Serie „Lateinamerika heute“. Teil 5: Argentinien

„DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE

Der Abzug von Kapital aus den Schwellenländern beeinträchtigt die Wirtschaft. Der Peso hat seit Jänner 50 % seines Wertes eingebüßt, der Zinsfuß steht bei 60 %, die Inflation wächst in einem fort und das BIP wird 2018 schrumpfen.“ (El País, 16.9. 2018)

Der Titel des Artikels gibt schon vor, wie man die Sache betrachten soll: Argentinien ist einfach ein Krisenland, nichts zu machen, das ist eine Eigenart dieses Landes. (Hat natürlich nichts mit Kapitalismus, Geld, Kredit, Weltwirtschaft und dgl. zu tun.)
Auch der Begriff des „Schwellenlandes“ (im Original heißt es: „aufstrebenden Landes“) hat es an sich, obwohl das sozusagen als Selbstverständlichkeit unterstellt wird: Es gibt einen Haufen Länder, die bemühen sich ständig, so erfolgreich zu werden wie wir hier in Europa, und das ist ja auch redlich und gut, sie schaffen es aber einfach nicht.
Niemand fragt nach, warum eigentlich diese Länder schon so lange in der Warteschlange zur erfolgreichen Kapitalakkumulation stehen, aber partout nie den Schritt über die „Schwelle“ tun.

Auch das mit der „Wiederkehr“ der Krise ist der Untersuchung wert. Wir haben ja im Verlauf der letzten 10 Jahre einen Haufen Schuldenkrisen erlebt, die EU schiebt einen riesigen Schuldenberg vor sich her, von den Maastricht-Kriterien hört man schon lange nichts mehr – und jetzt sollen die Probleme Argentiniens so betrachtet werden, als wäre das ganz was besonderes, hinter den 7 Bergen bei den 7 Zwergen, und hat mit „uns“ überhaupt nichts zu tun.

Zur argentinischen Schuldenproblematik siehe auch:

1. Die Vorgeschichte
sei hier einmal kurz zusammengefaßt: Unter dem Finanzminister der Regierung von Carlos Menem, Domingo Cavallo, schloß Argentinien mit dem IWF 1991 ein Abkommen, das als „Plan Cavallo“ in die Geschichte einging. Die argentinische Regierung privatisierte alles, was nur ging, und der IWF bescheinigte im Gegenzug, daß der Peso so viel wert sei wie der Dollar. Diese Dollar-Peso-.Parität, genannt „currency board“, galt damals als das non-plus-ultra der Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität, der „Plan Cavallo“ wurde als Geniestreich gelobt. Im Zuge dieser Euphorie, endlich den Stein der Weisen gefunden zu haben, führte Ecuador im Jahr 2000 gleich den Dollar ein, um es noch besser zu machen.

Macris Schwanengesang? 11.5. 2018
Argentinien schifft wieder ab 31.1. 2016
Fleundschaft! 15.8. 2015
Der Argentinien-Krimi, neueste Folge 11.7. 2014
Argentinien am Scheideweg 19.6. 2014
Aasgeier kreisen über Argentinien 24.2. 2013
Der IWF, Teil 6: Argentiniens Zahlungsunfähigkeit 2.8. 2011

Heute ist diese Politik vorbei. Auf eine kritische Betrachtung seitens der Wirtschaftswissenschaften oder gar eine Selbstkritik des IWF wartet man bisher vergeblich. Das Currency Board starb 2002.
Die Privatisierung führte zu großflächigen Betriebsschließungen, beraubte das Land eines guten Teils seiner Produktion und erhöhte den Importbedarf Argentiniens. Die USA und vor allem die EU waren die Gewinner, ihnen erschloß sich ein Markt. Und ein zahlungsfähiger, da ihre Gewinne aufgrund der Peso-Dollar-Parität problemlos transferierbar waren.

Um den ständig wachsenden Importbedarf zu finanzieren, begab Argentinien jede Menge Anleihen auf den Börsen von New York und Frankfurt. Sie waren lange Zeit sehr begehrt, aber mit der Zeit mußte Argentinien immer höhere Zinsen anbieten, um sie loszuwerden. Zum gestiegenen Importbedarf gesellte sich ein ständig wachsender Schuldendienst.
Als sich bereits dunkle Wolken über Argentinien zusammenzogen, verhandelte es mit dem IWF einen neuen Beistandskredit. Der Devisenschatz war aber bereits so geschrumpft, daß der Wunderknabe Cavallo (heute unterrichtet er wieder Wirtschaftswissenschaften in Harvard) die Sperre der Bankguthaben verfügte. Im darauf folgenden Volksaufstand trat die Regierung De La Rúa zurück, Argentinien war 2 Wochen ohne Regierung, der IWF hatte keinen Verhandlungspartner mehr, und Argentinien war zahlungsunfähig.

Unter dem 2003 gewählten Präsidenten Néstor Kirchner wurden mit über 90 % der Gläubiger Argentiniens Vergleiche geschlossen, denen zufolge sie auf einen guten Teil ihrer Forderungen verzichteten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen.
Argentinien konnte sich allerdings seit dem Bankrott Anfang 2002 nicht mehr auf den internationalen Finanzmärkten verschulden. Obwohl man an diesem Fall schön studieren kann, wer bei den Krediten an Argentinien gut gefahren ist und wie sehr sie Argentinien geschadet haben, war die Sehnsucht groß, wieder in den Schoß des Finanzkapitals zurückzukehren. Nur mit Hilfe Venezuelas und Chinas kamen die Regierungen von Néstor und Christina Fernandez de Kirchner an Kredit. Auf eine Zusammenarbeit mit dem IWF war niemand neugierig.

2. Macri verspricht die Lösung aller Probleme
Der zum Jahresende 2015 gewählte Präsident Mauricio Macri versprach, mit allen angeblichen Fehlern seiner Vorgängerregierungen aufzuräumen. Er verhandelte offensichtlich im Vorfeld seiner Wahl mit Gläubigern und Banken, dem Gericht in New York, den „Geierfonds“ usw. und versprach jede Kooperation. Auch zu Hause gelang es offenbar, die Unternehmerschaft und die politische Klasse davon zu überzeugen, daß sich unter ihm alles zum Guten wenden würde. Über das auch in Argentinien vorhandene Klientelwesen reichte das dann für einen Wahlsieg, der von der internationalen Presse euphorisch begrüßt wurde. Mit unglaublicher Idiotie und Verdrehung der Tatsachen wurde das Notprogramm, das unter den Kirchners die argentinische Ökonomie in Gang hielt, als „Mißwirtschaft“ abgetan. Der Bankrott 2001/2002 war keiner Erwähnung wert, und soziale Programme wie die Stützung von Energie- und Lebensmittelpreisen und rudimentäre Zuwendungen an die Ärmsten der Armen wurden als Geldverschwendung, unterlassene infrastrukturelle Reparaturen als Korruption und Schlendrian verurteilt. Auch die chinesischen Investitionen wurden heruntergemacht, sie brächten „eigentlich“ Argentinien nichts.

Zum Unterschied von den Reformen, die Macri vorhätte, da würden natürlich blühende Landschaften entstehen. Denn eigentlich sei Argentinien ja

3. „Ein reiches Land“

Diese Phrase erklingt mit schöner Regelmäßigkeit in den Medien, wenn irgendwo eine mißliebige Regierung angeschwärzt werden soll. Da werden auf einmal Möglichkeiten des Wohlstands entdeckt, und auf seltsame Art und Weise der Unterschied bzw. Gegensatz zwischen abstraktem und konkretem Reichtum dingfest gemacht.

Argentinien verfügt über große, sehr fruchtbare und klimatisch begünstigte landwirtschaftliche Flächen. Während die Pampas im 19. Jahrhundert zwar als Viehweide dienten, aber hauptsächlich das Leder auf dem Weltmarkt nachgefragt wurde, wurde Argentinien im 20. Jahrhundert ein großer Agrarproduzent. Nach beiden Weltkriegen versorgte Argentinien das zerstörte Europa sehr günstig mit Getreide und Fleisch. Dem Präsidenten Juan Domingo Perón war diese Rolle jedoch nicht genug, er wollte zusätzlich eine eigene Industrie aufbauen, um die Hemdlosen mit heimischen Produkten zu bekleiden und auf dem Weltmarkt als gleichberechtigter Partner und nicht bloß als Rohstofflieferant auftreten zu können.
Die unter Perón aufgebaute Industrie wurde mit dem Menem-Cavallo-IWF-Privatisierungsprogramm größtenteils stillgelegt. Unter Cristina Fernandez de Kirchner kam es zu Wiederverstaatlichungen – ein Versuch, wieder etwas wie eine eigene Produktion aufzubauen.

Damit machte sich die argentinische Regierung nicht beliebt, weder beim IWF, noch bei den Politikern von EU und USA, noch bei Medien und „Experten“. Ein Land wie Argentinien soll sich gefälligst verschulden, um uns dann unser Zeug abkaufen zu können!
Was die agrarische Produktion angeht, so kam Argentinien auch am Höhepunkt des Rinderwahnsinns nicht zum Zug – die junge EU war 1992-3 nicht bereit, die Quoten für garantiert BSE-freies argentinisches Rindfleisch zu erhöhen, da sie ihren Agrarmarkt schützen wollte.

Bereits zu Zeiten der Dollarparität waren beträchtliche Teile der Bevölkerung der Nordprovinzen mangelernährt, da die Produkte der fetten Weiden und Äcker bei ihnen nur spärlich ankamen. Auch innerhalb Argentiniens muß man nämlich für Lebensmittel Geld hinlegen, und genau davon hatten viele Bürger Argentiniens einfach zu wenig.
Nach dem Bankrott 2002 verhungerten in den nördlichen Provinzen jede Menge Kleinkinder, und auch heute ist es nicht so, daß der angebliche „Reichtum“ dieses Landes der Mehrheit seiner Bewohner zu Gute käme. Inzwischen sind nämlich weite Flächen des Landes auf Cash Crops, Produkte für den Devisenexport reserviert. Vor allem Soja, mit jeder Menge Monsanto-Chemie aufgeblasen, wächst heute in Argentinien, der Haupt-Abnehmer dieses Produktes ist China.
Was Argentiniens fette Böden angeht, so trifft Eduardo Galeanos Überschrift von der „Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“ zu. Er charakterisierte damit die Kolonialzeit, aber die Marktwirtschaft hat hier ein möglicherweise noch durchschlagenderes Ergebnis: Alles, was sich in Argentinien zu Geld machen läßt, soll als Geschäftsmittel dienen, damit soll Argentinien seine Schulden zahlen, so die ultimative Weisheit von IWF, Wirtschaftsexperten und G 20-Gipfeln. Wenn die Bevölkerung hungert oder massenhaft auswandert, so ist das eben Pech. Schicksal, hat jedoch mit Geschäft, Gewinn und Kredit nichts zu tun.

Macri wurde beklatscht, weil er das genauso sieht.

4. Argentinien und die Drogen
Argentinien war lange Zeit für den internationalen Drogenhandel ziemlich unwichtig. Die Kokainproduktion wurde nach Norden oder Osten verschifft, ausgeflogen oder sonstwie transportiert. Die Märkte waren in den USA und Europa.

Seit dem Zusammenbruch der Ökonomie nach dem Bankrott 2002 wurde Argentinien jedoch immer wichtiger für den Handel, sowohl als Abnehmer-, als auch als Transitland. Der soziale Abstieg und das Elend ließen den Konsum an harten Drogen ansteigen. Die Kämpfe der USA-Drogenbehörde DEA gegen den Drogenanbau und -handel in Kolumbien und Mexiko brachten die Drogenkartelle darauf, andere Vertriebsrouten zu suchen. Und sie entdeckten Argentinien als Land guter Straßen und Häfen, wo aufgrund der unerfreulichen wirtschaftlichen Umstände nicht so genau darauf geachtet wurde, was da so durch das Land fuhr und über die Häfen verschifft wurde.
Schließlich entdeckte der Drogenhandel auch Argentinien als Möglichkeit zur Geldwäsche. Der Anlagebedarf der Kartelle verschaffte Argentinien einen Immobilienboom und brachte Devisen ins Land.
Schließlich haben sich in Argentinien auch Labors für synthetische Drogen etabliert. Es ist also auch selbst zu einem Drogenproduzenten geworden.

Alle diese Sphären bringen Argentinien die dringend benötigten Devisen und wurden deshalb weder von den Kirchner-Regierungen noch von ihren Nachfolgern besonders bedrängt.

5. Die Entwicklung der Schuld

Als die Regierung Macri sich mit denjenigen Gläubigern einigte, die den Kirchnerschen Vergleichen nicht zugestimmt und Argentinien verklagt hatten, und ihnen die Schuld vollständig zurückzahlte, erkannte Argentinien damit de facto die gesamte Altschuld an. Mit dieser Einigung wuchs also die Schuld Argentiniens gewaltig an. Dafür erhielt Argentinien wieder Kredit, sodaß auch die Neuverschuldung rasant zunahm.
Es ist anzunehmen, daß Macri bei seinen Verhandlungen mit den großen US-Banken Versprechungen gemacht wurden, die dann nicht eingehalten wurden. Ihnen ging es um die Anerkennung der Altschuld.

„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld. … Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.“ (Marx, Kapital I, Kap. 24/6)

Es ging also nur darum, einen Blöden – oder Agenten – zu finden, der diese Schuld wieder dem argentinischen Staat bzw. der argentinischen Bevölkerung umhängt. Macri hat in diesem Sinne seine Schuld getan und kann gehen. Er kann sich als Verdienst anrechnen, die argentinische Schuld gewaltig erhöht zu haben – es ist noch nicht genau heraußen, auf wieviel, die Rede ist von 200 bis 300 Milliarden Dollar, es kann aber auch mehr sein.
Die Sache ist damit aber noch nicht durchgestanden. Der Peso hat in diesem Jahr die Hälfte seines Wertes verloren, der Schuldendienst ist gewaltig, da teilweise zu 40 % verzinste Anleihen ausgegeben wurden. Inzwischen ist der Zinsfuß auf 60 % angelangt, der IWF verhandelt in einem fort, auf ein Stützungsprogramm folgt das nächste.

Einen neuerlichen Bankrott kann sich Argentinien und vor allem das Weltfinanzsystem nicht leisten.
Ob es gelingt, ihn zu verhindern, und wie, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

siehe dazu auch:

Radiosendung zu Argentinien in 2 Teilen: Schmutziger Krieg, Militärdiktatur, Falkland-Krieg, Staatsbankrott (März 2019)
https://cba.fro.at/399234
https://cba.fro.at/399254

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 4: Chile

45 JAHRE DANACH

Als der Putsch in Chile die Volksfrontregierung mit einer Gewaltorgie wegräumte, die sogar damals eher ungewöhnlich war, ging ein Aufschrei durch die damalige Presse. Die Pinochet-Partie legte nämlich Wert darauf, durch möglichst öffentliches Zeigen ihrer Brutalität den mit der Volksfrontregierung sympathisierenden europäischen Regierungen zu zeigen: Haltet euch da raus, jetzt sind wir dran!

Während es in den 70-er und sogar noch 80-er Jahren Veranstaltungen zu den Opfern des Terrors der Militärregierung und dem von der Volksfrontregierung vertretenen Programm der „Revolution in der Legalität“ gab, ebbte dann das Interesse an Chile ab. Diese Veranstaltungen bezogen sich vor allem auf das, was vorher los war.

Was ist aber eigentlich seit 1973 in Chile geschehen?

1. Die Chicago boys

Der Umstand, daß das Pinochet-Regime sofort mit allen sozialen Errungenschaften der Volksfrontregierung und sogar der vorher regierenden Christdemokraten aufräumte, und Arbeitsschutzgesetze, Mindestlohn, Kündigungsschutz usw. auf einmal nicht existierten, machte Chile zum idealen Betätigungsfeld für überzeugte Absolventen der Chicago School und der Lehren Milton Friedmans. Es handelte sich dabei um junge Chilenen aus dem Anti-Volksfront-Lager, denen durch ein großzügiges Stipendienprogramm verschiedener in den USA beheimateter antikommunistischer Stiftungen zum Studium in den USA, vor allem eben auf der Universität von Chicago, verholfen worden war.
Der Staat, so der Kern der Doktrin dieser Menschenfreunde, solle nur die Rahmenbedingungen – Geld, Gewalt – zur Verfügung stellen, und alle wirtschaftliche Tätigkeit der „Privatinitiative“, sprich: dem Kapital überlassen.
Einerseits ist das eine sehr harte Auskunft über die Rolle von Staat und Kapital und wie die Bevölkerung in deren Überlegungen vorkommt: Wen das Kapital nicht braucht, der kann ruhig verhungern oder sonst irgendwie an Mangel zu Grunde gehen, und wer sich gegen das wehrt, der gehört weggeräumt.
Andererseits zeigt sich, daß sich der Staat nicht auf diese ihm von den Liberalen zugedachten Aufgaben reduzieren läßt, sondern noch in anderer Form in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen muß, um seine eigenen Grundlagen zu erhalten.

Bemerkt hat das chilenische Regime diesen Umstand an der Grundfrage des Geldes.

Im Zuge der Umgestaltung zu einer Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber wurden die Gewerkschaften zerschlagen, die Abfindungen und das Streikrecht abgeschafft, und alles, was möglich war, privatisiert, so auch das Bildungswesen und das Pensionssystem.
Die Verminderung der Zölle und die Liberalisierung des Zugangs zu Devisen für einheimische Importeure führten schließlich zu einer immer stärkeren Abhängigkeit von Importen und einer negativen Handelsbilanz, und im Jahr 1982 zu einem mittleren Börsencrash, der auf den Auslandsschuldendienst Chiles und den Wechselkurs äußerst negative Folgen hatte.
In Folge des Beinahe-Bankrotts und der Rezession, in die Chile 1982 geriet, wurden die Chicago boys aus den einflußreichen Posten hinauskomplimentiert. Außerdem versuchte die Pinochet-Partie von da an so etwas wie staatliche Wirtschaftspolitik, um die Ökonomie Chiles zu diversifizieren und außer dem wichtigsten Produkt Chiles, dem Kupfer, auch noch andere Wirtschaftszweige zu entwickeln, mit denen Chile Devisen an Land ziehen konnte. Das waren der Obstanbau und die Waffenproduktion.

2. Das Kupfer

Außer den allgemeinen strategischen Überlegungen der Weltmacht Nr. 1, die in ihrem Hinterhof keine kommunistischen Experimente wollte, machte sich die Volksfront-Regierung mit ihrer Verstaatlichung der Kupferbergwerke in den Augen der US-Regierungen und des CIA vollends unmöglich.
Dazu muß man bemerken, daß die Idee, den Kupferabbau von den vor allem amerikanischen Aktionären zurückzukaufen oder auf andere Art in das Nationaleigentum Chiles zu überführen, nicht erst mit der Volksfrontregierung aufkam. Verschiedene Vorgängerregierungen hatten in dieser Richtung bereits gehandelt, so auch unter Allendes unmittelbarem Vorgänger Frei Montalva. Zunächst gelangte der chilenische Staat durch Aktienkäufe zu einer Mehrheit und durch eine Verfassungsänderung und dem Gesetz 17450 aus dem Jahr 1971, die vom Parlament einstimmig angenommen wurden, wurde der chilenische Staat schließlich der alleinige Besitzer der Kupferbergwerke.

Die Verstaatlichung der Kupferbergwerke wurde von der Militärregierung beibehalten. Hier gab es nichts mit Privatisierung oder Restitution. Es ist wahrscheinlich, daß Pinochet sich das bei seinen Verhandlungen mit seinen USA-Kollegen ausbedungen hatte. Es wurden zwar neue Konzessionen ausgegeben, aber die unter der Volksfrontregierung verstaatlichten Bergwerke blieben staatlich und wurden 1976 zu einem großen Konzern, CODELCO, vereinigt. Zumindest bis in die Mitte der 90-er Jahre mußte CODELCO einen Teil seiner Gewinne an das Militär abliefern. Einnahmen aus dem Kupferbergbau wurden also zur Finanzierung des Gewaltapparates verwendet.
Heute ist Chile der größte Kupferproduzent mit 27% Anteil an der Weltproduktion, CODELCO der größte Kupferkonzern der Welt. Außer dem Kupfer wird Molybdän, Silber und Gold abgebaut. Das Molybdän hat in den letzten Jahrzehnten als Härtungsmittel und Katalysator an Bedeutung zugenommen. CODELCO ist über verschiedene Kooperationen auch in den Produktionsgüter-Riege aufgestiegen und produziert selber Bergbautechnik.

Einerseits hat inzwischen jede chilenische Regierung durch die vereinigten Bemühungen der Regierungen von Allende und Pinochet Zugriff auf einen Teil der Gewinne, die aus den Bodenschätzen des Landes gewonnen werden.
Andererseits ist sie dadurch eben von den Weltmarktpreisen abhängig und die entscheiden darüber, ob in der Staatskasse Ebbe ist oder ob sie sich gut gefüllt präsentiert.
KupferChart
An dieser etwas älteren Graphik läßt sich erkennen, welche Sprünge der Kupferpreis macht, gerade um den Putsch von 1973 herum …

3. Normalität 2018

Seit Anfang der 90-er Jahre wurde wieder Demokratie „gewagt“ und Elemente des Sozialstaats und des Arbeitsrechts eingeführt – in Maßen, versteht sich.
Derzeit protestieren – wieder einmal – Schüler und Studenten gegen das Erbe der Militärdiktatur und der Chicago boys: Die gesamte höhere Bildung ist entweder in den Händen der Kirche, oder sie ist privatisiert, oder beides: Die jungen Leute müssen sich nach dem anglosächsischen System bis über die Ohren bei den Banken verschulden, um studieren zu können.

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Radiosendung zu Víctor Jara und Chile: Chile – 45 Jahre danach (12.9. 2018)

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 2: Nicaragua

AUFRUHR IM HINTERHOF
In Nicaragua gibt es Aufstände gegen die gewählte Regierung, die inzwischen mehrere Hundert Tote gefordert haben und nach wie vor nicht beigelegt sind.

Folgende Fragen sind hier zu klären:
1. Was ist der Grund für diese Proteste der Bevölkerung?
2. Wie reagiert die Regierung darauf, und warum?

1. Der Sozialstaat in Nicaragua
Die Unruhen in Nicaragua entzündeten sich an einer Reform des Pensionssystems. Die Beiträge der arbeitenden Menschen sollten erhöht, das Pensionsalter hinaufgesetzt werden.
Um eine solche Reform überhaupt durchführen zu können, muß ein Pensionssystem erst einmal vorhanden sein. Das heißt, die arbeitende Bevölkerung muß sich in stabilen, bei der entsprechenden Behörde registrierten Arbeitsverhältnissen befinden und einen Teil ihres Gehaltes an eine Pensionskasse abführen.
Daß es so etwas in Nicaragua überhaupt gibt, ist eine Errungenschaft der sandinistischen Revolution. Die meisten Staaten Mittelamerikas, oder überhaupt Lateinamerikas verfügen über ein solches System nicht.

Ein Pensionssystem setzt nämlich ein Arbeitsrecht voraus. Die arbeitende Bevölkerung muß sich in rechtlich geregelten Arbeitsverhältnissen weiterbringen. Das heißt, jede arbeitende Person muß einen Vertrag haben und über ein Umlagesystem einen Teil ihres Gehalts in die Pensionskassen abführen.
Das wiederum setzt voraus, daß alle Unternehmer, also Kapitalisten, geregelte Arbeitsverhältnisse akzeptieren und ihre Angestellten / Arbeiter legal anmelden und ihnen zumindest einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn zahlen müssen.
Der Preis dieser Einrichtung eines Pensionssystems war der, daß die Unternehmer von den sogenannten Arbeitgeber-Beiträgen befreit wurden, oder nur einen minimalen, eher symbolischen Beitrag entrichten müssen.
Anders ließ sich offenbar der besitzenden Klasse Nicaraguas dieses Arbeitsrecht nicht aufs Aug drücken. Vergessen wir nicht, daß die sandinistische Revolution die Herrschafts- und staatlichen Verteilungsverhältnisse gewaltsam änderte, aber das Privateigentum bestehen ließ, und bis heute garantiert. In Nicaragua blieben die Reichen reich und die Armen arm, nur die Verwaltung der Klassen, vor allem der ärmeren, änderte sich.
Das heißt, daß die Last des Pensionssystems ausschließlich auf den arbeitenden Mitgliedern der Gesellschaft ruht. Sie zahlen ein, um irgendwann in den Genuß einer Pension zu kommen, die sicherlich minimal ist und ein Überleben nur im Rahmen der Familiengemeinschaft ermöglicht. Aber immerhin, es gibt sie, und so tragen die Alten auch etwas zum Familienhaushalt bei und liegen ihren jüngeren Familienmitgliedern nicht auf der Tasche.

Aber gehen wir zurück zum Umlagesystem der Pensionen: Es kann sich nur durch ein duales System der Beiträge finanzieren. Wenn die Unternehmer nichts beitragen und die Arbeitnehmer / Arbeitenden allein die Last der Beiträge stemmen müssen, so bedürfte es höherer Löhne, die einen solchen Abzug hergeben. Die Gehälter in Nicaragua sind bescheiden, und von denen kann man als Sozialstaat keine großen Abzüge machen, sonst können die Lohnempfänger von ihrem Nettolohn nicht existieren.
Das nicaraguanische Pensionssystem kam also mit dem Geburtsfehler der Unterfinanzierung auf die Welt, und mußte deshalb – notwendigerweise – vom Staat bezuschußt werden.
Und daran störte sich der IWF, als er der nicaraguanischen Regierung voriges Jahr die Empfehlung gab, es doch selbsterhaltend zu gestalten, und den Staatshaushalt zu entlasten.

Man hätte ja da auch die Unternehmer zu Beiträgen nötigen können, oder aber so weitermachen wie bisher. Immerhin war Nicaragua nicht in Nöten, es verhandelte nicht auf Teufel komm raus um einen Standby-Kredit, eine unmittelbare Notwendigkeit zu einem solchen Schritt gab es also nicht.
Es entsprang offenbar den Kalkulationen der nicaraguanischen Regierung, sich mit dem IWF Liebkind zu machen, um die Sanktionen, die die USA im Herbst vorigen Jahres wegen der Unterstützung Venezuelas gegen Nicaragua verhängt hatten, wieder wegzukriegen.
Diese Sanktionen erschwerten und verteuerten nämlich die Kreditaufnahme Nicaraguas auf dem internationalen Parkett.

Eine andere Möglichkeit wäre, daß die nicaraguanische Regierung ihre anderen Sozialprogramme auf Kosten des Pensionssystems finanzieren wollte, weil sich aufgrund der Sanktionen die Einnahmen verringert hatten.

Vielleicht ist noch daran zu erinnern, daß China einmal einen zweiten Kanal durch Nicaragua bauen wollte, und da einiges an Geld winkte. Dieses Projekt wurde aber inzwischen hintangestellt oder ganz aufgegeben, weil China sich auf den Ausbau der neuen Seidenstraße konzentriert und der Panamakanal erweitert wurde und nicht mehr ein besonderes Nadelöhr darstellt.

Dadurch gingen Investitionen verloren, mit denen die nicaraguanische Regierung kalkuliert hatte.
Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die Regierung ihre Geldnöte auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung behandeln, und auf keinen Fall die Unternehmerklasse zur Kasse bitten wollte.(*1)

2. Das System Ortega: Allianz mit Kirche und Kapital
Während die nicaraguanische Regierung außenpolitisch Venezuela unterstützt, ist sie im Inneren äußerst bemüht, ja nicht die einheimischen Eliten gegen sich aufzubringen oder das internationale Kapital zu verschrecken. Sie gewährte ihnen alle Freiheiten und punktete gleichzeitig mit der vergleichsweise guten Rechtssicherheit, um Investitionen anzuziehen.
Dieser für ein Land dieser Hemisphäre außergewöhnliche innere Frieden war ein Ergebnis mehrerer Faktoren, aber vor allem eben des Sozialstaates, den die sandinistischen Politiker aufgebaut haben. Dazu kommt noch die politische Struktur, wo sich die Regierungspartei zu einer allmächtigen Einheitspartei aufgebaut hat, die über ein Klientelwesen Pfründe und Einflußsphären verteilt und mit Veranstaltungen in dafür eigens eingerichteten Polit-Parks Mitbestimmung zelebriert und die Bevölkerung bei der Stange zu halten versucht.
Außerdem hat sie die traditionelle Verbundenheit der Sandinisten mit den christlichen Werten – wer erinnert sich nicht an Ernesto Cardenal – für eine umfassende Christianisierungs-Kampagne benützt, um das Volk mit dem bewährten Opium einzulullen und gleichzeitig den Klerus als Stütze und Verbündeten zu gewinnen. Der Pakt mit der Kirche führte dazu, daß es nicht nur christliche Sprüche an allen Straßenecken, sondern auch ein striktes Abtreibungsverbot in Nicaragua gibt.
Und das hat ja auch alles ganz gut funktioniert, bis zu dieser Pensionsreform. Der Erfolg ist dem starken Mann Nicaraguas, Daniel Ortega, offenbar zu Kopf gestiegen.

3. Daniel Ortega und Rosario Murillo
Die Versöhnungspolitik mit den Eliten hat so gut funktioniert, daß es kaum eine Opposition mehr gibt. Die herrschende Klasse Nicaraguas sieht sich mit ihm gut bedient, und eine andere Opposition kann aufgrund der institutionellen Umarmung durch die Einheitspartei gar nicht erst entstehen. Daher ließ Ortega die Verfassung ändern, er kann unbegrenzt wiedergewählt werden. Auch wenn an den Gerüchten über Wahlfälschung etwas dran ist – die hat in Nicaragua Tradition –, so läßt sich nicht übersehen, daß es eben auch keine ernsthaften Gegenkandidaten gibt.

Als Präsident auf Lebenszeit, der auch Gott an seiner Seite weiß, hat er auch noch dazu die kongeniale Partnerin gefunden. Er und seine Frau, die Esoterikerin Rosario (d.h. „Rosenkranz“, nomen est omen) Murillo zieren überall Wände und Hausecken und gerieren sich als die Royals von Nicaragua. Die häßliche Hauptstadt Managua wurde mit Strukturen aus Metall, die nachts beleuchtet sind, verschönert, den sogenannten „Lebensbäumen“.

Mit einer Mischung aus sozialer Rhetorik, religiösen salbungsvollen Sprüchen und esoterischem Psycho-Müll belabern die beiden das liebe Volk über die staatlichen Kanäle, während die liberale Presse Gift und Galle gegen diese „Marxisten“ spuckt. Dazwischen werden Schlager und Mariachis geboten.

Die Medien in Nicaragua sind unerträglich, mehr noch als sonstwo.

Und wie jeder größenwahnsinnige Landesvater war er offenbar unglaublich entrüstet, daß das von ihm beglückte Volk, anstatt zu schätzen, was er ihm alles Gutes tut, gegen ihn auf die Straße geht.

4. Die Repression und die Folgen
Mit dieser Pensionsreform stellte die Regierung praktisch die ganze Pensionsvorsorge in Frage, weil erstens die Beiträge aus den weiter oben angeführten Gründen schon bisher von sehr geringen Löhnen abgezogen wurden und zweitens die Pensionen inzwischen offenbar einen fixen Bestandteil des familiären Budgets der Nicaraguaner darstellen.

Als die Proteste losgingen, schickte die Regierung außer der Polizei auch spezielle Partei-Schläger gegen die protestierenden Massen los. Jeden Protest im Keim ersticken! scheint die Devise gewesen zu sein. Es wurde scharf geschossen. Gleichzeitig wurden die Protestierenden als Agenten ausländischer Mächte beschimpft, die Nicaragua ins Elend stürzen wollen, vor allem natürlich des CIA.

Die Regierung verließ sich darauf, daß aufgrund der leidvollen Erfahrungen der jüngeren Geschichte („Contras“) diese Anschuldigungen geglaubt werden und sich bald wieder Ruhe einstellen wird.

Der soziale Frieden ist gründlich gestört. Nicaragua ist zwar inzwischen wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, aber die Repression geht weiter. Verschwundene tauchen nicht wieder auf. Ärzte, die Verwundete behandeln, werden drangsalisiert oder entlassen. Die Kirche hat sich vom Dialog wieder zurückgezogen.

Das einzige, was Ortega weiter an den Schalthebeln der Macht hält, ist der Umstand, daß es zu ihm derzeit keine Alternative gibt.
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(*1) Im Nachhinein, im Lichte der Ereignisse, die seither stattgefunden habe, gibt es auch noch die Möglichkeit, daß die Regierung Ortega bewußt eine Konfrontation hervorrufen wollte, um endgültig reinen Tisch zu machen und die Opposition kaltzustellen.
Es ist übrigens noch nicht heraußen, ob das auch auf Dauer gelingen wird. (Ergänzung von 2023)

siehe auch: LATEINAMERIKA, EINE NEBENFRONT: 2. Aufruhr in Nicaragua
Radiosendung zu Nicaragua (November 2018)
https://cba.fro.at/387500