Nachruf auf Ernesto Cardenal

DIE REVOLUTION WIRD BEERDIGT
1. Zu Revolutionen überhaupt
Die meisten Anhänger von Revolution und Umsturz in unseren Breiten orientieren sich an der russischen Oktoberrevolution.

Andere Revolutionen sind unter ferner liefen: Die mexikanische von 1910 ff., , die portugiesische Nelkenrevolution, die russische Februarrevolution, usw. Entweder man schweigt darüber, oder tut sie als Fake-Revolutionen, halbe Sachen ab.

Das Wort „Revolution“ kommt eigentlich aus der Astronomie. Das im 17. Jahrhundert erschienene Werk von Kopernikus hieß „De revolutionibus orbium coelestium“ (Über die Umschwünge der Himmelskörper). Erst im 18. Jahrhundert wurde es auf gesellschaftliche Veränderungen, Umstürze angewendet. Seither hat der Begriff eine sehr turbulente Karriere gemacht, mit der die Gewalt oftmals verklärt und gerechtfertigt wird.

Man stellt sich dabei vor, die alte Ordnung würde zerschlagen und eine neue errichtet. Abgesehen davon, daß die neue nicht umbedingt besser sein muß, wird auch meistens jede Menge alter Mist mitgeschleppt und mit einem neuen Anstrich versehen. Das war auch bei der russischen Revolution so.

Heute ist der Begriff endgültig auf den Hund gekommen und bezeichnet mit den „Farbrevolutionen“ vom Ausland angezettelte Umstürze zum Austausch von Marionetten.

2. Die nicaraguanische Revolution

zählt für Revolutions-Puristen zu den nichtswürdigen Revolutionen. Die Frente Sandinista einte nur ein Wunsch: Weg mit Somoza! Ähnlich wie heute bei Farbrevolutionen, wo ein Präsident schuld an allem sein soll, sahen viele in der Person des Diktators den Grund für alle Übel, die Nicaragua plagten. Über das, was nachher kommen sollte, hatten sie sehr unterschiedliche Vorstellungen.

Nach dem Sturz Somozas dividierten sich die Sandinistas deshalb schnell auseinander, und bekämpften einander gegenseitig. Es war Pragmatikern wie Daniel Ortega zu verdanken, daß überhaupt so etwas wie ein sandinistischer Staatsapparat zustandekam. Dabei konnte er auf seinen Bruder Humberto zählen, der das Militär reorganisierte und zu einer Stütze der aus der Guerilla hervorgegangenen Partei FSLN machte.

Ortega arrangierte sich mit den alten Eliten, tastete die Eigentumsverhältnisse nicht an und schuf durch einen rudimentären Sozialstaat so etwas wie sozialen Frieden. Außerdem machte er sich Liebkind bei der Amtskirche, unter anderem mit einem absoluten Abtreibungsverbot. Er legt Wert darauf, daß die sandinistische Revolution christlich ist, und zwar in sehr konservativer Auslegung. Das steht auch auf allen Schildern, Mauern und in den Schulen Nicaraguas.

Auch das widerspricht dem von Cardenal gepredigten – und gelebten! – Christentum.

Das Intermezzo der bourgeoisen Regierungen unter Chamorro und Alemán tat das ihrige, um Ortega und die FSLN als kleineres Übel in den Augen der Wähler wieder an die Macht zu bringen. Auch heute, nach Niederschlagung von Demonstrationen mit einer beträchtlichen Anzahl von Toten sehen Ortega & Co. in den Umfragen immer noch besser aus als die Oligarchen-Opposition.

Um das gegenüber den ursprünglichen hochgesteckten Erwartungen recht bescheidene Ergebnis der sandinistischen Revolution irgendwie als Erfolg zu verkaufen, bedurfte es der Propaganda. Und da geriet Daniel Ortega mit Ernesto Cardenal aneinander. Die Propagandachefin von Nicaragua ist nämlich Ortegas Frau, die First Lady Rosario Murillo.

3. „Revolution“ bei Ernesto Cardenal und daraus resultierende Konflikte

Cardenal verband mit der Revolution eine spirituelle Erneuerung, die sich in Kunst, Literatur und Wissenschaft niederschlagen sollte. Ähnlich der bäuerlichen Künstlerkolonie auf der Inselgruppe von Solentiname im Nicaragua-See, die er organisiert und für die er ein „Evangelium“ geschrieben hatte, sollten in ganz Nicaragua Künstler und Dichter entstehen. Als Kulturminister veranstaltete er deswegen große Künstler- und Dichter-Lehrwerkstätten.
Das brachte ihn, der nebenbei auch noch Priester und Angehöriger des Trappisten-Ordens war, beim Pontifex Maximus in Mißkredit. Karol Wojtyla hielt nämlich nichts von kommunistischen Experimenten, unter die er sowohl die sandinistische Revolution als auch die Theologie der Befreiung einreihte, deren Vertreter und Verkünder Cardenal war.
Es war zusätzlich sicher die spirituelle Konkurrenz zu Wojtyla, das „diesseitige“ und kreative Element von Cardenals Wirken, das den antikommunistischen Kreuzzügler aus Polen störte. Cardenal hielt auch nichts vom Zölibat und war den körperlichen Freuden der Liebe sehr zugetan.
Der Papst verbot ihm Anfang der 90-er Jahre die Ausübung seines Priesteramtes und die Stiftung der Sakramente.
Solche Behandlung war im 20. Jahrhundert selten. Cardenal konnte sich geehrt fühlen, von dem polnischen Exorzisten aus der Kirche ausgeschlossen worden zu sein. Erst der jetzige Papst aus Argentinien nahm ihn voriges Jahr wieder in den Schoß der Kirche auf. Wirklich beeilt hat er sich damit auch nicht, um ein Haar wäre Cardenal als Amtsenthobener gestorben.
Seine Meinung von Johannes Paul II. war dementsprechend: „Dieser Papst war eine Katastrophe für Lateinamerika und ein Unheil für die ganze Welt“, so drückte er vor einigen Jahren bei einem Interview seine Meinung zu seinem verstorbenen Widersacher aus.

Der Mann, der niemand etwas wegnehmen und allen etwas geben wollte, geriet auch mit der weltlichen Macht Nicaraguas aneinander. Schon in seiner Zeit als Kulturminister in den 80-er Jahren stieß er sich an der primitiven Kunstauffassung der sandinistischen Propagandaabteilung. Damals entstand die Feindschaft mit der First Lady, die seither Managua mit häßlichen bunten und beleuchteten Metallgestellen, genannt „Lebensbäume“, und den Rest des Landes mit kitschigen Eventparks vollgepflastert hat. Das mißfiel dem Mann, der von kosmischer Harmonie träumte.

Der Gegensatz kam in den letzten Jahren auf seine Spitze, als ausgerechnet Cardenal, der materiell in mönchischer Enthaltsamkeit lebte, der Korruption und Unterschlagung bezichtigt wurde. Wegen eines Gebäudes auf der Inselgruppe Solentiname – wirklich am Arsch der Welt und schwer erreichbar – behelligte ihn die Justiz: Er solle sich unrechtmäßig bereichert und aus der Immobilie irgendwie Profit geschlagen haben. Das war die Retourkutsche, weil er dem Ortega-Clan – mit weitaus mehr Berechtigung – Bereicherung und Nepotismus vorgeworfen hatte.

Sogar bei seinem – von Bereitschaftspolizei überwachtem – Begräbnis kam es zu Tumulten mit Ortega-Anhängern, die ihn als Verräter an der Revolution bezeichneten und die Trauernden beschimpften.

Als ich dich verloren habe

Als ich dich verloren habe, haben du und ich etwas verloren:
Ich deshalb, weil du dasjenige warst, was ich am meisten geliebt habe
und du, weil ich derjenige war, der dich am meisten geliebt hat.
Aber von uns beiden hast du mehr verloren als ich:
denn ich kann andere Frauen genauso lieben wie dich
aber dich wird niemand mehr so lieben, wie ich dich geliebt habe.
(Poemas de Ernesto Cardenal)

Pressespiegel: Rebelión, 5.2.

ARGENTINIEN IST IN DER SCHULDENFRAGE NICHT NACH SCHERZEN ZUMUTE

Es besteht kein Zweifel, dass alles, was mit der eingeforderten Schuld verbunden ist, schwerwiegend ist. Sie ist verhaßt, unrechtmäßig, unerträglich und kann niemals getilgt werden. (1) Die Regierung hat dieses Thema zum wichtigsten und – neben dem Thema Hunger – vorrangigen Thema ihrer Tagesordnung gemacht. Jeder, der mit Ämtern zu tun hat, kann das wahrnehmen. Alle wichtigen Pläne, Programme und Sprachregelungen scheinen von der Lösung dieses Problems abhängig zu sein.
Der Gesamtbetrag der angeblichen Schulden beläuft sich auf rund 100 Milliarden US-Dollar (2), verteilt auf Schulden internationaler und privater Organisationen. In diesem Rahmen will die Regierung zahlen, indem sie Verbesserungen auf drei Ebenen anstrebt: Zinsen (niedriger), Fristen (länger) und Streichungen (vom Gesamtbetrag). Das ist es, was sie für machbar im Sinne von „wachsend zahlen“ (3) hält.

Um sich auf diesem schwierigen Terrain nicht zu verirren, sind in diesem Szenario vier Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Die Fristen der Verhandlungen; mögliche Fallen, die dort gestellt werden können; die auftretenden Gegensätze und die einzuschlagende Regierungspolitik.

1. Fristen
Die Regierung selbst hat festgesetzt, daß die Verhandlungen bis Ende März abgeschlossen sein müssen. Der Grund dafür ist, daß nachher Zahlungen fällig wären, die für die argentinische Staatskasse nicht zu bewältigen sind.
Können die Verhandlungen bis dahin abgeschlossen werden, so herrscht für beide Seiten Klarheit. Wenn nicht, so haben beide Seiten – Argentinien und seine Gläubiger – ihre jeweiligen Grenzen aufgezeigt. (4)
Gelingt keines von beiden, so ist zu untersuchen, welche Folgen die Einstellung von Zahlungen auf Land und Leute und die wirtschaftliche Entwicklung haben würde. (5)
Nach der Logik, der die Regierung folgt, würde also im April ihr Wirtschaftsprogramm in Angriff genommen. Das hat einige Widersprüche, da die finanzielle Situation Argentiniens ungeklärt ist.

2. Das Stellen von Fallen bei den Verhandlungen
Betrug und Täuschungsmanöver sind in heimischen Kartenspielen üblich und lassen sich auch in dieser Frage beobachten, sodaß gar nicht klar ist, was die genauen Verhandlungspositionen sind. Die Verhandlungspartner spielen falsch – mit der Zukunft von Millionen von Argentiniern, und letztlich von uns allen.
Den Betroffenen dieser Verhandlungen, die von selbigen ausgeschlossen sind, bleibt nur der Protest auf den Straßen. (6)
Es ist wahrscheinlich, daß diese Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu unerfreulichen Ergebnissen für die Bevölkerung des Landes führen werden.

Hier sei an die Worte von Joseph Stiglitz erinnert, – der Nobelpreisträger, ehemaliger prominenter Mitarbeiter der Weltbank und Mentor des derzeitigen argentinischen Finanzministers Martín Guzmán, der in diesen Verhandlungen die argentinische Delegation anführt.

In Anspielung auf die jüngsten Proteste in Ecuador, Kolumbien und vor allem in Chile meinte er, „das Überraschende sei, daß sich die Unzufriedenheit erst mit solcher Verspätung äußert“.
Die Regierung seines Schülers sollte das nicht vergessen.


3. Auftretende Widersprüche bzw. Gegensätze
Bisher haben Alberto Fernández und Cristina vorsichtig Konflikte vermieden und sich als geschlossener Block präsentiert.
Die Frage der Schulden droht jedoch dieses fragile Gleichgewicht zum Kippen zu bringen. Einige Fakten der jüngsten Vergangenheit weisen darauf hin, daß es innerhalb der Regierungspartei größere Gegensätze gibt als zwischen Regierung und Opposition.
Kürzlich haben mit 3 Ausnahmen alle Parlamentsabgeordneten für die „Wiederherstellung der Nachhaltigkeit der Auslandsschuld“ ausgesprochen. In dieser Frage herrscht also bemerkenswerte Einigkeit zwischen Regierung und Opposition. (7)

Während also mit der Opposition in dieser Frage Einigkeit herrschte, gab es innerhalb der Regierungspartei Zwist. Es war der Gouverneur von Buenos Aires, Axel Kicillof, der sich widersetzte und verkündete, ohne finanzielle Unterstützung aus der Staatskasse seine am 28. Jänner fälligen Zahlungen an die Gläubiger der Provinz nicht zahlen könne. (8)
Er versuchte Fristverlängerungen in den Verhandlungen mit den Gläubigern zu erreichen, aber es gelang nicht.

Aus dem Umfeld von Wirtschaft und Präsidentschaft wird versucht, dieses Problem herunterzuspielen und darauf hinzuweisen, dass es sich um eine vereinbarte Strategie handeln könnte. Es wächst jedoch der Eindruck, dass die Provinz Buenos Aires eine andere Vorgehensweise bei der Lösung des Schuldenproblems verfolgt. Schließlich ist Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner die unmittelbare Vorgesetzte von Kicillof. (9)
In diesem Zusammenhang rief auch die kürzliche Israelreise Kicillofs und sein Abendessen mit Netanyahu Kritik in kirchnerschen und anderen Kreisen hervor. Es entsteht der Eindruck, daß er sich israelische Fürsprache in den USA für die Verhandlungen mit dem IWF und privaten Anleihenbesitzern sichern will, offenbar im Gegenzug für die Unterstützung Argentiniens für den zwischen Israel und den USA abgeschlossenen „Jahrhundert-Deal“ zur Zurückdrängung der Palästinenser. (10)

4. Regierungskurs und andere Entwicklungen
Der IWF scheint das „Spiel“, das Argentinien vorschlägt, zu akzeptieren oder daran beteiligt zu sein, und hat gerade angekündigt, dass das Land – angesichts der bestehenden „Unsicherheiten“ – bis April vom Report über Ausblicke für Lateinamerika und die Karibik ausgenommen wurde. (11) Innerhalb dieser „Unsicherheit“ unternimmt die Regierung einige Schritte, die den zukünftigen Kurs markieren sollen.
Die Regierung bekräftigt ihren Kompromiß mit der westlichen Welt unter Führung der USA. (12) Obwohl angenommen werden kann, dass dies Teil ihrer Strategie in Bezug auf den IWF und die „Verschuldung“ ist, gibt es Fakten, die diesen Charakter überschreiten und die künftigen Entwicklungen gefährden. (13)
Bezüglich der Schulden gibt es den oben erwähnten Beschluß der Abgeordneten, die Schuld auf jeden Fall anzuerkennen und zu bedienen. Die Rechtmäßigkeit der Forderungen wird außer Frage gestellt und die argentinische Regierung unterwirft sich in strittigen Fällen den ausländischen Gerichten.
Hier fällt das dröhnende Schweigen verschiedener sozialer Organisationen auf, die glauben, die drückenden Schulden, die auf der gesamten Bevölkerung lasten, durch guten Beziehungen zur Obrigkeit abschütteln zu können.

Ebenso wurde mit einer Mehrheit ähnlich wie bei der Abstimmung der Schulden eine Genehmigung für die Anwesenheit ausländischer Truppen und den Verlegung nationaler Streitkräfte zur Teilnahme an den Übungen, die im Programm für kombinierte Übungen vorgesehen sind, bis zum 31. August genehmigt 2020. Dem radikalen Block zufolge sind dies bereits 18 Militärübungen. (14)
Jeder, der es herausfinden möchte, kann sich über die engen Beziehungen zwischen diesen Operationen und den von den USA geförderten Putschen informieren.
Eine gemeinsame Operation mit den US-Marines in Gewässern des Südatlantiks, in denen sich die argentinischen Falklandinseln befinden, die nach wie vor von den mit den USA in der NATO verbündeten Briten besetzt sind, ist in diesem Rahmen ebenfalls möglich.

Der gegenwärtige Regierungskurs dürfte schwerlich mit den souveränen Interessen unserer Völker und der Region vereinbar sein.

Rebelión, 5.2.
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(1) Zum Begriff der „odious debt“ siehe hier.

(2) Hier scheint sich der Verfasser auf unmittelbar anstehende Schulden zu beziehen. Die Außenstände Argentiniens sind viel höher, offiziell 300 Millionen, aber möglicherweise gibt es auch viel verborgende Schuld, die durch Sonderklauseln bei Schuldaufnahmen auch noch irgendwo auftauchen wird.

(3) Damit ist gemeint, die Schuld zu bedienen und dennoch Wirtschaftswachstum zu erzielen. Der Schuldendienst soll also das Wachstum nicht übersteigen. Bei der Schuld Argentiniens ist das unmöglich.

(4) Hier wird etwas Zweckoptimismus an den Tag gelegt. Die Gläubiger sind natürlich auch Konkurrenten, sie bilden keine einheitliche Gruppe. Die Schulden Argentiniens verteilen sich auf jede Menge verschiedene Banken, Hedgefonds, private Anleihen-Halter und den IWF selbst.

(5) Die argentinische Regierung droht also offen mit einem neuerlichen Zahlungsstopp. „Wir können auch anders!“ sagen sie. Die Einstellung des Schuldendienstes 2002 hatte üble Folgen für Argentiniens Bevölkerung, aber auch die Maßnahmen der Schuldenzahlung unter Macri haben ähnliche Folgen gehabt: Hunger in einem Land, das seit langem ein großer Agrarexporteur ist.

(6) In diesem Zusammenhang sollte man sich daran erinnern daß es die Proteste auf der Straße waren, die zum Sturz des Präsidenten De La Rua im Jahr 2001 führten und damit den Bankrott Argentiniens 2001/2002 auslösten.

(7) Diese Einigkeit wurde aber relativ billig hergestellt, da dieser Beschluß eine Leerformel darstellt. Was heißt denn „Nachhaltigkeit“ in Schuldfragen, noch dazu bei einer solchen Überschuldung wie in Argentinien? Gemeint ist offenbar, daß eine Zahlungsunfähigkeit, ein „default“, auf jeden Fall vermieden werden soll. Das wiederum läuft darauf hinaus, sich den Bedingungen des Währungsfonds auf jeden Fall zu beugen.

(8) Hier zeigt sich ein Erbe der Ära Macri: Um im Parlament eine Mehrheit für die Wiederaufnahme des Schuldendienstes für die Altschuld zu erreichen, gewährte Macri den Provinzen eigene Verschuldungsfähigkeit, und ein munteres Schuldenmachen setzte ein, dessen gesamte Ergebnisse nach Schuldsumme, Zinszahlungen und Zahlungsfrist noch nicht einmal alle erfaßt sind.
Kicillof erbte die Schuld seiner Vorgänger und setzte jetzt die Regierung unter Druck, wieder die Verantwortung für die gesamte öffentliche Schuld zu übernehmen, was natürlich die Verhandlungen erschwert, weil immer mehr Schulden-Leichen im Keller auftauchen.

(9) Axel Kicillof ist ein keynesianisch orientierter Ökonomieprofessor, der in der Regierung Kirchner von 2013 bis 2015 Finanzminister und damals eine der Triebkräfte der abweisenden Verhandlungen mit den „Geierfonds“ war.

(10) Es ist unwahrscheinlich, daß Netanyahu in dieser Frage viel ausrichten kann. Außerdem berührt diese Frage die Außenpolitik Argentiniens, die möglicherweise anderen Prioritäten folgt. Kicillof kann darüber gar nicht entscheiden, und es ist anzunehmen, daß Netanyahu das auch weiß. Sehr viel wurde mit dieser Goodwill-Reise also nicht ausgerichtet.

(11) Diese Entscheidung, zu Argentinien für die nächsten 2 Monate nichts zu verlautbaren, erhöht die Unsicherheit, denn der IWF stuft natürlich damit das Land als unsicheren Kantonisten ein. Andererseits ist das natürlich keine Überraschung – niemand weiß, wie Argentinien seine Schulden stemmen wird, und es ist übrigens fraglich, ob im April diesbezüglich mehr Klarheit herrschen wird.

(12) Diese Beobachtung bezieht sich wohl vor allem auf die Haltung gegenüber China und der BRICS-Gemeinschaft, die unter Kirchner die bevorzugten Handelspartner und Gläubiger Argentiniens waren.

(13) Hierbei handelt es sich um Verpflichtungen, die gegenüber diesen Staaten – China und BRICS – eingegangen wurden und die die argentinische Regierung nicht ohne weiteres ad acta legen kann. Es geht vermutlich um Lieferverpflichtungen für Rohstoffe als Zahlung früherer Kredite.

(14) Hier scheint es sich um Manöver zusammen mit US-Streitkräften zu handeln, eine Art Plan für den Hinterhof, zur Niederhaltung widerspenstiger Regierungen oder Protestbewegungen. Die Regierung Macri scheint diesbezüglich einiges in die Wege geleitet zu haben, denen sich die jetzige Regierung nicht entziehen will. So werden eventuell Schuldenmoratorien an Interventionen in mißliebigen Staaten gekoppelt.
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Das sind ja schöne Perspektiven. Teil einer Interventionstruppe zu sein, um vom IWF Kredit zu erhalten.
Man wird sehen, wie sich dieses System von Abhängigkeiten und Erpressungen entwickelt.

Siehe auch bisherige Beiträge zu Argentinien:

ARGENTINIEN; SEIN PRÄSIDENT UND SEINE SCHULDEN – 19. Juni 2019
DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE – 26. September 2018
ARGENTINIEN BITTET DEN IWF UM KREDIT – 11. Mai 2018
RICHTUNGSWECHSEL IN ARGENTINIEN: MAURICIO MACRI, EIN HELD AUF ABRUF – 31. Januar 2016
FLEUNDSCHAFT! – 15. August 2015
DER COUNTDOWN LÄUFT – 11. Juli 2014
usw.

Let’s get Brexit done!

GESCHAFFT?
Nachdem sich die mediale Öffentlichkeit lange an einer sichtlich uneinigen britischen Politikermannschaft ergötzt hatte, ist inzwischen eine Mischung zwischen Erleichterung, Ernüchterung und und Ärger eingetreten.
Sie haben es doch wirklich gemacht!
Die Bilder von vereinzelten und verhärmten EU-Fans, die auf den Straßen Londons EU-Fahnen wedeln und gegen den Brexit protestieren, werden uns also in Zukunft erspart bleiben.
Die überall breitgetretene Hoffnung, daß es sich die Briten doch überlegen und ein 2. Referendum ansetzen und schön brav wieder in die EU zurückkehren werden, haben sich endgültig in Luft aufgelöst. Insofern ist tatsächlich etwas geschehen, d.h. Fakten sind gesetzt worden.

1. Vom Referendum zum Austritt

sind ja immerhin dreieinhalb Jahre vergangen, in denen einem Uneinigkeit der britischen Eliten in Sachen Brexit und EU vorgeführt wurde.
Wie kam es eigentlich zu dem Referendum?
David Cameron bestritt unter anderem damit seinen Wahlkampf: Er erklärte 2013, ein Referendum „EU-Mitgliedschaft: Ja oder Nein?“ abhalten zu wollen, sollte er die Wahl gewinnen. Er gewann sie 2015 und setzte für das folgende Jahr diese Abstimmung an.
Der innenpolitische Grund für diese Abstimmung war also, auf eine gewisse Anti-EU-Stimmung zu setzen, auch im Lager der Opposition, und darüber auf Stimmenfang zu gehen.
Was die außenpolitische Lage angeht, so wollte der britische Premier sich über eine solche Abstimmung Rückendeckung und eine bessere Ausgangslage für Neuverhandlungen über den Mitgliedsstatus verschaffen. Die Veränderungen in der EU selbst wären Teil einer auch von anderen EU-Staaten angestrebten Reform gewesen, wo verschiedene Staaten mehr Handlungsfreiheit, mehr Unabhängigkeit und weniger Zahlungen auf Kosten anderer durchsetzen wollten. Diese Reform war also kein britisches Sonderprojekt.
Noch vor dem neuerlichen Wahlsieg Camerons ging 2014 das schottische Unabhängigkeitsreferendum über die Bühne. Über die vorangegangenen Entscheidungen und die britisch-schottische Parteienkonkurrenz, die diese Abstimmung zur Folge hatte, mögen Interessierte woanders nachlesen. Es stellte allerdings in Westeuropa eine Besonderheit dar – normalerweise sind Zugehörigkeit von Territorium und Separatismus Gewaltfragen, die mit der Waffe in der Hand entschieden werden, siehe Jugoslawien – und fand dann auch in Katalonien Nachahmer.
Das wichtige für die Brexit-Frage war jedoch, daß das schottische Referendum als eine Art Probegalopp für das Brexit-Referendum angesehen wurde. Da es mit relativ hoher Beteiligung – über 84% – recht bequem für den Verbleib Schottlands im Staatsverband ausging – 55,3: 44,7 –, waren alle beruhigt, daß das EU-Refrendum eine reine Formsache, eine g’mahte Wiesn für die EU-Anhänger sein würde. Dieser Zweckoptimismus herrschte bis zum Vortrag des Referendums in den Medien.
Dies alles nur zur Illustration dessen, daß keiner der Verantwortlichen den Brexit wollte. Er ist ihnen „passiert“. Das Volk hatte gesprochen.
Rücktritte und Schuldzuweisungen folgten. Nachdem sich in Brüssel das Entsetzen gelegt hatte, bildeten sich 2 Strategien heraus:
1. Das war ein Versehen, man sollte ein neues Referendum abhalten und die Wählerschaft entsprechend bearbeiten, wie es ja bisher in der EU auch ein paarmal gelungen war: So lange abstimmen, bis das Ergebnis paßt, – das war die erfolgreiche Strategie in Irland 2008, Holland und Frankreich 2005, wenn Plebiszite gegen die Generallinie der EU waren.
2. Wenn die Briten wirklich ernst machen, so sollte man sie hart bestrafen und schauen, daß sie ohne EU praktisch in der Unterhose dastehen.
In den folgenden Jahren stellte sich heraus, daß sich für Variante 1 keine Anhänger in GB finden würden, da das Votum eben kein Versehen war, und ein weiteres Referendum deutlich mehr Stimmen für den Austritt erbringen würde, nach dem Motto: Jetzt erst recht!
Unter 2. stellte sich heraus, daß die EU sich ein solches Vorgehen nicht leisten kann, weil GB ein zu wichtiger Handelspartner ist, dem man nicht einfach abschütteln kann, ohne negative Folgen für die Rest-EU.
Innenpolitisch hat sich bei der letzten Wahl gezeigt, daß in GB ein entschlossenes Auftreten für den Austritt satte Mehrheiten bringt.

2. Was heißt eigentlich „Austritt“?

Zunächst wurde einmal festgestellt und von der EU anerkannt, daß die britische Führung in Zukunft ihr Heil außerhalb des Bündnisses suchen will und wird.
Obwohl noch immer nicht klar ist, was das im Detail alles für Folgen haben wird, so ist mit diesem Schritt schon einiges passiert: Ein Land hat „Nein!“ gesagt und damit kundgetan, daß es seine nationalen Ambitionen bei diesem Bündnis nicht gut bedient sieht. Die EU ist dadurch schwächer geworden, und es ist nicht absehbar, wie sehr dieses Beispiel Schule machen und weitere Austritte nach sich ziehen wird.
Immerhin ist ja jetzt ein Präzedenzfall gesetzt, an dem andere Unzufriedene sich orientieren können.
Der Separatismus in der EU erhält ebenfalls Auftrieb, da Schottland sich gerne abspalten würde. Das wird die Londoner Regierung zwar nicht zulassen, aber die Lockrufe aus der EU werden erstens nationale Spannungen in Großbritannien verschärfen, und zweitens auch andere Abspaltungstendenzen befeuern, wie in Katalonien und Flandern.
Nordirland befindet sich in einer unklaren Situation, da die Frage der Grenze zwischen Irland und Nordirland nicht gelöst und letztlich auch nicht lösbar ist. Es würde eines Krieges bedürfen, um hier klare Verhältnisse zu schaffen.
Ein ausgetretenes Großbritannien hat außerdem die Möglichkeit, durch bilaterale Handelsverträge einen weiteren Spaltpilz in die EU zu pflanzen.
Schließlich gibt es auch Pläne, GB zu einer großen Steueroase zu machen.
In diesem Falle müßte sich GB verstärkt über Verschuldung finanzieren und das Pfund, das im Schatten des Euro groß geworden ist, würde in offene Rivalität zum Euro treten, mittels Zinsfüßen und Risikoprämien.

3. Stimmungsbilder-Reportagen statt Analyse

Den Medien kann man wenig über diese Überlegungen und Risiken entnehmen. Mit geschmäcklerischen Urteilen über Engländer – vor allem ältere und arme – und kulturphilosophischen Leerformeln über „Europa“ bis hin zu Häme und Schadenfreude – „Es wird euch schon noch leid tun!“ – wird man hingegen überschüttet.
Die selbsternannten Hüter des imperialistischen Auftrags der EU – als Bündnis zu einer Großmacht zu werden – und Gegner aller Zeichen von Schwäche bei der Verfolgung dieses Ziels haben ein Feindbild gefunden, das an Großbritannien mit Reportagen und Feulletons ausgemalt wird: Das sind die Ausgesteuerten, die Mindestrentner, die Perspektivlosen, die dann irgendwelchen Scharlatanen nachrennen und sie wählen – von Trump über Johnson (Corbyns Sieg wäre den Jounalisten und Kommentatoren natürlich auch nicht recht gewesen) bis zur AfD.
Die Grundlage der demokratischen Ermächtigung von Herrschaft: 1 Person = 1 Stimme wird von ihnen mehr oder weniger in Zweifel gezogen. Am liebsten wäre es ihnen, die Arbeiterklasse, die Armen und Überflüssigen in große bewachte Ghettos zu sperren, und ihnen das Stimmrecht zu entziehen.
Noch wird dergleichen nicht offen ausgesprochen, aber die Verachtung der Unterschicht ist den meisten dieser Brexit-Artikel deutlich anzumerken.