Wieder einmal „Korruption“

DER FALL ODEBRECHT

1. Das Unternehmen überhaupt

„Emílio Odebrecht (geb. 1894 in Sta. Catarina, Brasilien) zog im Alter von 20 Jahren nach Rio de Janeiro und traf auf seinen Cousin Emílio Henrique Baumgart, der … in der Companhia Construtora em Cimento Armado arbeitete, der ersten Baufirma in Brasilien, die auf den Einsatz von Stahlbeton spezialisiert war. Firmengründer war Lambert Riedlinger, der 1911 nach Brasilien kam um die in Deutschland bereits bekannte Konstruktionstechnik aus Stahlbeton in Brasilien zu etablieren. Emílio Odebrecht trat in die Firma ein und war neben Riedlinger und Baumgart maßgeblich an der industriellen Einführung des Stahlbetons in Brasilien beteiligt. Er wurde später unter den brasilianischen Ingenieuren als »Vater aus Stahlbetons« bekannt.“ …
Er „zog … in den unterentwickelten Nordosten nach Salvador da Bahia und gründete 1919 zusammen mit Isaac Gondim die Baufirma „Gondim & Odebrecht“ mit Hauptsitz in Recife und Niederlassungen in Jaraguá und Alagoas. Dieser Schritt stellte die Grundlage für den späteren Aufbau der von seinem Sohn Norberto 1944 gegründeten Odebrecht-Firmengruppe dar. Der Aufbau Brasiliens in der Nachkriegszeit und das folgende »Wirtschaftswunder« mit dem Bau von Staudämmen, Straßen und U-Bahnen, von Erdölförderanlagen oder Kernkraftwerken in Brasilien wurde für die Odebrecht-Firmengruppe zu einem wahren Segen. … Bereits 1925 verfügte das Unternehmen über Niederlassungen in Salvador, in Blumenau, João Pessoa und Maceió.“ (Wikipedia, Emílio Odebrecht)

„Die Construtora Norberto Odebrecht (CNO) … ist ein 1944 von Norberto Odebrecht in Salvador da Bahia gegründetes Bauunternehmen.
Es ist das größte Unternehmen im Bereich Ingenieurs- und Bauwesen in Lateinamerika und der zweitgrößte Privatkonzern Brasiliens. Odebrecht zählt zu den größten Baufirmen weltweit und hat einen durchschnittlichen Jahresumsatz von rund 35 Milliarden US-Dollar. Die Gruppe erwirtschaftet 70 % ihres Umsatzes im Ausland. Im Jahr 2009 wurde das Unternehmen in sechs eigenständige Unternehmen aufgeteilt. Es wird in der dritten Generation seit 2002 von Generaldirektor Marcelo Odebrecht geführt.
In den krisenhaften 1990er Jahren baute Odebrecht vor allem in den USA und Europa Staudämme, Brücken und U-Bahnen und suchte in Afrika nach Bodenschätzen, weil zu Hause die Aufträge fehlten. Es beteiligt sich auch an Städtebau-Projekten, zum Beispiel in Luanda, Angola, sowie Ferienanlagen sowie im Erdöl- und Gassektor und weiterhin in angolanisch-namibischen Kraftwerksprojekten. Darüber hinaus unterstützt das Unternehmen im Rahmen von Partnerschaften kleine und mittelständische brasilianische Firmen. In Europa ist CNO in Portugal an einem portugiesischen Bauunternehmen beteiligt und war maßgeblich am Bau der 1998 eröffneten Vasco-da-Gama-Brücke involviert.
Construtora Norberto Odebrecht arbeitet als Teil der Odebrecht-Gruppe rund um den Globus an einer Vielzahl von Projekten und baut unter anderem Autobahnen, Flughäfen, Abwasser- und Bewässerungssysteme. Bekannt ist das Unternehmen vor allem für den Bau von Wasserkraftwerken und Staudämmen. Odebrecht ist heute der führende Immobilienentwickler Lateinamerikas, der auch Stadien, Flughäfen, Autobahnen, U-Bahnen und ganze Städte errichtet. In Brasilien will das Unternehmen zudem Rüstungskonzern werden. In zahlreichen Joint Ventures baut es unter anderem auch Werften für U-Boote.“ (Wikipedia, Construtora Norberto Odebrecht)

„Der Staat Ecuador enteignete im September 2008 Odebrecht (ein Regionalflughafen und zwei Wasserkraft-Projekte im Wert von zusammen 800 Mio. USD) und schickte Truppen, um Odebrecht-Mitarbeiter aus dem Land auszuweisen.
Im Wirtschaftsjahr 2009 erzielte der Konzern mehr als die Hälfte seines Umsatzes am heimischen Markt. Dennoch ist Odebrecht das führende brasilianische Unternehmen beim Export von Dienstleistungen, insbesondere in andere Schwellen- und Entwicklungsländer. Außerhalb Brasiliens erzielt Odebrecht seinen Umsatz vor allem im übrigen Lateinamerika einschließlich der Karibik (2009: 21,3 %) und in Afrika (11,3 %), insbesondere in den ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik. Auf Nordamerika und Europa entfielen 2009 nur jeweils 5,1 % bzw. 4,0 % vom Umsatz.“ (Wikipedia, Novonor)

Die Firma hat unter anderem den Flughafen von Miami in seiner jetzigen Form gebaut, oder die Lissaboner U-Bahn. Von sehr zentraler Bedeutung ist die Beteiligung des Unternehmens am Aufstieg von Petrobras, dem brasilianischen Ölkonzern. Über die teilstaatliche Firma Braskem und andere Sub-Firmen Odebrechts wurde das Kapital und die Ausrüstung des Baukonzerns zu einem Schlüsselunternehmen beim Bau von Ölplattformen für die größtenteils auf dem Meeresboden befindlichen Ölfelder Brasiliens. Petrobras und Odebrecht marschierten somit im Gleichschritt auf ein gefährliches Terrain: Die weltweite Ölproduktion und ihre Abrechnung in $.

2. Die Bauindustrie weltweit

zeichnet sich allgemein durch eine höchst intransparente Geschäftsgebarung aus. Bei den wirklich großen Infrastruktur- oder auch Industrieprojekten, wo Staaten oder generell die öffentliche Hand den Bauauftrag vergibt, werden bei den Kostenvoranschlägen teilweise nach unten geschönte Phantasiepreise veranschlagt, die gegen alle Gesetze des Freien Marktes errechnet werden. Schließlich muß man die Konkurrenten aus dem Feld schlagen. Sowohl, um sicherzugehen, daß man wirklich das niedrigste Angebot macht, als auch um zu erreichen, daß niemand allzu genau nachrechnet, fließen weltweit beachtliche Summen in die Taschen derjenigen, die über diese Aufträge entscheiden.
Nach einigen Monaten oder Jahren Bauzeit stellt sich – leider, leider! – heraus, daß sich die Baufirma verrechnet hatte und ein paar Millionen oder Milliarden mehr aus dem staatlichen Budget fällig werden.

Dann müssen vielleicht einige Verantwortliche medienwirksam den Hut nehmen. Meist werden sie mit weniger medialer Beteiligung woanders hin vermittelt oder zirkuliert – oft innerhalb der Verwaltung oder des Konzerns, also der gleichen Strukturen, innerhalb derer sie bisher ihr segensreiches Wirken entfaltet haben. In dem meisten Fällen ist alles vergeben und vergessen, wenn die Autobahn, die Brücke oder ähnliches schließlich mit viel Pomp eröffnet wird.

Dergleichen ereignet sich im heutigen globalisierten Weltmarkt und mit Multis wie Odebrecht täglich und überall. Weder ist es eine Besonderheit Brasiliens, noch Indonesiens, noch des Balkans. Aber damit ist ein probates Mittel gegeben, Firmen, die wichtigen globalen Playern – Staaten oder Multis – in die Quere kommen, aus dem Weg zu räumen oder zumindest massiv zu schädigen.

3. Der sogenannte Korruptionsskandal

„Der Fall Odebrecht ist einer der größten dokumentierten Korruptionsfälle in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas … Er beruht auf einer Untersuchung des US-Justizministeriums, in Zusammenarbeit mit 10 anderen lateinamerikanischen Ländern.“ (Wikipedia, Odebrecht Case)

Die USA beanspruchen für sich auch die universelle Justiz für Wirtschaftsvergehen. Hier wurde nicht mit Waffen oder Drogen gehandelt, sondern es fanden wettbewerbsverzerrende Aktivitäten statt.
Die Untersuchungen gingen 2014 vom US-Justizministerium aus und die anderen – lateinamerikanischen und afrikanischen – Staaten wurden zur Zusammenarbeit genötigt. Dieser Druck auf die Staaten und die öffentlichen Stellungnahmen begannen 2014. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Untersuchungen in den USA weitaus früher begonnen haben. Laut den von der US-Justiz veröffentlichten Dokumenten reichen die Voruntersuchungen mindestens bis 2009 zurück. 

„Diese Untersuchung macht deutlich, wie Odebrecht den letzten 20 Jahren Präsidenten, ehemalige Präsidenten und Regierungsbeamte von 12 Ländern bestochen haben soll: Angola, Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Vereinigte Staaten, Guatemala, Mexiko, Mosambik, Panama, Peru, Dominikanische Republik und Venezuela, um Vorteile bei der öffentlichen Auftragsvergabe zu erlangen.“ (ebd.)

„Odebrecht und Braskem nutzten eine versteckte, aber voll funktionsfähige Odebrecht-Geschäftsabteilung – sozusagen eine »Bestechungs- Abteilung« –, die systematisch Hunderte Millionen $ an korrupte Regierungsbeamte in Ländern auf drei Kontinenten zahlte.“ (Department of Justice, Office of Public Affairs – Odebrecht & Braskem)

Nun ja, wenn das Bestechen zum Geschäft dazu gehört, so ist es auch zweckmäßig, eine eigene spezialisierte Abteilung dafür einzurichten, in der die Geschäfts-Anbahnungs-Spezialisten am Werk sind. Was in den US-Justiz-Dokumenten als besondere Gaunerei dieser Firma angeprangert wird, ist nur eine professionelle Abwicklung der Kooperation zwischen der Baufirma und den staatlichen Auftraggebern.
Der Versuch, Odebrecht als eine Ausnahme oder ein schwarzes Schaf in der Herde der Baufirmen darzustellen, entlockt jedenfalls jedem Leser nur ein müdes Lächeln, selbst wenn er nur die lokalen Praktiken von Bauunternehmern à la »Bulle von Tölz« kennt.

Den USA selbst geht es jedoch nicht um moralische Verurteilungen, wie sie die Medien gerne breittreten, um die gute Sache gegen einzelne böse Ausnahmen reinzuwaschen.
In den USA wurde Odebrecht als Mittel zum Zweck, als Werkzeug ausgesucht, um die Politik und Wirtschaft Lateinamerikas aufzumischen. Die Firma eignet sich eben wegen ihrer großen Dimensionen, internationalen Projekte und Kapitalgröße für dieses Vorhaben.

„Marcelo Bahia Odebrecht … führte ab dem 1. Januar 2002 als Präsident den Familienkonzern Construtora Norberto Odebrecht (CNO) mit Sitz in Salvador da Bahia, Brasilien. Odebrecht ist Lateinamerikas größtes Ingenieur- und Bauunternehmen. … Marcelo Odebrecht war Vize-Präsident der brasilianischen Vereinigung für Infrastruktur und Basis-Industrie (ABDIB) seit 2005 und ist CEO der Tochtergesellschaft Braskem. Ende 2008 wurde Marcelo Präsident der Organisation Odebrecht, der Holdinggesellschaft der Gruppe mit einem Jahresumsatz von 45,044 Mrd. US-Dollar (2010). …
Im Zuge der Operação Lava Jato ist Marcelo Odebrecht am 19. Juni 2015 von der brasilianischen Bundespolizei verhaftet worden. … Nach einem Monat Untersuchungshaft wurde Marcelo Odebrecht von der Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf Wirtschaftskriminalität, Beamtenbestechung, Geldwäsche und Preisabsprache angeklagt und am 8. März 2016 zu 19 Jahren und vier Monaten Haft verurteilt.“ (Wikipedia, Marcelo Odebrecht)

Das ging ja recht schnell, wenn man bedenkt, wieviel Zeit weitaus geringer dimensionierte Fälle hierzulande in Anspruch nehmen und welche Aktienberge dabei anfallen. Offenbar lieferte die US-Justiz bereits die fertige Anklage mit allen Punkten und konnte sich auf Leute im Justiz-Sektor verlassen, die diese vorgelegten Tatbestände geschwind und ohne viel Federlesens in saftige Strafen umwandelten. (Sergio Moro wurde erst durch sein Vorgehen gegen die Politiker Lula und Rousseff international bekannt, seine Vorleistung im Odebrecht-Prozeß ging dabei unter.)

„Aufgrund nachträglicher Kooperation im Rahmen einer Kronzeugenregelung konnte er durch die Nennung einzelner Schmiergeldempfänger seine Haftstrafe auf zehn Jahre reduzieren. Neben Odebrecht lieferten auch 78 weitere Manager seines Konzerns den Ermittlern Ende 2016 umfassend Informationen zu der Korruption ihres Unternehmens.
Die Aussagen lösten einen der größten Anti-Korruptionsfälle in der Geschichte Lateinamerikas aus. Zu den Verdächtigen gehören die Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (PSDB), Luis Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff, ebenso wie der damals amtierende Präsident Michel Temer.“ (ebd.)

Diese Aussagen lösten nicht „eine der größten“, sondern die größte Hexenjagd Lateinamerikas aus. Von da ab ging es Schlag auf Schlag. Die US-freundlichen Regierungen (Duque, Macri, Bolsonaro) nutzten die Odebrecht-Enthüllungen, um gegen ihre politischen Rivalen vorzugehen. War ein Politiker nicht kooperationsbereit, so wurde er sofort mit Korruptionsanklagen überschüttet. „Verleumde nur mutig, irgendetwas bleibt immer hängen“ – oder es findet sich schon etwas.

Der peruanische Ex-Präsident García erschoß sich, um nicht in die Mühlen der Justiz zu gelangen. Auf die ehemalige argentinische Präsidentin wurde ein Anschlag verübt. Das brasilianische Parlament wurde gestürmt. Die Medien peitschen gegen diverse Politiker ein, und schaffen durch dieses Korruptionsgeschrei eine Stimmung, in der sich viele zum Richter berufen fühlen.

Der Mann, mit dessen Hilfe das alles gelang, hat sich dabei irgendwie saniert:

„Im Dezember 2017 wurde Marcelo Odebrecht in den Hausarrest entlassen, er verbringt seine restliche Haftstrafe in seinem Haus in São Paulo.“ (ebd.)

Die Odebrecht-Holding wurde umgetauft. Man wird sehen, wie es nach dem Machtwechsel in Brasilien mit ihr weitergeht.
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siehe auch zum Thema Korruption:

Stichwort „Korruption“: EINE DUMME PSEUDO-ERKLÄRUNG FÜR SOGENANNTE MISSSTÄNDE
Korruption als Mittel der Konkurrenz – WEM NÜTZT DIE KORRUPTION UND WEM NÜTZT IHRE BEKÄMPFUNG? (2018)

und zur Bauindustrie überhaupt:

Brösel beim Bau des Panamakanals. WENN GESCHÄFTSKALKULATIONEN, POLITISCHE PRÄFERENZEN UND TECHNISCHE PROBLEME EINANDER IN DIE QUERE KOMMEN (2014)

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda: 100 Jahres-Jubileum der Gründung der Sowjetunion

„EIN LAND GROSSER TATEN ODER EIN TRAGISCHES EXPERIMENT: WAS WAR DIE UDSSR WIRKLICH?

Am 30. Dezember jährt sich die Entstehung der UdSSR zum 100. Mal
Wir kennen die UdSSR als eine der größten Mächte ihrer Zeit. Doch weniger als 70 Jahre sind vergangen, seit das Land, das immer noch Millionen mit Nostalgie erfüllt und das zu einem Symbol für Stabilität und Macht geworden war, zusammenbrach. So schnell wie sie geboren worden war.“

Nun ja. Zur Entstehung waren 2 Revolutionen (die von 1917) bzw. 4 (wenn man die von 1905 und 1912 dazuzählt) und ein mehrjähriger Krieg und Bürgerkrieg vonnöten. Für den Zerfall genügte ein feuchtfröhlicher Abend zu dritt auf einer Datscha in Weißrußland.

„Was war also die UdSSR? Ein großes und tragisches Experiment, das den Schlußstrich unter das Russische Reich zog, oder eine glänzende Zukunft, in der wir lebten, aber sie nicht verstanden, weil wir ihr nicht gewachsen waren?
Wir haben darüber mit dem Historiker Pavel Pryanikov und dem Autor des Buches »Der Geheimcode der UdSSR« Alexander Myasnikov gesprochen.

Mit Austrittsrecht geködert

KP: Für den Umstand, daß die Sowjetunion schließlich zusammenbrach, beschuldigen viele ihre Gründer: Lenin und Stalin.
Sie gewährten jeder Republik das Recht, auf eigenen Wunsch aus der UdSSR auszutreten. Wovon die Republiken 1991 Gebrauch machten. Warum also stimmten sie vor 100 Jahren solchen Bedingungen für die Gründung der Union zu? Wussten sie nicht um die zerstörerische Kraft dieses Austrittsrechtes?

PP: Versetzen Sie sich kurz in die damalige Situation. 1922 hat das Land bereits Finnland, das Baltikum, Polen und die Hälfte Moldawiens verloren. Russland war so schwach, dass es sogar gezwungen war, Esten und Letten einen Teil seines Territoriums (Isborsk) zu überlassen und Reparationen (mehrere Tonnen Gold) zu zahlen. Alles lag in Trümmern. An der Staatsspitze standen Menschen, die noch nie mit Staatsführung zu tun hatten. Der Erste Weltkrieg, dann die Revolution und der Bürgerkrieg hatten die dünne Schicht der Regierungsbeamten – 2 Prozent der Bevölkerung – weggespült.

KP: Und dann beschlossen die verbleibenden Republiken, sie mit einem solchen „Zuckerbrot“ in die gemeinsame Union zu locken?

PP: Natürlich. Sie mussten sie zumindest unter allen Umständen vereinen – mit der Verlockung: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen.
Damals war es wichtig, einfach ein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gebilde zu schaffen. Denn einige der Republiken waren strategisch wichtig: Ohne die Ukraine hätte Russland nicht überlebt – als Hauptkornkammer plus Kohle und Stahl. Es ging darum, Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen. Deshalb kam es zu großen Zugeständnissen.

Die Alternativen und die Kompromißformel

KP: Wer hat die Gründung der Union in dieser Form initiiert? Haben Stalin und Lenin verstanden, dass nationale Republiken eine schlechte Option sind?

AM: Lenin hatte eine Ansicht darüber, wie der neue Staat eingerichtet werden sollte, Stalin hatte eine andere.
Laut Lenin sollte dies die UdSREuA sein – die Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens. Diese Konstruktion unterstützte Leo Trotzki. Sie entsprach den Zielen der Komintern, also der künftigen Weltrevolution.
Stalin schlug eine alternative Option vor: Alle Republiken sollten als autonom Regionen Teil Rußlands werden, ohne Austrittsrecht.
Das heißt, die UdSSR erwies sich als Kompromiss zwischen der UdSREuA und der RSFSR.“

Die Leninsche Konstruktion bleibt in diesem Gespräch unklar. Es scheint, daß er noch mehr Teilrepubliken vorgesehen hätte, wobei Rußland noch weniger Gewicht gehabt hätte, und alles mit Austrittsrecht.
Demzufolge ist es nur Stalin zu verdanken, daß die UdSSR überhaupt 70 Jahre bestehen konnte.
Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, daß dieser Unions-Gründungsvertrag der SU zum Vorbild für die Verfassungen Jugoslawiens (von 1974) und der Tschechoslowakei wurde.

„PP: Lenin war Maximalist, er glaubte, dass wir weiter expandieren würden, dass es eine »Republik Zemshara« (= Erdkugel) geben würde. Stalin bewegten eher taktische Überlegungen.
Ende der 1930er Jahre gestand er: »Was bin ich im Vergleich zu Lenin? Ein bloßes Insekt.« Das sagte er in seinem berühmten Trinkspruch am 7. November 1937 in Woroschilows Wohnung.

Im Kaukasus rumorte es

KP: Die Grenzen der Unionsrepubliken – wer zog die?

PP: Formal das Ministerium für Nationalitäten. Das unterstand Stalin. Aber die Koordination ging immer noch über Lenin, über das Zentralkomitee. Es war eine schwierige Aufgabe. Damals wußte niemand, wie man das anstellen sollte.“

Das ist heute noch genauso, nicht nur in Rußland.

„Sie zogen sie ungefähr dort, wo die ethnische Mehrheit war. Und später wurden die Grenzen noch ein paar Mal geändert.

KP: Damals gab es noch die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR). Es umfasste Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Abchasien.

AM: Ja. Sie gehörte zusammen mit Weißrussland, der Ukraine und der RSFSR zu den vier Gründern der UdSSR. Die Bolschewiki glaubten, dass die Vereinigung Transkaukasiens in der TSFSR notwendig sei, um dort nationalistische Aufstände zu verhindern. Dies war die unruhigste Region. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg von 1918 bis 1920 bereitete große Sorgen. Damals gab es Massaker und ethnische Säuberungen.

Lenin blendete die Ukraine

KP: Wie kamen sie auf die Idee, ganz Neurußland an die Ukraine zu übergeben?

AM: Auf Beschluss Lenins. Die Ukrainische SSR wurde 1919 auf einem Kongress in Charkow (der Hauptstadt der damaligen Republik Donezk-Kriwoj Rog) proklamiert. Es wird traditionell so angesehen, dass sie auf dem Territorium von Kleinrußland gebildet wurde. Aber in Wirklichkeit umfasste sie auch den größten Teil von Neurußland – das Gebiet von Chisinau bis Lugansk, d.h. die gesamte Schwarzmeerküste und die Küste des Asowschen Meeres.“

Hier ist natürlich auch eine gewisse Geschichtsklitterung bzw. Verlegenheit zu beobachten, denn dieses Gebiet war damals umstritten zwischen den Machnowzy, Kosaken und den Interventionsarmeen. Die Kongreßdelegierten in Charkow vertraten also ein Territorium, das sie nicht kontrollierten.

„Sehen wir die Fakten an: Im Januar 1918 unterzeichneten Vertreter der ukrainischen Zentralrada einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich. Die Besetzung der Ukraine begann. Bis Mai besetzten sie das Territorium der Sowjetrepublik Donezk-Krivoy Rog, Teile von Taurien und der Volksrepublik Odessa vollständig. Aber als nach der Kapitulation Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg die Gebiete befreit wurden, verbot Lenin kategorisch ihre Rück-Eingliederung in das Territorium Rußlands. Er bestand darauf, sie der Ukraine anzuschließen.
Und sobald die Ukrainische SSR gegründet wurde, begann das, was als Politik der Ukrainisierung („Verwurzelung“) in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt, die übereilte Schaffung der „ukrainischen Sprache“ und ihre gewaltsame Einführung.
Charkow blieb übrigens bis 1934 Hauptstadt der Ukraine.

Die nationale Frage

KP: Wer zog die Grenzen innerhalb der Russischen Föderation?

AM: Am Tag, nachdem die Welt von der Gründung der UdSSR erfahren hatte, schrieb Lenin in sein Notizbuch:
»Internationalismus … sollte nicht nur in der Einhaltung der formalen Gleichheit der Nationen bestehen, sondern auch in einer solchen Ungleichheit, die seitens der Unterdrückernation, einer großen Nation, die im Leben tatsächlich entstehende Ungleichheit kompensieren würde.«“

Das heißt also als Antwort auf die eigentlich unbeantwortete Frage: Die anderen Republiken wurden auf Kosten der russischen Föderation bevorzugt, in strittigen Fragen entschied man gegen russische Bevölkerungsmehrheiten.

„KP: Hat die nationale Frage als Ergebnis die UdSSR zum Einsturz gebracht?

AM:  Stalin hat vor dieser Gefahr gewarnt. Er wies darauf hin, dass es notwendig sei, dem Spiel der »nationalen Unabhängigkeit« ein Ende zu setzen, alle Republiken fest Moskau unterzuordnen und sie in Zukunft insgesamt zu liquidieren und einen einheitlichen Sowjetstaat zu schaffen.
Lenin kritisierte diesen »stalinistischen Plan«. Und sehr scharf …

KP: Wieso denn?

PP: Lenin hatte wirklich Angst vor russischem Großmachts-Chauvinismus. Deshalb wurden nicht nur angestammte Territorien Rußlands abgetrennt, sondern Rußland war auch das einzige Mitglied der Föderation, das im Gegensatz zu anderen Republiken weder eine eigene Kommunistische Partei noch eine Akademie der Wissenschaften erhielt.

Was wäre geschehen, wenn es keinen (II. Welt-)Krieg gegeben hätte?

KP: Die UdSSR hatte eine Vielzahl großartiger Errungenschaften. Hätten wir ohne diese den Großen Vaterländischen Krieg gewinnen können?

PP: Ohne sie hätte es keinen Krieg gegeben. Denn statt eines riesigen Landes hätte es 30-40 kleine Staaten gegeben. Russland wäre in verscheidene Gebiete zerrissen worden, die Satelliten anderer Mächte gewesen wären. Die Ukraine oder Georgien wären wie Rumänien oder Ungarn unter deutschen Einfluß geraten.
Der Ferne Osten wäre den Amerikanern und den Japanern zugefallen. Der Kaukasus wäre pro-türkisch und Karelien gehörte zu Finnland. Weißrussland wäre Teil Polens geworden. Mit einem Wort, es hätte niemanden gegeben, der (durch Deutschland) zu bekämpfen gewesen wäre.

KP: Und was wäre von Russland übrig geblieben?

PP: Das großrussische Kernland. Wie unter Iwan dem Schrecklichen – bis zur Wolga. Rundherum 30 bis 40 Staaten. Zentralasien wäre unter britischen Einfluss geraten. Nun, mit wem soll man kämpfen? Es wäre eingenommen worden, ohne daß es jemand bemerkt hätte.
Die Sowjetunion hingegen schuf einen Superstaat.

Der Westen zwang uns, Großmacht zu werden

KP: Die Industrialisierung, der GOELRO-Plan (des Staatlichen Elektrifizierungs-Ausschusses) gilt als Errungenschaft der Sowjetunion.

PP: Die UdSSR hat hier nichts erfunden. Alle großen Infrastrukturprojekte der Welt wurden unter der Führung des Staates oder durch die Streitkräfte des Staates durchgeführt. Nur der konnte es tun.

KP: Sind Sozialleistungen auch ein Verdienst des Sowjetstaates? Schulen, Kliniken, ein Achtstundentag…

PP: Die Sowjetunion übernahm das deutsche System, dass der Staat eine strenge Bildungs-, Gesundheits-, Sanitärpolitik betreiben sollte …
Lenin verstand, dass Fabriken gebildete Arbeiter brauchen, Armeen gebildete, gesunde Soldaten brauchen.

KP: Die Monarchisten behaupten, dass sowohl GOELRO als auch die allgemeine Alphabetisierung Pläne von Nikolaus II. waren, die die Bolschewiki einfach kopiert haben.

PP: Alles hat seine Zeit. Vielleicht hatte dieser Zar Pläne, aber er war zu spät dran.
In Deutschland begann die Zentralisierung von Bildung und Gesundheit in den 1870er Jahren. Rußland war genötigt, dies in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchzuführen. Die Transsibirische Eisenbahn war eine gute, richtige Idee. Aber es hätte in den 1870er Jahren geschehen sollen, nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir hätten Millionen von Bauern aus Zentralrussland umsiedeln und eine Revolution vermeiden können. Die verschiedenen Zaren dachten sich viel aus, aber alles war 20–30 Jahre zu spät.

KP: Die UdSSR war doch bei vielen Dingen Pionier. Sie schickte einen Menschen in den Weltraum. Sie erfand die Wasserstoffbombe. Liegt das auch nur an der Rivalität mit dem Westen?

PP: Konfrontation bringt immer viel hervor. Aber wenn Lenin länger gelebt hätte, hätte sich das Land höchstwahrscheinlich mehr in eine konsumorientierte Richtung entwickelt.
Die NEP wäre nicht eingeschränkt worden, viele Leben wären gerettet worden, es hätte nicht so schreckliche Repressionen gegeben.
Andererseits gäbe es keine große Industrialisierung, keine Großindustrie. Russland wäre ein mäßig entwickeltes Land. Und wir wissen nicht, ob es die Randgebiete in seinem Staatsbestand gehalten hätte.

Opfer hätten vermieden werden können

KP: Die UdSSR hatte aber auch viele unerfreuliche Züge. Das Gulag, die totale Gleichmacherei, weitverbreitete Armut. Und all dies führte zum Totalitarismus und der Apathie in der Bevölkerung.

PP: Das ist eben der industrielle Durchbruch, für den unser Staat bezahlt hat. Wenn man in 20 Jahren den Weg zurücklegen muß, der in 50 bis 100 Jahren schrittweiser Reformen zurückgelegt werden müsste, so sind Opfer unausweichlich.
Es gibt ein russisches Modell der staatlichen Führung: Es schwankt ständig wie ein Denkmal, zwischen Stagnation und Akkordarbeit. Die ganze Geschichte des Landes ist so aufgebaut. Peter I. übertraf in seinen Reformen sogar Stalin in Bezug auf menschliche Verluste. Aber Stalins Problem ist, dass dies vor unseren Augen geschah.

Gibt es die Möglichkeit einer Wiedervereinigung?

KP: 1991 fand der Zusammenbruch der UdSSR statt. Aber wurden nicht die slawischen Schwestern – Russland, Ukraine und Weißrussland – künstlich auseinanderdividiert?

PP: Seien wir ehrlich: Die Spaltung zwischen Russland, die Ukraine und Weißrussland fand nicht 1991 statt, sondern im 15. und 16. Jahrhundert, als ein Zweig des russischen Volkes zum Moskauer Zarenreich wurde und die anderen beiden Teil der litauisch-polnischen Republik. Damit war alles entschieden. In der UdSSR und sogar in der späten Zarenzeit versuchte man, die Unterschiede auszugleichen, aber das Vermächtnis eines getrennten Lebens im Laufe von zwei oder drei Jahrhunderten erfüllte seine Aufgabe, vor allem bei den Eliten.
Die Eliten der Ukraine hatte unter den Polen eine lediglich untergeordnete Position – das inspirierte die ukrainischen Intellektuellen, sich als eigene Nation zu emanzipieren.“

Das ist nicht ganz richtig, weil Teile der Ukraine – Sumi, Tschernigow, später Kiew – gehörten zum Zarenreich, und auch dort wurden die Eliten nur dann anerkannt, wenn sie sich assimilierten (=> Emser Dekret).

„KP: Aber warum hat dann die Sowjetunion selbst die Ukrainisierung der Ukraine so heftig propagiert?

PP: Man muß sich vor Augen halten, dass die Westukraine in den 1920er und 1930er Jahren in Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien gelandet ist. Und die Bolschewiki mussten den Menschen, die dort gelandet waren, die »vorbildliche Ukraine« als Beispiel zeigen. »Unterdrücken dich die Polen, lassen dich nicht Ukrainisch sprechen? Aber daneben ist die wunderbare Ukraine, wo die Ukrainer alles haben.«

KP: War das in Weißrussland auch so?

PP: Teilweise. Denn ein Drittel von Weißrussland landete auch in Polen. Bitte beachten Sie, dass es in anderen Republiken der UdSSR keine so aggressive Förderung des Nationalismus’ gab.

Wir erinnern uns an Stabilität

KP: Warum denken so viele Menschen mit Nostalgie an die UdSSR zurück?

AM:  Damals waren die Spielregeln klar und die Menschen konnten ihr Leben planen. Niemand in der UdSSR kannte den chinesischen Fluch: »Mögt ihr in einer Zeit des Wandels leben!« Einer der Verdienste der UdSSR war das Vertrauen in die Zukunft. Und die Menschen werden von Stabilität angezogen.

PP: Das ist ein sehr wichtiges psychologisches Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, ob man morgen seine Familie ernähren kann.

KP: Für welche spezifischen Jahre sind die Menschen so nostalgisch?

PP: Natürlich sehnen sie sich nach der Breschnew-Ära. Die Menschen erinnern sich an die Zeit, in der sie selbst gelebt haben, als es keine großen Kriege und Repressionen gab – das sind die 60er, -70er Jahre, die erste Hälfte der 80er Jahre. Das war die Blütezeit der Sowjetunion. Die Menschen waren überzeugt, dass morgen besser sein wird als heute. Damals gab es diese Überzeugung.

Die letzte Utopie

KP: Was war also die UdSSR? Ein grandioses tragisches Experiment? Oder eine Ära großer Errungenschaften?

PP: Vielleicht war sie die letzte Utopie der Welt, die gut anfing.
Niemand – weder Marx noch Engels und vor allem Lenin – dachten nicht, als sie über den Übergang zum Sozialismus sprachen, daß dieser so viele Opfer fordern würde. Die UdSSR begann zu früh. Sie wurde auf der Grundlage eines sehr armen, analphabetischen Bauernlandes ausgerufen – in eine Gesellschaft, die diese Umgestaltung schwer annahm. Und vieles lief von Anfang an schief. Alles musste laufend geändert werden, man lebte dauernd auf Abruf. Lenins Traum von einer sozialistischen Weltrepublik musste schnell aufgegeben werden. Dann wurde die NEP aufgegeben … Ja, es war ein Experiment. Aber ein großartiges, nicht ohne einen gewissen Zauber.

Die multipolare Welt

EINE UNERFREULICHE PERSPEKTIVE

Über Staatsgewalt, Landesgrenzen und Krieg

Eine Landesgrenze ist ein völliges Kunstprodukt. Nichts ist dümmer als das Geschwätz von „natürlichen“ Grenzen.
Eine Landesgrenze sagt aus, wie weit die Gewalt des einen und des anderen Staates reicht, die sich auf den beiden Seiten befinden. Die Staaten haben sich gegeneinander konstituiert und im Laufe ihres Bestehens und einiger kriegerischer Auseinandersetzungen auf diese Grenze geeinigt – eine Einigung, die jederzeit widerrufen werden kann, wenn ein Staat sich mächtig genug fühlt, ein Stück eines Nachbarstaates zu beanspruchen und diesen Anspruch auch durchzusetzen.
Die Welt ist voller strittiger Grenzen. Auch in Europa gibt es genug Grenzen, über die zwischen den Nachbarstaaten keine Einigkeit herrscht, die nicht international anerkannt sind, usw.
Im Laufe der Zeit haben viele Staaten versucht – mit oder ohne Erfolg – ihre Grenzen zu erweitern und sich Territorium der Nachbarstaaten einzuverleiben.

Auch dann, wenn die Grenze nicht berührt wird, gibt es den Anspruch der Staaten, seinen Einfluß und seine Gewalt auch außerhalb seiner Grenzen zur Geltung zu bringen. Sei es mit kriegerischen, sei es mit „friedlichen“ Mitteln, die auch immer recht gewaltträchtig sind. Dazu später.

Zu Zeiten des Kalten Krieges – als die Welt in Anlehnung an den heutigen Sprachgebrach „bipolar“ war –, wachte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges eine Macht darüber, daß Grenzstreitigkeiten verbündeter Staaten nicht in Kriegen mündeten. Im sowjetischen Einflußbereich war Revanchismus aller Art verboten. Nur die Hauptmacht selber nahm sich Grenzveränderungen heraus, vor allem im Gefolge von Weltkrieg II.
Auch im Westen gab es Grenzkriege, wie den Falkland-Krieg 1982, oder von der NATO im Keim erstickte Auseinandersetzungen wie diejenigen zwischen Griechenland und der Türkei.
Generell aber galt, daß keiner der Blöcke Grenzkriege wollte, weil das die Allianz gegen den Hauptfeind geschwächt hätte.

Diese einigende Klammer fiel mit dem Zerfall der SU weg. Seither ist das Rennen wieder eröffnet. In den Nachfolgestaaten der SU, auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Nordafrika, im Fernen Osten – überall melden sich „eingefrorene“ Konflikte und Grenzstreitigkeiten, es wird aufgerüstet wie wild und nix ist mehr fix.

Das gehört zu einer multipolaren Welt dazu, und zeugt davon, daß diese bereits fortschreitet. Die verschiedenen „Pole“ wollen eben ihre Grenzen und ihren Einfluß auf Kosten anderer erweitern.

Internationale Spielregeln

Wer sich auf Regeln beruft, vergißt meist, daß es jemanden gibt, der die Regeln setzt, und andere, die sie befolgen.
Bereits beim nationalen Recht gibt es das Mißverständnis, daß das Recht selbst sozusagen natürlich, göttlich oder ähnliches sei und die tatsächliche Staatsgewalt es nur vollstreckt. Man macht sich gerne etwas darüber vor bzw. täucht sich darüber hinweg, daß diese Gewalt es auch setzt, also das Recht überhaupt erst durch Gewalt in die Welt kommt.
Anhänger des Rechts, der Menschenrechte und der internationalen Spielregeln sind daher immer Parteigänger der Gewalt, auch wenn sie sich als das Gegenteil präsentieren und gegen – einzelne, partikulare – Gewalt wettern.

Zu diesen „internationalen Spielregeln“ gehören auch die diversen supranationalen Gerichtshöfe in Den Haag, Luxemburg, Straßburg, die dadurch, daß sie keinem besonderen Staat angehören, dem Trugbild Leben verleihen, daß das Recht über der Gewalt stünde.
Man merkt aber an ihren Rechtssprüchen, daß sie die Interessen bestimmter Staaten bevorzugen und sich auch nicht daran stoßen, daß die USA sich ihrer Jurisdiktion nicht unterwirft. Darin erkennt man ein Bewußtsein dessen, daß die Hegemonialmacht nicht in gleichem Maße zur Rechenschaft gezogen werden kann wie die restlichen Staaten, die sich an die von dieser Macht gesetzten Regeln halten müssen und das meistens auch wollen.

Rußland beklagt die „Privatisierung“ der internationalen Regeln durch EU und USA und möchte gerne seine Rechtssprechung über seine Grenzen ausdehnen. Deshalb erhebt es Anklage gegen ausländische Bürger (der Ukraine), wo eine angebliche Gesetzesübertretung nach internationalem Recht dingfest macht. Damit will sich die russische Regierung als der bessere Vollstrecker des internationalen Rechts präsentieren, das es damit auch anerkennt.
Rußland leistet sich damit den Widerspruch, der Hegemonialmacht ihre Sonderstellung zu bestreiten, aber das von ihr aufrechterhaltene Regelwerk anzuerkennen.

Dieses Regelwerk bezieht sich auch auf die restlichen Interessen, die neben der Machtvollkommenheit der Staaten existieren bzw. die Grundlage ihrer Ambitionen bilden.

Der Weltmarkt

Es müssen einmal klare Verhältnisse geschaffen werden, damit ein US-Unternehmen in Ägypten investieren oder eine deutsche Firma Lieferverträge mit einem Unternehmen in Indonesien abschließen kann. Das fremde Eigentum muß geschützt sein, die Zahlungsmodalitäten gehören abgesichert und die Rechtssprechung muß irgendwie zwischen Herkunfts- und Zielland koordiniert sein. Das ist notwendig, damit sich ein Staat an den Reichtumsquellen eines anderen bedienen kann, unter dem Motto „friedlicher Handel und Wandel“.

Die entsprechende Weltordnung wurde von den USA nach 1945 durchgesetzt, bei dem auch die Kolonialmächte ihre Kolonien aufgeben und damit auf exklusive Handelsbeziehungen verzichten mußten. Unter dem Titel der Souveränität und des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ wurden diese Staaten mit eigenen Regierungen ausgestattet und mit Hilfe von Krediten und Handelsabkommen in den Weltmarkt integriert, was sich bei vielen heute vor allem in Schuldenbergen ausdrückt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die Staaten aus dem Orbit der Sowjetunion Schritt für Schritt in den Weltmarkt einbezogen, durch Einrichtung eines Bankennetzes, Zahlungsmodalitäten, nicht zu vergessen die Einrichtung einer Eigentumsordnung, die in vielen Gegenden mit Hilfe von Schußwaffen stattgefunden hat.

Heute wird das ein Stück weit rückgängig gemacht. Durch Sanktionen und Embargos werden verschiedene Staaten teilweise oder ganz vom Weltmarkt ausgeschlossen. Es bildet sich ein zweiter Weltmarkt. Die „alten“ Nutznießer desselben – die USA, die EU, anglosächsische Staaten, die Schweiz – drängen sich um die Hegemonialmacht USA, während andere eine „Schattenwelt“, einen Weltmarkt der Ausgeschlossenen mit China als Referenzmacht bilden. Dazwischen bilden sich ambitionierte Regionalmächte, die versuchen, sich in beiden Hemisphären zu betätigen.

Sehr kriegsträchtig, das Ganze: Bereits jetzt laufen mehrere Konflikte um die Aufteilung der Welt, ihre Rohstoffe, ihre strategisch wichtigen Positionen, und es ist anzunehmen, daß deren eher mehr werden als weniger.