DIE TÜRKEI NÜTZT DEN FALL KASHOGGI, UM SAUDI-ARABIEN GEGENÜBER AN EINFLUSS ZU GEWINNEN
Andres Mourenza
Eine der Fragen, die angesichts des Falles Kashoggi hinter den Kulissen debattiert werden, ist die der Machtverhältnisse im Nahen Osten, wo die Türkei die Führungsrolle gegenüber anderen Mächten beansprucht, die diese traditionell innegehabt haben, wie dem Iran, Ägypten und vor allem Saudi Arabien. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat ihre Arme für die Dissidenten dieser Länder geöffnet, während bei sich zu Hause innerhalb der letzten 2 Jahre 60 000 Personen unter der Anklage der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen im Gefängnis gelandet sind, darunter 150 Journalisten.
Am 8. Oktober, nach 6 Tagen ohne Nachrichten vom saudischen Journalisten Jamal Kashoggi, und angesichts der Hypothese einer möglichen Ermordung, versammelten sich Mitglieder verschiedener Vereinigungen vor dem Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Sie verlangten rechtliche Schritte. Da waren ägyptische Anwälte, syrische Journalisten, irakische und libysche Aktivisten und auch die jemenitische Nobelpreisträgerin Tawakul Kerman. Für sie alle bedeutete nämlich das Verschwinden Kashoggis nicht nur den Verlust eines Freundes und einer Person gewissen Bekanntheitsgrades, sondern erzeugte auch Ängste, daß die Tentakel derjenigen autoritären Regimes, denen sie entkommen waren, sie auch im Exil erreichen könnten.
„Obwohl die türkische Regierung gegen ihre eigene Opposition mit seit Jahrzehnten nicht gekannter Härte vorgeht, hat sie Dissidenten aus dem Nahen Osten mit einer politischen oder religiosen Profilierung willkommen geheißen“, erklärt Aaron Stein vom Think Tank Atlantic Council.
„Bis in die 90-er Jahre ließen sie (Regimekritiker aus dem Nahen Osten) sich in Paris, London oder den USA nieder, weil diese Staaten eine Politik der Offenen Tür gegenüber Dissidenten in den Tag legten. Aber die seit 2 Jahrzehnten geführten Debatten um die Migration haben es sehr erschwert, sich dort niederzulassen. Es ist inzwischen sogar sehr schwierig, irgendeinen Oppositionellen aus dieser Weltgegend zu einer Konferenz nach London oder Washington einzuladen, aufgrund des verschärften Visa-Regimes“, versichert Mohammed Okda, Politberater aus Ägypten und persönlicher Freund Kashoggis. „Die Türkei hingegen ist in Sachen Aufenthaltsgenehmigung sehr großzügig, und angesichts einer wachsenden arabischen Bevölkerung ist es leichter, sich in einem ohnehin muslimischen Land zu integrieren.“
Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten nimmt die Türkei die uigurische Diaspora auf, die eine verwandte Sprache spricht, trotz des guten Verhältnisses zwischen Ankara und Peking. Ebenso geben sich Oppositionelle aus Zentralasien und dem russischen Kaukasus in der Türkei ein Stelldichein. Im Osten, in Van ist es nicht schwierig, politische oder religiöse Flüchtlinge aus dem Iran zu treffen. Was sich seit dem Regierungsantritt Erdogans verstärkt hat, sind die Beziehungen mit Oppositionellen aus dem arabischen Raum, vor allem nach dem gescheiterten „Arabischen Frühling“, den die Türkei zu nutzen versuchte, um an Einfluß zu gewinnen, indem sie sich als Modell für eine Umgestaltung präsentierte.
„Die alten Kolonialmächte sind mehr an Stabilität interessiert, und deshalb haben sie oft die Autokraten des Nahen Ostens unterstützt. Erdogan hingegen hat sich in dieser Region als Beschützer der Schwachen dargestellt, was ihm in den arabischen Gassen viel Bewunderung eingebracht hat“, fügt Okda hinzu. Seit dem Anfang des „Arabischen Frühlings“ haben sich Vertreter der Muslimbrüder verschiedener Länder in Istanbul die Klinke in die Hand gegeben, und auch mit Regierungsvertretern verhandelt, und als er scheiterte, nahm die Türkei diejenigen auf, die vor Verfolgung flüchteten. Weiters hat die Syrische Nationale Koalition, eine Dachorganisation von Gegnern des Assad-Regimes, ihren Sitz in Istanbul. Andere türkische Städte in Grenznähe zu diesem kriegsgeschüttelten Land haben Anführer diverser Rebellenfraktionen aufgenommen.
Der türkische Islamismus hat andere Wurzeln als derjenige der Muslimbrüder und unterscheidet sich von ähnlichen Strömungen durch Betonung auf dem nationalen Interesse. Vor 2 Jahren erklärte mir der Experte Rusen Çakir, daß die türkischen Islamisten zwar Wert auf die muslimische Umma (Gemeinschaft) legen, aber bitte unter ihrer Führung, im Anklang an das seinerzeitige Osmanische Reich. Diese Idee findet sich auch in den Äußerungen Erdogans. Zuletzt betonte er am 15. Oktober: „Die Türkei ist das einzige Land, das die islamische Welt anführen kann.“
Im Wechsel der Verbündeten (…) hat die Türkei in jüngerer Vergangenheit Partei gegen das Ägypten Marschalls Al Sisis ergriffen, nimmt Anhänger des gestürzten Präsidenten Morsi auf und erlaubt ihren Radioprogrammen, aus Istanbul zu senden. Katar hat es gegen die von Riad angeordnete Blockade verteidigt.
(Darin ist die Unterstützung für Katar sehr verkürzt zusammengefaßt. Die türkische Regierung hat eine Luftbrücke zur Sicherstellung der Versorgung mit Katar errichtet und eigenes Militär hingeschickt, um Saudi-Arabien von einem Einmarsch abzuhalten. Ohne die Türkei hätte Katar das nicht durchgestanden.)
Die Beziehungen zu Saudi-Arabien haben sich seit dem Aufstieg des Kronprinzen Mohammed Bin Salman und dessen aggressiver Außenpolitik verschlechtert. Im Zuge dessen kam es zur engen Verbindung mit Ägypten und den Vereinigten Emiraten, mit denen die Türkei seit geraumer Zeit über Kreuz ist. Dort machte übrigens – ganz zufällig – die 15-köpfige Truppe der vermutlichen Kashoggi-Mörder eine Zwischenlandung bei ihrer Rückkehr nach Riad in 2 Privatflugzeugen.
„Der Nahe Osten hat sich in einen Dschungel verwandelt, in dem jedes Land nach Mitteln zur Gewinnung von Einfluß sucht. Und die Türkei nutzt den Fall Kashoggi, um zu zeigen, daß sie Macht hat und viel bewirken kann“, meint Ilke Toygur, eine türkische Mitarbeiterin des Real Instituto Elcano. Ein Ziel der türkischen Regierung, die an die Medien Details über seine Ermordung durchsickern ließ, ohne sie offiziell zu behaupten, besteht darin, „den Druck auf die USA zu erhöhen, damit Washington Druck auf Saudi Arabien ausübt, um Bin Salman zu schwächen und Riad zur Änderung seiner Außenpolitik zu bewegen.
Während der jüngsten Krise hat Erdogan zweimal mit Salman Bin Abdulaziz, dem Vater von Prinz Mohammed telefoniert, und dadurch erreicht, daß die Angelegenheit jetzt von ihm gehandled wird. Er hat den vorher aggressiven Ton Riads gemildert und den Mord zugegeben. Falls sich die Türkei doch irgendwann mit der Version Saudi-Arabiens zufriedengeben sollte, so würde das bedeuten, daß Erdogan etwas dafür erhalten hat, politisch oder wirtschaftlich.
(Angeblich soll die kürzliche Erholung der türkischen Lira auf Interventionskäufe aus Saudi-Arabien zurückzuführen sein.)
Kategorie: Ideologie
Serie „Lateinamerika heute“. Teil 3: Venezuela
EIN STAAT IM DAUERHAFTEN AUSNAHMEZUSTAND
Sehr viel hat sich nicht geändert seit letztem Jahr, was die Zustände in Venezuela angeht. Der Versuch der Regierung, die mangelnde eigene Produktion durch Kredit und Löcherstopfen zu behandeln, ist notwendig zum Scheitern verurteilt und führt inzwischen zu einem Massen-Exodus, der die benachbarten Staaten in Besorgnis versetzt.
Eine Sache ist, wozu der Chavismus geführt hat, aufgrund eigener Widersprüche und interner politökonomischer Opposition sowie Druck von außen.
Das Problem Venezuelas ist, kurz zusammengefaßt, daß seit dem Amtsantritt der Regierung Chávez ein Sozialstaat aufgebaut wurde, ohne daß eine Kapitalakkumulation zustande gekommen wäre, die die Finanzierung eines solchen tragen könnte.
Seither hat sich die Situation insofern verschärft, als seit 2014 2,3 Millionen Venezolaner das Land verlassen haben und die Auswanderung in den letzten beiden Monaten sprunghaft angestiegen ist.
1. Medienhetze
Eine andere Sache ist, wie darüber berichtet wird und welche Lösungsvorschläge dem p.t. Publikum von den Medien nahegelegt werden. Schuld an allem ist der Berichterstattung zufolge die regierende Partei (PSUV) und deren Vorsitzender und gleichzeitig Präsident Venezuelas Nicolás Maduro.
Das Schema ist sehr einfach und dümmlich, aber es wird aus allen Rohren über die Menschheit ausgegossen. Die Politiker Venezuelas sind mehr oder weniger Verrückte, und der mehrmals gewählte Präsident ein gefährlicher Diktator, der sein Land aus purer Machtgier ins Verderben führt.
Beweis: Die Leute rennen weg!
Es ist wichtig, sich die Dummheit und Unhaltbarkeit dieser Auffassung deutlich zu machen, als ob der wirtschaftliche Zustand eines ganzen Landes nur den verfehlten Entscheidungen einzelner Politiker geschuldet sei. In ähnlicher Weise wurde gegen Saddam Hussein und Ghaddafi gehetzt, um sie dann wegräumen zu können.
Wenn dann dort im Land Bürgerkrieg, Mord und Totschlag ausbrechen, so wird das noch eine Zeitlang als Erbe des wahnsinnigen Diktators besprochen und dann verschwindet das Land aus den Schlagzeilen.
Es ist das Ideal der guten Herrschaft, die gerade darüber befestigt wird, daß man überall schlechte oder nur halbgute vorfindet. Der gütige Landesvater und seine selbstlosen und ums Allgemeinwohl beflissenen Mitarbeiter – Minister usw. – sollten sich um das Gedeihen ihrer Untertanen bemühen. Vor diesem Ideal schauen alle Regierungen der Welt schlecht aus, und der kritische Journalismus geht zum guten Teil darin auf, immer ein Mißverhältnis zwischen den vorgestellten ehrbaren und den wirklich vorgefundenen „korrupten“ oder „unfähigen“ oder „popularistischen“ Regierungen festzustellen.
Nach diesem Einheitsschema und mit fertigen Textbausteinen wird heute gegen Erdogan und Orban, Putin, Assad, Ortega und Maduro vom Leder gezogen. Über Regierungen, die „uns“, also der EU-Führung genehm sind, hört und liest man dagegen nichts Nachteiliges, obwohl es über Staaten wie Ägypten, die Ukraine oder Myanmar auf jeden Fall diesbezüglich einiges zu berichten gäbe. von den von USA und EU in trauter Zusammenarbeit geschaffenen Failed States ganz zu schweigen.
Über unerfreuliche Entwicklungen in befreundeten Staaten wird jedoch der Mantel der Diskretion gebreitet.
Durch diese Art der Berichterstattung entsteht auch die Ansicht, man brauche nur den obersten Bösewicht und vielleicht einige seiner eingeschworenen Unterstützer wegräumen, und schon würde alles gut.
In diesem Geiste ist auch das etwas stümperhafte Attentat zustandegekommen, das vor einigen Wochen anläßlich einer öffentlichen Veranstaltung gegen Maduro begangen wurde. Ob das jetzt vom Ausland gesteuert wurde oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist, daß die Attentäter sich sicher sein konnten, daß sie vom Ausland und der inländischen Opposition beklatscht werden würden, wenn es ihnen gelingt. Daß die PSUV und Maduro auch nach wie vor viele Anhänger haben, bedachten sie gar nicht.
Dieses Resultat ihrer eigenen Hetze war den Medien offenbar etwas unangenehm, sodaß von Anfang an so getan wurde, als hätte die Regierung dieses Attentat aus Propagandazwecken selbst in Auftrag gegeben.
Warum sie das tun sollte, ist zwar nicht einsichtig, aber im Rahmen des allgemeinen Einheitsbreis von den verrückten Machthabern, die an ihren Sesseln kleben, läßt sich so ein widersprüchlicher Unsinn auch unterbringen.
2. Was tun? Interventions-Überlegungen
Seit geraumer Zeit, bereits vor Trumps Amtsantritt, wurden Pläne zu einer militärischen Intervention in Venezuela gewälzt. Trump selber fragte vor einem Jahr ziemlich unverblümt herum, ob man nicht dort einfach einmarschieren könnte?
Sowohl seine eigenen Berater als auch die ebenfalls zu Rate gezogenen lateinamerikanischen Politiker erteilten diesem Plan eine schlichte Absage.
Auch die sehr amerikafreundlichen Regierungen Brasiliens und Kolumbiens haben klargestellt, daß sie selbst nicht daran denken, dort militärisch einzugreifen, weder im Alleingang noch mit den USA zusammen.
Erstens sind die USA nach mehreren Invasionen, die für das US-Budget sehr kostspielige Failed States erzeugt haben, selber etwas vorsichtiger geworden, was Einmärsche anbelangt. Die Besatzung eines Landes bindet außerdem Truppen, die dann woanders nicht zur Verfügung stehen, und kann sich, wie man an Afghanistan oder dem Irak sieht, sehr lange hinziehen.
Zweitens liegen die Gründe, warum die USA vor einer Intervention zurückschrecken, auch in Venezuela selbst. Venezuela hat ein recht hochgerüstetes Militär, das bisher loyal zur Regierung stand, und diese Regierung hat auch einen großen Rückhalt in der zivilen Bevölkerung. Eine Invasion wäre daher verlustreich für die eigenen Truppen, würde Gemetzel unter der Zivilbevölkerung zu Folge haben und ein Erfolg wäre völlig unsicher.
Es ist keineswegs so, wie die Medien vorspiegeln, daß Invasoren willkommen wären und die Bevölkerung sie mit offenen Armen empfangen würden, und das wissen Pentagon und CIA genau so gut wie die Regierungen der Anrainerstaaten.
3. Migranten
Immer mehr Leute verlassen Venezuela und verursachen damit ein Problem für die Staaten in Südamerika.
Zunächst für die unmittelbaren Anrainerstaaten.
Sie überfluten Grenzstädte in Kolumbien und Brasilien, die ohnehin eher Armenhäuser der jeweiligen Staaten sind. Die Venezolaner kommen teilweise unterernährt und krank an, weil in Venezuela Grundnahrungsmittel knapp sind und weil die medizinische Versorgung in Venezuela von Haus aus mangelhaft war und inzwischen aufgrund des Mangels an Medikamenten in vielen Gegenden zusammengebrochen ist.
Dazu kommen bei der Weiterreise in andere Staaten Probleme der Bekleidung und Ausrüstung, weil Venezuela ein Land des ewigen Sommers ist, wohingegen Ecuador und Peru Teile der Andenhochebene sind und ein Hochgebirgsklima haben, für das die Venezolaner schlecht gerüstet sind.
Im brasilianischen Grenzdorf Pacaraima gibt es inzwischen eine ziemlich elende Zeltstadt, die vor allem durch NGOs mehr schlecht als recht versorgt wird, und es kam auch bereits zu einem Pogrom gegen die venezolanischen Auswanderer. Die Polit-Mannschaft des Bundesstaates Roraima macht ihre Politkonkurrenz inzwischen über das „Flüchtlingsproblem“ und, ähnlich wie hierzulande, geschieht in Sachen Flüchtlingsversorgung sehr wenig.
In Kolumbien ist es vor allem die Grenzstadt Cúcuta, die von venezolanischen Migranten überlaufen wird. Kolumbien fühlt sich deshalb berufen, besonders gegen die venezolanische Regierung Stimmung zu machen, die Probleme Cúcutas werden aber nicht gelöst.
Peru und Ecuador sind ebenfalls Zielländer für die venezolanische Emigration. Sie haben inzwischen beschlossen, Pässe beim Grenzübertritt zu verlangen, um den Zustrom zu unterbinden bzw. zu kontrollieren.
In Venezuela hatten die meisten Einwohner nie einen Pass. Sogar die Erlangung eines Personalausweises war jahrzehntelang für die meisten ärmeren Venezolaner zu teuer. Es stellte eine Leistung der Chávez-Regierung dar, die Leute überhaupt mit letzterem Dokument auszustatten, um ihnen Zugang zu Sozialleistungen zu ermöglichen.
Internationale Pässe auszustellen ist eine Dienstleistung, die erst in jüngerer Zeit sozusagen in Mode gekommen ist. Die Behörden sind mit dem Ansturm überfordert, und die venezolanische Regierung benützt diesen Umstand auch, um die Auswanderung zu behindern. Man kommt in Venezuela heute nur an einen Pass, wenn man einen Haufen Geld dafür ablegt.
Infolgedessen verlassen die meisten Venezolaner das Land nur mit einem Personalausweis, oder nicht einmal diesem. Sie treten also bereits als „sin papeles“, Undokumentierte, in den Nachbarländern auf.
Die Beschränkungen Ecuadors und Perus stoppen jedoch den Zustrom an Migranten nicht, sondern eröffnen nur ortskundigen Schleppern ein Geschäftsfeld, um die venezolanischen Migranten über Schleichwege auf das Territorium des Zielstaates zu bringen.
So präsentiert sich das „Problem Venezuela“ heute sowohl für die USA, die aus den oben beschriebenen Gründen nicht intervenieren will und kann, als auch für die Staaten Lateinamerikas, die zusätzlich zu ihrer eigenen Armut und „überflüssigen Bevölkerung“ im Marx’schen Sinn – Leute, die keine andere Existenzmöglichkeit als den Verkauf ihrer Arbeitskraft haben, für die das Kapital aber keine Verwendung hat – mit dem Problem der venezolanischen Emigration konfrontiert sind.
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siehe auch: Imperialismus heute: VENEZUELA UND DIE WELT (Jänner 2019)
Radiosendung zu Venezuela in 2 Teilen: Vom Glück und Pech, über Ressourcen zu verfügen (April 2019)
https://cba.fro.at/400802
https://cba.fro.at/401945
Serie „Lateinamerika heute“. Teil 2: Nicaragua
AUFRUHR IM HINTERHOF
In Nicaragua gibt es Aufstände gegen die gewählte Regierung, die inzwischen mehrere Hundert Tote gefordert haben und nach wie vor nicht beigelegt sind.
Folgende Fragen sind hier zu klären:
1. Was ist der Grund für diese Proteste der Bevölkerung?
2. Wie reagiert die Regierung darauf, und warum?
1. Der Sozialstaat in Nicaragua
Die Unruhen in Nicaragua entzündeten sich an einer Reform des Pensionssystems. Die Beiträge der arbeitenden Menschen sollten erhöht, das Pensionsalter hinaufgesetzt werden.
Um eine solche Reform überhaupt durchführen zu können, muß ein Pensionssystem erst einmal vorhanden sein. Das heißt, die arbeitende Bevölkerung muß sich in stabilen, bei der entsprechenden Behörde registrierten Arbeitsverhältnissen befinden und einen Teil ihres Gehaltes an eine Pensionskasse abführen.
Daß es so etwas in Nicaragua überhaupt gibt, ist eine Errungenschaft der sandinistischen Revolution. Die meisten Staaten Mittelamerikas, oder überhaupt Lateinamerikas verfügen über ein solches System nicht.
Ein Pensionssystem setzt nämlich ein Arbeitsrecht voraus. Die arbeitende Bevölkerung muß sich in rechtlich geregelten Arbeitsverhältnissen weiterbringen. Das heißt, jede arbeitende Person muß einen Vertrag haben und über ein Umlagesystem einen Teil ihres Gehalts in die Pensionskassen abführen.
Das wiederum setzt voraus, daß alle Unternehmer, also Kapitalisten, geregelte Arbeitsverhältnisse akzeptieren und ihre Angestellten / Arbeiter legal anmelden und ihnen zumindest einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn zahlen müssen.
Der Preis dieser Einrichtung eines Pensionssystems war der, daß die Unternehmer von den sogenannten Arbeitgeber-Beiträgen befreit wurden, oder nur einen minimalen, eher symbolischen Beitrag entrichten müssen.
Anders ließ sich offenbar der besitzenden Klasse Nicaraguas dieses Arbeitsrecht nicht aufs Aug drücken. Vergessen wir nicht, daß die sandinistische Revolution die Herrschafts- und staatlichen Verteilungsverhältnisse gewaltsam änderte, aber das Privateigentum bestehen ließ, und bis heute garantiert. In Nicaragua blieben die Reichen reich und die Armen arm, nur die Verwaltung der Klassen, vor allem der ärmeren, änderte sich.
Das heißt, daß die Last des Pensionssystems ausschließlich auf den arbeitenden Mitgliedern der Gesellschaft ruht. Sie zahlen ein, um irgendwann in den Genuß einer Pension zu kommen, die sicherlich minimal ist und ein Überleben nur im Rahmen der Familiengemeinschaft ermöglicht. Aber immerhin, es gibt sie, und so tragen die Alten auch etwas zum Familienhaushalt bei und liegen ihren jüngeren Familienmitgliedern nicht auf der Tasche.
Aber gehen wir zurück zum Umlagesystem der Pensionen: Es kann sich nur durch ein duales System der Beiträge finanzieren. Wenn die Unternehmer nichts beitragen und die Arbeitnehmer / Arbeitenden allein die Last der Beiträge stemmen müssen, so bedürfte es höherer Löhne, die einen solchen Abzug hergeben. Die Gehälter in Nicaragua sind bescheiden, und von denen kann man als Sozialstaat keine großen Abzüge machen, sonst können die Lohnempfänger von ihrem Nettolohn nicht existieren.
Das nicaraguanische Pensionssystem kam also mit dem Geburtsfehler der Unterfinanzierung auf die Welt, und mußte deshalb – notwendigerweise – vom Staat bezuschußt werden.
Und daran störte sich der IWF, als er der nicaraguanischen Regierung voriges Jahr die Empfehlung gab, es doch selbsterhaltend zu gestalten, und den Staatshaushalt zu entlasten.
Man hätte ja da auch die Unternehmer zu Beiträgen nötigen können, oder aber so weitermachen wie bisher. Immerhin war Nicaragua nicht in Nöten, es verhandelte nicht auf Teufel komm raus um einen Standby-Kredit, eine unmittelbare Notwendigkeit zu einem solchen Schritt gab es also nicht.
Es entsprang offenbar den Kalkulationen der nicaraguanischen Regierung, sich mit dem IWF Liebkind zu machen, um die Sanktionen, die die USA im Herbst vorigen Jahres wegen der Unterstützung Venezuelas gegen Nicaragua verhängt hatten, wieder wegzukriegen.
Diese Sanktionen erschwerten und verteuerten nämlich die Kreditaufnahme Nicaraguas auf dem internationalen Parkett.
Eine andere Möglichkeit wäre, daß die nicaraguanische Regierung ihre anderen Sozialprogramme auf Kosten des Pensionssystems finanzieren wollte, weil sich aufgrund der Sanktionen die Einnahmen verringert hatten.
Vielleicht ist noch daran zu erinnern, daß China einmal einen zweiten Kanal durch Nicaragua bauen wollte, und da einiges an Geld winkte. Dieses Projekt wurde aber inzwischen hintangestellt oder ganz aufgegeben, weil China sich auf den Ausbau der neuen Seidenstraße konzentriert und der Panamakanal erweitert wurde und nicht mehr ein besonderes Nadelöhr darstellt.
Dadurch gingen Investitionen verloren, mit denen die nicaraguanische Regierung kalkuliert hatte.
Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die Regierung ihre Geldnöte auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung behandeln, und auf keinen Fall die Unternehmerklasse zur Kasse bitten wollte.(*1)
2. Das System Ortega: Allianz mit Kirche und Kapital
Während die nicaraguanische Regierung außenpolitisch Venezuela unterstützt, ist sie im Inneren äußerst bemüht, ja nicht die einheimischen Eliten gegen sich aufzubringen oder das internationale Kapital zu verschrecken. Sie gewährte ihnen alle Freiheiten und punktete gleichzeitig mit der vergleichsweise guten Rechtssicherheit, um Investitionen anzuziehen.
Dieser für ein Land dieser Hemisphäre außergewöhnliche innere Frieden war ein Ergebnis mehrerer Faktoren, aber vor allem eben des Sozialstaates, den die sandinistischen Politiker aufgebaut haben. Dazu kommt noch die politische Struktur, wo sich die Regierungspartei zu einer allmächtigen Einheitspartei aufgebaut hat, die über ein Klientelwesen Pfründe und Einflußsphären verteilt und mit Veranstaltungen in dafür eigens eingerichteten Polit-Parks Mitbestimmung zelebriert und die Bevölkerung bei der Stange zu halten versucht.
Außerdem hat sie die traditionelle Verbundenheit der Sandinisten mit den christlichen Werten – wer erinnert sich nicht an Ernesto Cardenal – für eine umfassende Christianisierungs-Kampagne benützt, um das Volk mit dem bewährten Opium einzulullen und gleichzeitig den Klerus als Stütze und Verbündeten zu gewinnen. Der Pakt mit der Kirche führte dazu, daß es nicht nur christliche Sprüche an allen Straßenecken, sondern auch ein striktes Abtreibungsverbot in Nicaragua gibt.
Und das hat ja auch alles ganz gut funktioniert, bis zu dieser Pensionsreform. Der Erfolg ist dem starken Mann Nicaraguas, Daniel Ortega, offenbar zu Kopf gestiegen.
3. Daniel Ortega und Rosario Murillo
Die Versöhnungspolitik mit den Eliten hat so gut funktioniert, daß es kaum eine Opposition mehr gibt. Die herrschende Klasse Nicaraguas sieht sich mit ihm gut bedient, und eine andere Opposition kann aufgrund der institutionellen Umarmung durch die Einheitspartei gar nicht erst entstehen. Daher ließ Ortega die Verfassung ändern, er kann unbegrenzt wiedergewählt werden. Auch wenn an den Gerüchten über Wahlfälschung etwas dran ist – die hat in Nicaragua Tradition –, so läßt sich nicht übersehen, daß es eben auch keine ernsthaften Gegenkandidaten gibt.
Als Präsident auf Lebenszeit, der auch Gott an seiner Seite weiß, hat er auch noch dazu die kongeniale Partnerin gefunden. Er und seine Frau, die Esoterikerin Rosario (d.h. „Rosenkranz“, nomen est omen) Murillo zieren überall Wände und Hausecken und gerieren sich als die Royals von Nicaragua. Die häßliche Hauptstadt Managua wurde mit Strukturen aus Metall, die nachts beleuchtet sind, verschönert, den sogenannten „Lebensbäumen“.
Mit einer Mischung aus sozialer Rhetorik, religiösen salbungsvollen Sprüchen und esoterischem Psycho-Müll belabern die beiden das liebe Volk über die staatlichen Kanäle, während die liberale Presse Gift und Galle gegen diese „Marxisten“ spuckt. Dazwischen werden Schlager und Mariachis geboten.
Die Medien in Nicaragua sind unerträglich, mehr noch als sonstwo.
Und wie jeder größenwahnsinnige Landesvater war er offenbar unglaublich entrüstet, daß das von ihm beglückte Volk, anstatt zu schätzen, was er ihm alles Gutes tut, gegen ihn auf die Straße geht.
4. Die Repression und die Folgen
Mit dieser Pensionsreform stellte die Regierung praktisch die ganze Pensionsvorsorge in Frage, weil erstens die Beiträge aus den weiter oben angeführten Gründen schon bisher von sehr geringen Löhnen abgezogen wurden und zweitens die Pensionen inzwischen offenbar einen fixen Bestandteil des familiären Budgets der Nicaraguaner darstellen.
Als die Proteste losgingen, schickte die Regierung außer der Polizei auch spezielle Partei-Schläger gegen die protestierenden Massen los. Jeden Protest im Keim ersticken! scheint die Devise gewesen zu sein. Es wurde scharf geschossen. Gleichzeitig wurden die Protestierenden als Agenten ausländischer Mächte beschimpft, die Nicaragua ins Elend stürzen wollen, vor allem natürlich des CIA.
Die Regierung verließ sich darauf, daß aufgrund der leidvollen Erfahrungen der jüngeren Geschichte („Contras“) diese Anschuldigungen geglaubt werden und sich bald wieder Ruhe einstellen wird.
Der soziale Frieden ist gründlich gestört. Nicaragua ist zwar inzwischen wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, aber die Repression geht weiter. Verschwundene tauchen nicht wieder auf. Ärzte, die Verwundete behandeln, werden drangsalisiert oder entlassen. Die Kirche hat sich vom Dialog wieder zurückgezogen.
Das einzige, was Ortega weiter an den Schalthebeln der Macht hält, ist der Umstand, daß es zu ihm derzeit keine Alternative gibt.
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(*1) Im Nachhinein, im Lichte der Ereignisse, die seither stattgefunden habe, gibt es auch noch die Möglichkeit, daß die Regierung Ortega bewußt eine Konfrontation hervorrufen wollte, um endgültig reinen Tisch zu machen und die Opposition kaltzustellen.
Es ist übrigens noch nicht heraußen, ob das auch auf Dauer gelingen wird. (Ergänzung von 2023)
siehe auch: LATEINAMERIKA, EINE NEBENFRONT: 2. Aufruhr in Nicaragua
Radiosendung zu Nicaragua (November 2018)
https://cba.fro.at/387500