungen nicht wiederholbar, schon allein deshalb, weil der IWF nicht mehr mitspielen würde. Zweitens ginge das auch mit einem Land von der Bedeutung Italiens nicht.
Es war nur einer besonderen Konstellation der italienischen Innenpolitik zu verdanken, daß Monti und Renzi, die Supersparer, überhaupt ihr Programm durchziehen konnten. Der Schock über das Zerplatzen der Euro-Illusionen und aller darauf aufbauenden Kreditblasen machte die italienischen Eliten diesbezüglich willfährig.
Aber die jetzige Politikermannschaft und der strauchelnde Banksektor Italiens stellen diesbezüglich eine etwas härtere Nuß dar.

Überlegungen zum Coronavirus – 8.: Fazit

LEHREN AUS UND BEOBACHTUNGEN ZU EINEINHALB MONATEN CORONA-PANDEMIE
Nach der Untersuchung aller Ursachen, warum Italien durch das Coronavirus besonders betroffen war – andere hingegen weniger –, ist es angebracht, Bilanz zu ziehen, was man dabei über Italien im besonderen, die EU im allgemeinen und unser Gesellschaftssystem überhaupt lernen kann. Dazu kommen noch andere Erfahrungen, die in den letzten Wochen und Monaten weltweit gemacht wurden.
1. Mobilität
Gefordert ist inzwischen eine uneingeschränkte Mobilität, die alle Gesellschaftsklassen umfasst, von Erntehelfern, die notfalls auch eingeflogen werden, über medizinisches Personal und Pflegekräfte, die täglich oder wöchentlich bedeutende Wegstrecken auf sich nehmen, bis hin zum gehobenen Management, das dauernd rund um den Globus von Betriebsbesichtigungen zu Konferenzen jettet, um in der Konkurrenz bestehen zu können.
Zur beruflichen Mobilität kommt die Freizeit-Mobilität. Ständig mit Verlusten kämpfende Fluggesellschaften unterbieten sich gegenseitig, um ja möglichst viele Urlauber auf sich zu ziehen, die ans Meer, auf Inseln, möglichst weit weg von zu Hause, an besonders exotische Flecken oder in gerade aktuell gehypte Ferienparadiese fliegen wollen. Irgendwo an den nächsten Schotterteich oder eine geruhsame Sommerfrische im nächstgelegenen Erholungsgebiet – das war einmal, ist etwas für notorische Loser oder Mindestrentner.
Diese ganze Mobilität hat hohe gesellschaftliche Kosten, was Energie, Lärm und Umweltverschmutzung angeht. Aber sie stellt inzwischen wichtige Sektoren der Wirtschaft: Flughäfen, Häfen, Kreuzfahrschiffe, Fluglinien, Transportunternehmen, Reisebüros, und die Industrie, die diese Flugzeuge, Schiffe und Nutzfahrzeuge herstellt.
Es wird sich herausstellen, wie weit und wie lange sich dieses Herumschieben von Arbeitskräften in CV- und Nach-CV-Zeiten fortsetzen läßt. Erntehelfer einzufliegen kommt auf die Dauer teuer, und läßt vielleicht wieder manche Lebensmittel vom Speiszettel der Normalsterblichen verschwinden. Die Lockdowns haben gezeigt, wieviel Reisetätigkeit sich durch Videokonferenzen und Chats vermeiden und die Betriebsführung dadurch verbilligen läßt. Und der Urlaub und die Zweitwohnsitze am Meer – die Zeit wird weisen, wer sich dergleichen Luxusbedürfnisse überhaupt noch leisten kann.
Alle Sektoren der Mobilitäts-Industrie sehen einer Schrumpfung entgegen, vor allem der Flugverkehr. Damit geht Zahlungsfähigkeit verloren, und die wird sich wiederum in geringerem Berufs- und Urlaubsverkehr niederschlagen, usw. usf.
2. Auslagerung von Produktion
Die Chinesen von Prato, die verlorengegangene Produktion in abgewandelter Form nach Italien zurückbrachten, stellen die Ausnahme dar. Auch italienische Firmen haben, wie viele andere auch, Produktion in ehemals sozialistische EU-Staaten und nach Fernost, vor allem China verlagert.
Sie taten das, genauso wie die Betriebe in anderen Staaten der EU, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Da machen die niedrigeren Lohnkosten und geringeren Umweltauflagen die höheren Transportwege wett, und man hat dann eben, wenn eine Pandemie ausbricht, keine Schutzausrüstung, weil die Masken, Anzüge, Handschuhe usw. bereits seit einiger Zeit von der anderen Seite der Erdhalbkugel geliefert werden. (Oder, im konkreten Fall, nicht geliefert werden, weil dort auch alles stillsteht.)
Der Bundesnachrichtendienst hat die deutsche Regierung gerügt, wie sie das denn hätte zulassen können, so wichtige Dinge im Ausland herstellen zu lassen?
Solche Gesichtspunkte waren aber der deutschen wie der restlichen europäischen Politik in den letzten Jahrzehnten völlig fremd. Das ist auch interessant angesichts der Tatsache, daß wegen CV ein Riesen-NATO-Manöver an der Ostfront der EU abgeblasen wurde. Säbelrasseln gegen Rußland – ja immer! Aber für den Kriegsfall medizinische Ausrüstung zu lagern – nein, an so etwas wurde nirgends gedacht, in keinem NATO-Staat.
(Man merkt daran, wie wenig die NATO-Staaten und ihre Medien an die von ihnen selbst verbreitete Propaganda über die Aggressivität Rußlands glauben – sie sind offensichtlich ganz sicher, daß die Russen tatsächlich nie in die EU einmarschieren werden.)
Wenn immer mehr und mehr Produktion nach Fernost verlagert wird, wie kommt dann eigentlich das vielbeschworene Wachstum zustande? Woher die Sicherheit, daß die Produktion dort erfolgt, der Profit dazu aber hier anfällt?
In Zeiten wie jetzt, wo nicht nur der Personentransport, sondern auch der Warentransport stockt, stellt sich diese Frage mit besonderer Deutlichkeit. Wenn der Salto mortale der Ware, ihr Verkauf, ganz woanders stattfindet als dort, wo sie hergestellt wird, so hat das unter anderem das Risiko, daß mit dem Transport etwas nicht hinhaut. Das zweite Risiko ist, daß die Zahlungsfähigkeit auf dem anvisierten Markt flöten geht. Das ist etwas, was sich in der ganzen EU, und besonders in Italien abzeichnet. Die Coronavirus-Krise in Europa könnte gut zu einer Absatzkrise in China führen. Und erst recht zu einer Pleitewelle derjenigen europäischen Betriebe, die bisher ihr Geschäft mit Ware Made in China gemacht haben.
In manchen Staaten werden Überlegungen laut, bestimmte Produktionen wieder zurück ins eigene Hoheitsgebiet zu holen. Da ist wieder die Frage: Wie? – immerhin handelt es sich ja um die Freiheit des Eigentums und die Akkumulationsfähigkeit des heimischen Kapitals, die die Verlagerung nach China veranlaßt haben.
3. Spektakel, Unterhaltungsindustrie
Die Unterhaltungsindustrie bewegt ziemliche Kapitalien, und sie bewegt sich immer mehr in Richtung Spektakel: Großveranstaltungen aus Sport, Kultur, Musik und sonstige Events aller Art bescheren den Veranstaltern hohe Einnahmen, die allerdings durch immer höhere Sicherheits-, Logistik- und Werbeausgaben, Gagen, Versicherungskosten und weiteres geschmälert werden. Deswegen bemühen sich die Akteure dieser Spektakel, noch mehr Menschen anzuziehen, denen sie das Live-Erlebnis verschaffen, und zusätzlich durch Fernseh- und Internet weitere Einnahmen zu lukrieren: Größer, lauter, bunter, mehr, höher – in diesen Superlativen versuchen sich Unternehmen aus Kulturindustrie und Sport über Wasser zu halten.
Interessant ist auch die andere Seite: Warum lassen sich so viele Leute in diesen Strudel hineinziehen, oder: Was macht die Attraktivität dieser Großveranstaltungen aus?
Es muß etwas Ähnliches sein, was in sozialistischen Staaten früher die Massen für Paraden und andere Demonstrationen der Einheit zwischen Staat und Volk auf die Straße gebracht hat: Das Gefühl, wo dazuzugehören, mit vielen Gleichgesinnten an etwas teilzuhaben, der Isolation zu entkommen. In der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ist dieses Gefühl der Einheit um so wichtiger, weil es in Kontrast zu den täglichen Erfahrungen steht, wo man ständig untergebuttert und an seine Macht- und Bedeutungslosigkeit erinnert wird.
Außerdem übertönt dieses Laute und Grelle der Spektakel die Töne, die sich im Inneren der Menschen immer wieder melden: Kann ich meine Miete weiter zahlen? Liebt mich mein Partner noch? Verläßt er/sie mich womöglich bald? (Das hat durchaus auch was mit der Miete zu tun, weil allein ist die dann gar nicht mehr zu stemmen.) Habe ich meinen Job nächstes Jahr/ nächsten Monat noch? usw.
Existenzielle Ängste, was ist das?! Heute jubeln wir, feiern wir, saufen uns zu, erfreuen uns am Sieg unserer Mannschaft oder dem Konzert unseres Lieblings-Schlagersängers.
All diese Veranstaltungen sind auf der einen Seite im System von „Brot und Spiele“ wichtig für das Funktionieren der Klassengesellschaft, aber sie stellen auf der anderen Seite eine Art Zusatzveranstaltung dar, bedienen wie Alkohol und Drogen das Luxusbedürfnis des Sich Zu- oder Wegtörnens und müssen aus irgendeiner Art von Surplus-Produktion finanziert werden.
Heute sind diese Veranstaltungen alle gestoppt wegen Ansteckung, aber sie werden in Zukunft überhaupt sehr heruntergefahren werden, weil auch hier der lange Stillstand auf den Umstand hingewiesen hat, wie überflüssig sie eigentlich sind, und daß die Veranstalter nie mehr mit den Besucherzahlen wie bisher rechnen können.
4. Die gesellschaftliche Reproduktion
Jede Gesellschaft, ob Stämme im Urwald, mittelalterliche Fürstentümer, kapitalistische oder sozialistische Wirtschaft läßt sich im ökonomischen auf die 3 Haupt-Gebiete reduzieren: Produktion-Distribution – Konsum.
Unsere heutige Gesellschaft, der moderne Kapitalismus, die globalisierte Marktwirtschaft, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß an einem Ende der Welt produziert wird, was am anderen konsumiert wird. Die Distribution, vermittelt über Transport, Logistik, Lagerung, nicht zu vergessen Wechselkurse und Zahlungsverkehr, macht einen im Vergleich zu anderen Gesellschaften unverhältnismäßig großen Teil der gesellschaftlichen Tätigkeit aus. Das gilt nur für den Fall, wenn man die ganze menschliche Gesellschaft betrachtet.
Nimmt man aber kleinere Einheiten, also einzelne Staaten, so stellt sich ihre Lage so dar, daß die Bewohner von vielen von ihnen fast nichts mehr produzieren, was sie oder andere brauchen. Ihre Mitglieder können ihren Lebensunterhalt nur bestreiten und ihren Konsum nur vollziehen, indem sie sich entweder als Transitland oder auf andere Art Dienstleister für die Distribution nützlich machen, oder bei der weltweiten Freizeitindustrie mitmachen.
Letztere – also Tourismus aller Art – stellt wirklich eine Besonderheit unserer Gesellschaft dar, und sie gehört damit in die Sphäre der Luxusbedürfnisse – also derjenigen Bedürfnisse, die entbehrlich sind, wenn Not herrscht und man jeden Groschen umdrehen, oder jeden Grashalm verwerten muß.
Nach monatelangen Shutdowns mit allen Nebenerscheinungen stellt sich heraus, daß diejenigen Staaten, die produzieren, weitaus besser aufgestellt sind als andere, denen ein guter Teil ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlage abhanden kommen könnte.

5. Messegelände

In der Coronakrise wurden überall hektisch Messehallen zu Notfallkrankenhäusern umgebaut. Es stellt sich heraus, daß fast jede größere Stadt über so etwas verfügt.
Man muß sich das bewußt machen: In Zeiten steigender Obdachlosigkeit, wo immer mehr Menschen unter Brücken, in Tunnels und in Notquartieren hausen, stehen große Objekte herum, die den größten Teil des Jahres leerstehen. Nur wenige Städte schaffen es, einen halbwegs durchgehenden Messebetrieb auf die Beine zu stellen. Bei den anderen bleibt der Wunsch der Vater des Gedankens. Diese Hallen, Zufahrten, Parkplätze und Parkhäuser wurden erstens gebaut und müssen zweitens gewartet werden – mit welchem Geld, so fragt man sich? – während gleichzeitig für Kindergärten, Pensionen oder Sozialhilfe immer zu wenig da ist.
Sie sind Denkmäler dessen, daß in unserer Gesellschaft absurde Ausgaben getätigt werden, während die wirklichen und breite Bevölkerungsschichten betreffenden Bedürfnisse nur sehr bedingt zählen und bedient werden.

6. Medizin im Kapitalismus

Zur Medizin und dem Gesundheitswesen haben wir viel gelernt: Erstens, und das ist wirklich bemerkenswert, daß Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Handschuhe offenbar in ganz Europa als höchst überflüssige Anschaffung betrachtet wurden, bevor das Coronavirus auftauchte. Einfache Hygiene-Artikel waren nirgends lagernd, werden in Europa kaum mehr hergestellt und es galt als höchst wirtschaftlich und schlau, sie vom anderen Ende des Globus zu beziehen.
Generell wurde in den letzten Jahres vieles, was Kranke brauchen, um gesund zu werden, als hinausgeschmissenes Geld betrachtet. Krankenhausbetten, die für den Fall zur Verfügung stehen, daß Menschen krank werden und deswegen dort hineingelegt werden müssen, wurden von Rechnungshöfen und sonstigen, teilweise privaten Evaluierern als eine Art Hotelbetten betrachtet, die so und so viel Tage im Jahr ausgelastet sein müssen.
Durch das Internet und auch die offiziellen Medien geistern Expertenmeinungen, die feststellen, man soll doch ruhig ein paar Leute sterben lassen, das sei normal, man könne nicht alle retten, und die Gesunden kommen schon durch. Diese Leute treten auch mit onkelhafter Gestik, als Fachleute zur Vermeidung von Panik auf, sie sind gütige Beruhiger, macht euch doch keine Sorgen, euch erwischt es eh nicht, sondern die anderen!
Besonders befeuert werden sie von schwedischen Gesundheitspolitikern, die stolz auf ihre Bevölkerung verweisen, die das Coronavirus besser überstanden hat als diejenige anderer Länder. Eine gesunde Nation, sapperlot!
Man fragt sich angesichts dieser Meldungen, warum wir eigentlich überhaupt Krankenhäuser und Ärzte haben? Im Grunde wird durch diese Sichtweise das gesamte medizinische Wissen entwertet, und die Heilkunst zu einer Art gesellschaftlicher Überempfindlichkeit stilisiert, wenn sie Kranke gesund machen oder vor dem Sterben bewahren will.
Diese Auffassung existierte sicher bereits vor dem Auftreten des Coronavirus, aber sie ist zweifelsohne populärer geworden bei Teilen der Bevölkerung, die nicht erkrankt sind und deren Einkommen durch die seuchenpolitischen Maßnahmen gefährdet ist.
Eine Art von Unterscheidung tritt auf, ein bekennendes Fordern nach Selektion, das nicht mehr (nur) zwischen Inländern und Ausländern, sondern zwischen Gesunden und Kranken eine Grenze zieht. Das „Wir“ der Braven und Fleißigen, die nicht rauchen, keinen Ballermann machen und sich um ihre Gesundheit kümmern, bläst ins Jagdhorn gegen die Alten, Schwachen, Drogensüchtigen usw. usf., die eigentlich als unnötiger Ballast bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgeschüttelt werden sollten.
7. Umwelt
Daß die Umwelt in einem schlechten Zustand ist und der Klimawandel zu einem guten Teil hausgemacht ist, war vor der Coronakrise das Thema Nr. 1, es gab FFF-Demos und viele Verantwortliche runzelten die Stirn, wie man denn den CO2-Ausstoß verringern und den Planeten retten könnte. Man dachte an die Natur, die Landwirtschaft, die Naturkatastrophen, Dürre und Waldbrände, die Grundlagen der Ernährung, also sehr allumfassende und auf die Natur bezogene Besorgnisse und Maßnahmen.
Aber inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Bedingungen, unter denen viele Menschen leben, die Brutstätte von Krankheiten sind, und nicht nur in Hinterindien, wo es kein sauberes Wasser gibt, sondern in den Metropolen industrialisierter Staaten, in der Lombardei und in New York. Der Smog, beengte Wohnverhältnisse, veraltete Infrastruktur und eine moderne Armutsmedizin, die die Menschen mit Antibiotika, Tranquilizern und Schmerzmitteln ruhigstellt, haben sich als die wirklichen Krankmacher herausgestellt, die das Virus nur für alle sichtbar gemacht hat.
Die ganze Umwelt-Debatte ist ein wenig aus der Atmosphäre, den Ozeanen, Urwäldern und Wüsten, dem Geschrei um gefährdete Tierarten, Pflanzen und Inseln in den Alltag des Hier und Jetzt zurückgekehrt: Worum geht es eigentlich beim Thema „Umwelt“? – um die Menschheit, die Zukunft, das Klima? – oder vielleicht zunächst einmal darum, wie in den Metropolen des Kapitals gelebt und gestorben wird?

8. Energie

Sehr betroffen von der Corona-Krise ist die Energiewirtschaft: Die eingeschränkte Mobilität und das Ruhen vieler wirtschaftlicher Tätigkeit läßt den Ölpreis abstürzen, wird aber auch viele Anbieter erneuerbare Energie in Schwierigkeiten bringen, weil auch sie mit der sinkenden Nachfrage und höheren Herstellungskosten zu kämpfen haben.
Wie die Fracking-Industrie und die darauf aufbauende Weltpapierspekulation aus diesem Wellental herauskommen und der Streit um North Stream und Ukraine-Gastransit weitergehen wird, ist unklar.
Das
9. Wachstum
wird jedenfalls in nächster Zeit nicht mehr so richtig flutschen.
Vielleicht kommt jetzt nach Null- und Negativzinsen das Null- und Negativ-Wachstum und die Prognosen werden sich darin überbieten, geringeren oder höheren BIP-Rückgang zu prophezeien.
Was das für die aufgehäuften Schuldenberge bedeutet, muß sich auch erst herausstellen.