Pressespiegel El País, 27.6.: Einheit in Gefahr?

DER WAGNER-AUFSTAND VERSCHÄRFT DIE SPALTUNG DER RUSSISCHEN STREITKRÄFTE

Das Wagner-Logo, ein Totenkopf an der Spitze eines roten Zielfernrohrs, erfreute sich auf den russischen Straßen bis zum Aufstand der Söldnerkompanie am vergangenen Wochenende großer Beliebtheit. So unterschiedliche Menschen wie der Manager eines billigen Hostels in Moskau, ein junger Mann in einem noblen Fitnessstudio und ein verkrüppelter Mann auf der Straße einte in diesem unklaren Krieg das Symbol von Jevgenij Prigozhin, dem neuen russischen Alpha-Mann, der seine eigenen Wahrheiten verkündet und kein gutes Haar an den Siegesbotschaften des Verteidigungsministeriums läßt.
Eine neue Form der Dissidenz, die auf ihrem Weg in die russische Hauptstadt den Beifall des Volkes und die Passivität der Streitkräfte fand. »Unser Ziel war es, diejenigen vor Gericht zu stellen, die während der militärischen Sonderoperation Fehler gemacht haben«, sagte Prigozhin am Montag durch eine Audioaufnahme, aus der hervorgeht, dass er noch am Leben ist.
Sein Überleben – politisch und physisch – stellt nun eine neue Bedrohung für das Regime dar, aber Putin kann nicht ohne seine Söldner auskommen.
Einen Tag, nachdem Russland durch Wagner in seinen Grundfesten erschüttert worden war, waren die Anstecknadeln und T-Shirts dieser Truppe wieder in den Geschäften erhältlich.

»Die Experten sind sich einig, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Alexej Djumin – Putins ehemaliger Leibwächter und derzeitiger Gouverneur von Tula – neuer Verteidigungsminister und General Sergej Surowikin Chef des Generalstabs wird«, meinte Sergej Markow am Montag. Er ist ein ehemaliger Putin-Berater, der zum inneren Kreis des Präsidenten gehört.“

Warum dann „ehemalig“?
Vielleicht ist er doch nicht so eingeweiht, wie der Verfasser des Artikels meint.

„Der derzeitige Minister Sergej Schoigu befindet sich in einer so schwachen Position, dass die russischen Kriegsbefürworter selbst anprangerten, dass das Video, in dem er drei Tage nach dem Aufstand auftauchte, bereits früher aufgenommen worden sei.
»Aber ihre Entlassungen werden nicht sofort erfolgen, damit es nicht so aussieht, als ob Schoigu und Gerassimow – der derzeitige Chef des Generalstabs – auf Wunsch des Rebellen entlassen wurden«, fügt Markow hinzu.

Nach den ersten Rückschlägen im Herbst 2022, als die Ukraine Teile von Charkow und Cherson zurückeroberte, kam es zu Machtkämpfen innerhalb der russischen Streitkräfte.“

Es waren allerdings weder die ersten Rückschläge – man denke an die teilweise sehr hohen russischen Verluste bei Kiew und den Rückzug von dort – noch die ersten Meinungsverschiedenheiten in der Armee Rußlands. Man erinnere sich an Dvornikov und seine Abberufung.

„Surowikin wurde unter dem Beifall von Prigozhin und dem tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrow, der mit seiner Prätorianergarde, den Kadyrowtsy, ebenfalls Protagonist dieses Krieges war, zum alleinigen Befehlshaber der Offensive befördert. Doch die Freude währte nur kurz: Schoigu ernannte im Januar Gerassimow zum Chef seiner Streitkräfte und Surowikin wurde in die zweite Reihe gestellt.
Der gescheiterte Aufstand offenbarte auch die Zweifel vieler kreml-naher Persönlichkeiten. Der tschetschenische Präsident brauchte mehr als einen halben Tag, um sich öffentlich für Putin auszusprechen, während die Direktorin des Medienunternehmens Russia Today, Margarita Simonján, bis vor kurzem eine glühende Anhängerin von Wagner, am Montag erklärte, sie habe nichts von der ganzen Sache mitbekommen, weil »sie befand sich auf einem Schiff auf der Wolga.«“,

– wo es anscheinend kein Netz gibt? Auf dem größten Fluß Rußlands?

„Die Strategie des Kremls angesichts des Aufstands von Prigozhin bestand darin, an die Einigkeit um den Präsidenten zu appellieren. Die Abgeordneten (der Duma) forderten bereits von Montag an blinde Unterstützung für Putin, und andere Sektoren schlossen sich dieser Botschaft an. »In schwierigen Zeiten hat uns die Loyalität des russischen Volkes gegenüber seinen Führern immer geholfen«, las der Sprecher von Last.FM ohne jede Leidenschaft, »auf Wunsch der Musikabteilung.«“

Recht neckisch, wenn man weiß, daß die Wagner-Truppe oft auch als „Musiker“ bezeichnet wird.

„Hierbei handelt es sich übrigens um einen Radiosender, der rund um die Uhr in Taxis im ganzen Land zu hören ist.

Ohne Wagner geht es nicht

Prigozhins Paramilitärs waren als bloßes „Kanonenfutter“ für an Selbstmord grenzende Offensivaktionen bezeichnet worden,“

– allerdings kam diese Einschätzung nur bei den erbitterten Kämpfen in Bachmut vor, nicht in anderen Einsatzgebieten –

„doch die Debatte um ihre Existenz zeigte am Montag, dass der Unternehmer immer noch diese Karte ausspielen kann.“

Der Satz ist unklar. Welche Karte? Immerhin hatten die Wagner-Truppen Bachmut eingenommen, sich also nicht dabei aufgerieben. Es war schon seit einiger Zeit klar, daß es Probleme geben würde.

„Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma (…) Andrej Kartapolow, verteidigte die Existenz Wagners, obwohl er einen Gesetzentwurf zur Regulierung von Söldnerfirmen vorlegte.“

Warum „obwohl“? Der Gesetzesentwurf war wohl überfällig, um der Wagner-Truppe einen legalen Rahmen zu geben.

„»Josif Vissarionovich Stalin sagte, dass Kinder nicht für ihre Eltern verantwortlich sind. Derjenige, der den Aufstand ausgelöst hat, muss reagieren (…) Wagner ist die am besten ausgebildete Einheit in Russland und sogar die Streitkräfte erkennen das an. »Man kann sich kein besseres Geschenk für die NATO und die Ukrainer vorstellen, als sie zu entwaffnen«, behauptete Kartapolow an diesem Montag und begründete damit, dass sein neues Gesetz »noch genau studiert und möglicherweise modifiziert werden muß«, was seine Annahme bis zum Herbst verzögern könnte. Ein bemerkenswertes Bemühen um Gesetzeskonformität angesichts der Tatsache, dass diese Art von Unternehmen seit geraumer Zeit, also schon vor Wagners Gründung, gesetzlich verboten war.

Angesichts dieser Lage plädiert das Verteidigungsministerium für die Entwaffnung der Söldner. Weitere einflussreiche Persönlichkeiten der russischen Politik erwärmen sich ebenfalls für siese Option. Der bereits in sowjetischen Zeiten aktive Militär und Abgeordnete Viktor Alksnis, bekannt als »der schwarze Oberst«, erinnerte die Parlamentarier daran, dass sie kürzlich ein Gesetz verabschiedet hatten, das Kritik an der Wagner-Truppe mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft.“

In der Tat bemerkenswert für eine illegale Vereinigung, von der ein guter Teil abgeurteilte Schwerbrecher sind.

„»Es kann nicht zwei (drei, vier usw.) Armeen in einem Staat geben! Alle militärischen Auftragnehmer und andere bewaffnete Formationen müssen verboten und entwaffnet werden!« Er schrieb auf Telegram und erinnerte dort an eine weitere Bedrohung: »Ich frage mich, was Präsident Putin jetzt mit Kadyrows tschetschenischer Armee machen wird, die über mehr als 70.000 Bajonette verfügt.«“

Ein Teil dieser 70.000 Kämpfer machte sich angeblich nach Rostov auf, um der Spuk ein Ende zu bereiten.
Das kann einer der Gründe sein, warum Prigozhin schnell einlenkte, weil Kadyrows Armee ist im In- und Ausland gefürchtet.
Zur allgemeinen Erleichterung, weil ein Zusammenstoß dieser beiden Formationen hätte in Rußland wirklich eine fatale Wirkung.

Ein weiterer einflussreicher Putin-Berater, sein Bevollmächtigter im Donbass und anderen besetzten Gebieten zwischen 2014 und 2020 – eine römische Richterposition, die der Kreml für seine inoffiziellen Unterführer eingerichtet hat –, Wladislaw Surkow, forderte ebenfalls die Entwaffnung der Wagnerianer. »In Russland ist es unmöglich, ein privates Atomkraftwerk zu haben. Aber eine private Sturmtruppe? Wieso das? »Diese Privatarmeen sind in Russland nur in Zeiten der Unruhen und des Bürgerkriegs von 1920 entstanden«, sagte er in einem Interview mit dem Politikwissenschaftler Alexei Tschesnakow.
Wer einmal als einer von Putins möglichen Nachfolgern galt, gab in dem Interview jedoch zu, dass Wagner“ (seinerzeit, 2014 ff.) „im Donbass eingesetzt wurde, um die Anheizung dieses Krieges durch den Kreml zu verbergen: »Warum brauchen wir diese Leute jetzt, wo wir offen am Kampf um die Ukraine teilnehmen?«“

Surkow meint anscheinend, die Wagner-Truppen seien inzwischen obsolet. Na ja. Wenn das so war, warum wurden sie dann in Bachmut – erfolgreich – eingesetzt? War das vielleicht ein Versuch, sich ihrer zu entledigen?
Wenn ja, so ist dieser Versuch gründlich gescheitert.

„Die Bilder von Zivilisten, die Prigozhins Truppen in Rostow am Don hochleben ließen, haben bei der russischen Elite Angst ausgelöst, der nun bewußt wird, wie sehr sich der Chef der Wagners in den letzten Monaten durch seine Kritik an Schoigu beliebt gemacht hat. Die gefürchtete russische Internet-Kontrollinstanz Roskomnadzor sperrte sofort den Zugang zu seinen Mitteilungen auf Vkontakte (VK) und dem russischen Facebook, während die wichtigsten Online-Verkaufsplattformen Ozon und Wildberries die Fan-Produkte von Wagner während des Aufstands versteckten und versprachen, »sie in naher Zukunft vollständig vom Markt verschwinden zu lassen«.
Die Angst davor, Wagner zu unterstützen, hielt kaum länger an als sein gescheiterter Vormarsch auf Moskau.
Wildberries bot an diesem Montag 11.565 Produkte der „Musiker“ an. Zu den beliebtesten Artikeln gehörten Autoschlüsselanhänger, Aufnäher, Macheten und Mützen. Viele davon sind bereits ausverkauft und haben Lieferzeiten von mehr als einer Woche.

»Wagner, die Musiker, den die ganze Welt kennt«, lautete das Motto einer Fahne, die ein Model zwischen Flammen hochhielt. Im Hintergrund ein Paramilitär, bewaffnet mit einer Geige, einem Gewehr und einem Raketenwerfer. Eine Vision der Söldner, die Prigozhin idealisiert hat – derselbe, der die verstümmelten Leichen von Dutzenden der von ihm in Bachmut eingesetzten Ex-Gefangenen zur Schau gestellt hat, um Shoigu dafür zu kritisieren, dass er ihm keine Munition gegeben hat.
Mit seiner Kritik hat Prigozhin in den letzten Monaten Sympathien bei den Russen erworben. Laut einer Umfrage des unabhängigen Soziologiezentrums Levada stand der Geschäftsmann im Mai erstmals auf dem Podium der am höchsten bewerteten Persönlichkeiten. Die Umfrage ergab, dass ihm 4% der Bürger vertrauten, verglichen mit 11% für Shoigu.“

???
Schoigu ist offensichtlich weitaus populärer, sofern man dieser Umfrage überhaupt vertrauen kann.

„Gegen den Wagner-Chef spricht die Vergangenheit seiner Helden. Das letzte Verbrechen der freigekommenen Häftlinge ereignete sich am selben Tag wie ihr Aufstand: Am 23. Juni betranken sich drei ehemalige Söldner in der Stadt Kurgan“

– im südlichen Ural, was machen sie dort?

„und eröffneten das Feuer auf ein Gebiet mit Ferienhäusern. Diesmal ohne Opfer, im Gegensatz zu anderen ähnlichen Vorfällen in den letzten Monaten.“

Pressespiegel El País, 25.6.: Prigozhins Rebellion

RUSSLAND ZWISCHEN DER »LANGEN NACHT« PUTINS UND DEM »FLÜCHTIGEN PHÄNOMEN DES BÜRGERKRIEGES«

Pilar Bonet

„Der Aufstand wurde offenbar beschleunigt, weil Prigozhin durch den systematischen Versuch von Präsident Putin und dem Verteidigungsministerium, dem Mann die Flügel zu stutzen, dessen Truppen bis vor kurzem für ihre entscheidenden Siege im Krieg in der Ukraine verherrlicht und von Kreml-Propagandisten gelobt wurden, schikaniert und in eine Sackgasse geführt wurde.“

Die Analystin meint also, der Aufstand wurde absichtlich p r o v o z i e r t .

„Diese Belästigungen hatten sich in den letzten Wochen verschärft. Diesen Monat hat die russische Duma ein Gesetz verabschiedet, das auf die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols abzielt.
Demnach müssen sich alle Kombattanten, ob mobilisiert, freiwillig oder aus dem Gefängnis rekrutiert, der Hierarchie des Verteidigungsministeriums unterwerfen. Die Armee des tschetschenischen Führers Ramsan Kadyrow hat sich der Maßnahme diszipliniert unterworfen. Wagner nicht.
Dieses Unterhaus des russischen Parlaments hat außerdem Regelungen zur Rekrutierung (und auch zur Begnadigung) von Kriminellen während der Verbüßung ihrer Strafe verabschiedet.

Diese beiden Maßnahmen führten dazu, dass Wagner keine Möglichkeit mehr hatte, eine Privatarmee von Söldnern aufzustellen. Diese benützte bisher eine gewisse Grauzone, die Putin (in vielen Bereichen) unterhält, um den Subjekten – Verbündeten oder für ihn konjunkturell nützlichen – das Handeln zu erleichtern: Sie können hiermit nicht mehr im Rahmen des Rechts der Russischen Föderation handeln. Söldner sind somit in Russland verboten und alle Versuche des Parlaments, den Status und die Befugnisse von Wagner und privaten Militärunternehmen zu regeln, waren bisher erfolglos.“

Man muß hier ergänzen, daß diverse rechtliche Grauzonen dieser Art zwar vielleicht absichtlich
aufrechterhalten
, aber keineswegs in der Aera Putin e i n g e r i c h t e t wurden. Sie ergaben sich aus dem ganzen Zerfall der SU und dem Übergang zur Marktwirtschaft, bei dem der Staat viele Sphären aus der Hand gab und den Privatsubjekten überantwortete.

„In dieser Grauzone, außerhalb des Gesetzes, operierte Wagner, während er den russischen Behörden nützlich war, und dort verblieb er solange, bis er aufhörte, es zu sein – als Prigoschin nämlich eine Eskalation von Anschuldigungen und Verwünschungen gegen das Verteidigungsministerium und die herrschende Elite Russlands losließ und die Grundlagen und offiziellen Erklärungen zur Kriegsursache in Zweifel zog.

Vom Augenblick an, als der Kreml bei der Invasion in der Ukraine sich der Unterstützung Wagners bediente, bis zu dem Zeitpunkt, als er durch Prigozhins Selbstermächtigung alarmiert wurde, hat der sogenannte »Kremlkoch« seine eigene Armee mit mehreren Zehntausend Männern und Tausenden von Ex-Häftlingen aufgestellt, die von der Front zurückgekehrt sind und dank ihm begnadigt wurden.“

Damit hat Prigozhin sich sozusagen Hoheitsakte angemaßt und das ging zu weit.

„Von außerhalb der Szene, in der Prigozhin, der Kreml und russische Staatsinstitutionen agieren, ist es noch nicht möglich zu erkennen, ob der Aufstand dieses unflätigen Populisten die konkrete Tat eines trotzigen Putschisten ist oder ob er als Galionsfigur eines (oder mehrerer) Familien des Kremls operiert, oder beides gleichzeitig.

Im letzteren Fall wäre es notwendig zu wissen, welches Element das Gleichgewicht zwischen Prigozhins persönlichen Interessen und seinen Verbindungen zur Elite aus dem Gleichgewicht brachte. In seiner kurzen Ansprache bezeichnete Präsident Wladimir Putin die Meuterei als Verrat, und nur diejenigen, denen man vertraut, begehen Verrat. Putin erwähnte weder Prigozhins Namen noch den Namen von Verteidigungsminister Sergej Schoigu.

Am Samstagnachmittag versuchte Prigozhin, die Spannungen abzubauen, gratulierte sich selbst dazu, kein Blut vergossen zu haben und behauptete, den „Marsch für Gerechtigkeit“, der seine Männer nach Moskau führen sollte, aus Verantwortungsbewusstsein abgesagt zu haben.
Unabhängig vom Ausgang des Kampfes, der sich in seiner ganzen Härte manifestiert, wird die Situation in Russland jedoch nicht mehr dieselbe sein, denn wenn bis zu diesem 23. Juni das Epizentrum der Geschichte im Krieg gegen die Ukraine lag, konzentriert sich die Perspektive nun auf die Gespenst des innerrussischen Bürgerkriegs.

Die Tatsache, dass der Marsch auf seinem Weg in die Hauptstadt auf so wenig Widerstand gestoßen ist, lässt Zweifel an der Verteidigung des Staatsgebiets aufkommen und könnte Präsident Putin schwächen, berichten russische Medien in Moskau.

Wenn Prigozhin das Anhängsel einer der Kreml-Familien ist, fragt man sich, ob diese Familien zustimmen könnten, den unbequemen Meuterer zu opfern (und vielleicht andere Szenarien für das Ende des Konflikts in Betracht zu ziehen). Oder vielleicht würde sich eine dieser Familien gegen die anderen durchsetzen.

Neben diesen theoretischen Hypothesen lohnt es sich zu fragen, wie sich Wagners Rückzug von der ukrainischen Front auf die Kampffähigkeit der russischen Truppen und auch auf die bereits sinkende Moral der Männer auswirken wird, die im Namen der Wahnvorstellungen ihrer Vorgesetzten in den Kampf geschickt werden.“

Hier kommt die Propagandaabteilung Marke West zum Zug, der die Invasion und den Einmarsch als eine Art Wahnvorstellung abtut.
Aber es gibt natürlich Erklärungsbedarf für das Fallenlassen Prigozhins, der ja immerhin vor 2 Monaten noch als „unser Kämpfer an vorderster Front“ hochgehalten wurde.

„Wird es zu Spaltungen in den russischen Streitkräften kommen oder werden die Truppen im Gegenteil zusammenhalten?“

Es ist anzunehmen, daß dafür Vorsorge getroffen wurde, weil überraschend kam der Aufruhr ja nicht.

„Auswirkungen auf die Situation in der Ukraine

Es lohnt sich auch zu fragen, wie (oder ob) die Ukraine die aktuelle Situation in Russland ausnutzen wird (oder wissen wird, wie sie ausnutzen kann).

Ein weiterer Punkt, der geklärt werden muss – und der sich auf die Prozesse auswirkt, die hinter den Kulissen in Russland ablaufen könnten – sind die möglichen Versuche, Allianzen zwischen exilierten Oligarchen, die das ihnen vom Putin-Regime abgenommene Geld zurückerhalten wollen, und Teilen der russischen Regierung zu schmieden, die sie mit ihnen zusammenarbeiten und zu einem angenehmeren und weniger kriegerischen Leben mit der Welt zurückkehren möchten.“

Die sogenannten „Westler“ oder die marktwirtschaftsfreundliche Fraktion sind ja noch nicht ganz ausgestorben in Rußland.

„Interessant ist die Reaktion des Oligarchen Michail Chodorkowski, des ehemaligen Chefs des Jukos-Ölimperiums, der nach zehn Jahren Gefängnis aus Russland verbannt wurde.
Chodorkowski hatte den inzwischen abgesagten Marsch der Wagners von Rostow am Don nach Moskau unterstützt. Für den Fall, dass Prigoschin auf Moskau marschierte, empfahl Chodorkowski, »zu verhindern, dass er aufgehalten wird«, mit Treibstoff zu helfen und »diejenigen, die ihn aufhalten, davon zu überzeugen, dass man jetzt einen gemeinsamen Feind hat«.

Putins Rede zu dem Aufstand sollte als Drehbuch und Orientierung für die Regionalverwaltungen Russlands dienen und das Verhalten ihrer Führer bestimmen. Der Alltag in Moskau und St. Petersburg ist bereits verändert und in der russischen Hauptstadt, deren Sicherheit seit einigen Tagen sichtbar erhöht wurde, wurden die Werbetafeln und Straßenbanner, mit denen Wagner zur Rekrutierung aufrief, hastig entfernt.

In Provinzen wie Rostow am Don, Woronesch und Lipezk hingegen schien die Lage zunächst nicht so klar zu sein. Und für die russische Bevölkerung könnte es schwer zu verdauen sein, dass die Helden der Schlachten von Bachmut oder Soledar nun auf magische Weise aus dem offiziellen Gedächtnis verschwinden.“

Einmal sehen, ob sie retuschiert werden wie die in Ungnade gefallenen sowjetischen Führer von den offiziellen Fotos.

„»Der Bürgerkrieg in Russland ist eine Norm und kann in latenter Form und im Wechsel mit akuten Phasen jahrzehntelang andauern«, schreibt der Analyst Wladimir Pastuchow, der der Ansicht ist, daß der letzte Zyklus der Verschärfung dieses Bürgerkriegs 1989 begonnen hat und noch nicht beendet ist.
»Die Prigoschin-Meuterei ist nur eine der Episoden dieses Bürgerkriegs, der fast ein halbes Jahrhundert andauert«, schreibt Pastuchov. Und der Politikwissenschaftler erinnert daran, dass es im Bürgerkrieg keine Zwischentöne und Schattierungen gebe und man »entweder bei den Roten oder bei den Weißen« sei. Die Wahl ist schmerzhaft. »Zwischen Putin und der langen Nacht Russlands« und »dem flüchtigen Phänomen von Prigozhins Bürgerkrieg«, so sieht er die Möglichkeiten.“

Womit der Ausgang ja schon bestimmt ist, wenn die Wahl zwischen „lang“ und „flüchtig“ ist.

In Rußland selbst wird nämlich von vielen Personen die Herrschaft Putins nicht als „Nacht“ empfunden. Das ist die Sichtweise der „Westler“, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr verringert. Viele der ehemaligen Anhänger westlicher Kultur und Werte sind inzwischen im eurasischen Dunstkreis Dugins gelandet. Für diese Leute ging mehr oder weniger mit Putin die Sonne auf.

Bei diesem Vokabel fällt einem als historisch geschultem Geist eher die „Nacht der Langen Messer“ ein, mit dem sich Hitlerdeutschland der lästig gewordenen SA entledigte, die zwar bei der Machtergreifung nützlich gewesen, aber dann lästig geworden war.

Abgesehen vom weiteren Schicksal Prigozhins stellt sich auch die Frage nach seiner Wagner-Truppe – erstens sind sie sicher nicht ohne weiteres den regulären Einheiten einzugliedern. Zweitens sind sie auch außerhalb Rußlands im Einsatz – in Mali, in Libyen, in der Zentralafrikanischen Republik. Die ganze Außenpolitik Rußlands muß neu organisiert werden.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 14.6.: Ein Gespräch mit dem Politologen und Militärexperten Alexej Podberjoskin

WIE LANGE WIRD DIE WESTLICHE AUSRÜSTUNG FÜR DIE STREITKRÄFTE DER UKRAINE AUSREICHEN UND WAS WIRD ALS NÄCHSTES IN DER ZONE DER SPEZIALOPERATION PASSIEREN?

„KP: Was war für Sie das Interessanteste, was Ihnen bei dem Treffen zwischen Putin und Militärkorrespondenten aufgefallen ist?

AP: Das war die Frage der Mobilisierung, und Putin gab eine eindeutige Antwort. Er hat sich zu der derzeitigen Lage sehr konkret geäußert.
Ich sagte, dass wir drei Möglichkeiten haben, die Streitkräfte zu vergrößern: Vertragssoldaten, Freiwillige und private Sicherheitsdienst-Mitglieder. Putin nannte konkrete Angaben, es hätten sich ungefähr 160.000 Freiwillige und Vertragssoldaten gemeldet. Daher ist im Augenblick kein Bedarf für eine weitere Mobilisierung.

KP: Will Kiew unsere Reserven ausdünnen?

AP: Ja, entlang der Grenze zu Belgorod, Brjansk und Kursk soll militärisch möglichst Druck gemacht werden. Damit Moskau Reserven dorthin wirft.

Eine Pufferzone von 500 km

KP: Was sagt Putin über die Sicherheits-Pufferzone – mit welchen Kräften soll sie ausgestattet werden?

AP: Ich habe vor etwa zwei Monaten darüber gesprochen, dass wir eine »No-Go-Area« gegen feindliche Kräfte einrichten müssen.
Wir haben kein Recht, Bedrohungen zuzulassen, die sich in einer Entfernung von 500 Kilometern von unseren Grenzen befinden. Anscheinend hatte Putin genau das im Sinn. Ansonsten erwischen uns nicht nur vom Boden abgeschossene Raketen – die HIMARS können auch mit ballistischen taktischen Raketen mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern ausgerüstet werden –, sondern auch Drohnen, für die 500 Kilometer keine Distanz sind.

KP: 500 Kilometer sollten unter der Kontrolle der russischen Streitkräfte stehen?

AP: Sicherheitszonen rufen auch andere Staaten aus. Israel zum Beispiel, zumindest teilweise.

KP: Nun, wir werden sie ein paar hundert Kilometer zurückdrängen – und dann stellt sich heraus, dass sie jetzt unser Charkow beschießen …

AP: Verwechseln Sie nicht Politik, militärische Sicherheit und Recht. Ich sage aus Sicht der militärischen Sicherheit, dass wir einen Abstand von mindestens 500 Kilometern zur Kontaktlinie“ (= Front/Grenze/Feindberührung?) „gewährleisten müssen, um uns in Sicherheit zu fühlen.

KP: Wo wird diese Linie dieses politischen Kontakts verlaufen?

AP: Sie sollte entlang der Grenze der UdSSR verlaufen, die vor 1991 lag. Einschließlich Transnistriens und Moldawiens.

KP: Warum genau dort?

AP: In Rumänien wird derzeit die 101. Luftlandedivision der USA gruppiert, militärische Ausrüstung angesammelt und Flugplätze vorbereitet.
Das Manöver, das jetzt in Europa begonnen hat, wird sich weitgehend auf die Möglichkeit einer Konzentration der Luftfahrt stützen. Dies ist die Hauptangriffsmacht der NATO in diesen Regionen. Wir müssen allen sagen, dass wir ihre Sicherheit garantieren, aber auch, dass sie uns eine Zone „außerhalb ihres Zugriffs“ 500 Kilometer von dieser Grenze entfernt garantieren.“

Ambitioniert.
Rußland fordert also eine demilitarisierte Zone bis zu 500 km und nennt das mehr oder weniger als Kriegsziel. Also eine Demilitarisierung nicht nur der Ukraine, sondern auch Moldawiens.

„Dem Westen geht der Nachschub aus?

KP: Nicht nur Russlands militärisch-technische Fähigkeiten, sondern auch die des Westens werden auf die Probe gestellt?

AP: Ja. Putin hat auch darüber gesprochen. Wir produzieren fünf- bis siebenmal mehr Munition als der gesamte Westen zusammen. Und die westlichen Kapazitäten an Munition und Waffen sind praktisch erschöpft.
Bereits jetzt werden die Bestände Israels und Südkoreas für die Versorgung der Ukrainischen Armee genutzt.“

Interessant, daß diese Staaten Waffen herausrücken – die sie ja auch selber benötigen könnten. Beide Staaten sind ja auch dauer-wehrhaft, wegen eines Feindes vor der Haustüre.

„Doch solange der Westen über militärisch-technische Fähigkeiten verfügt, wird er Widerstand leisten.

KP: Wie steht es um die Ukrainische Armee?

AP: Sie hat nur noch geringen Spielraum im operativen Bereich, für ca. 3 Wochen. Ich habe vor zwei bis drei Monaten gesagt, dass der Konflikt in derzeitiger Intensität alle verbleibenden Ressourcen verschlingen wird.
Als der Konflikt begann, schätzten wir die ukrainische Luftwaffe auf 150–200 aktive Flugzeuge. Nun wurden bereits 450 vernichtet – und zwar mit Nachschub aus osteuropäischen Beständen. Nun, sie werden sogar diese berüchtigten F-16 liefern …

KP: Stimmt es, dass sie nicht besser sind als MiG-29?

AP: Im Allgemeinen nicht stärker. Es geht um die Raketen, mit denen die F-16 für die Streitkräfte der Ukraine ausgerüstet werden sollen. Und unsere T-90-Panzer sind nicht schlechter als die Leopard-2, selbst die neuesten Modifikationen.

KP: Die Truppen loben den T-90 „Durchbruch“.

AP: Sein offensichtliches Plus ist das Gewicht, das 20 Tonnen geringer ist als das der »Leopard«. Er ist dadurch viel geländegängiger.
Dazu kommt die Frage der Reparatur. Wohin werden sie ihre kaputten Panzer tragen? Nach Polen, nach Deutschland? Wenn die Abrams geliefert werden, wird es die gleiche Geschichte sein.
Und dann die Frage der Munition. Sie haben dort bereits 25 Artilleriesysteme. Sie sind alle unterschiedlich groß. Noch schwieriger ist es, sie mit Munition zu versorgen. Nehmen wir eine Hochwassermarke von 3 Millionen Stück Munition pro Jahr, als Annahme – das ist eine Sache. Aber wenn man sie auf 25 Systeme aufteilt, sieht das ganz anders aus.

Eine andere Weltordnung

KP: Wir machen ihre Ausrüstung platt, sie können nicht mehr in Kolonnen weiterfahren und mit der Reparatur haut es auch nicht so hin – was kommt dann?

AP: Was als nächstes passiert, hängt von den Kräfteverhältnissen ab. Auf die Lage, auf das Gleichgewicht der politischen Kräfte, die sich rasch verändern. Bisher haben wir über die militärisch-technische Seite gesprochen, aber versuchen Sie, einen Schritt weiter zu gehen und diese Veränderungen in den internationalen Beziehungen in der allgemeinen Weltordnung zu betrachten.

KP: Bis vor kurzem waren die Änderungen nicht zu unseren Gunsten.

AP: Betrachten wir nur die sowjetische Besatzungszone in Deutschland – unter welchen Bedingungen wurde sie Teil der NATO-Koalition? Dort nahm das Problem seinen Anfang, das wir nun lösen müssen. Sie werden uns nicht in Ruhe lassen. Sie werden uns immer weiter zurückdrängen. Solange, bis wir uns am Ende eben selbst eine Sicherheitszone und eine Flugverbotszone schaffen.

KP: In welchem Umfang?

AP: Zumindest bis Warschau. Ein amerikanischer Experte, der Berater von Reagan war und dann mit dem Establishment in Konflikt geriet, machte kürzlich die gleiche Vorhersage – die meinige wurde im Wesentlichen bestätigt.
Wir müssen diese natürlichen Grenzen besetzen, wie Kljutschewski sagte, die im Russischen Reich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Das alles gehörte natürlich uns. Alles, was in den späten 1980er- und 1990er-Jahren getan wurde, widersprach den nationalen Interessen Russlands. Und wir sind jetzt damit beschäftigt, das zurückzubekommen, was uns rechtmäßig zusteht.

KP: Und die baltischen Staaten müssen wieder Teil Rußlands werden?

AP: Selbstverständlich. Ich spreche zwar nicht von Finnland und auch nicht von Polen, aber darüber kann man streiten.

KP: Die Polen haben eine starke Armee …

AP: Aber was, es gibt dort keine starke Armee. Es ist eine Sache, 2.500 bis 3.000 Dummköpfe und Kriminelle in die Ukraine zu schicken, die Geld verdienen wollen. Im Moment bilden sie dort“ (= in Polen) „ein Korps. Im Juli und August wollen sie es ohne Koordination irgendwohin schicken. Drei polnische Brigaden, die nach ein paar Tagen aufgerieben sein werden.

KP: Wenn die Rückkehr an die Grenzen der Sowjetunion angestrebt wird, so werden das ehemalige Preußen, das Großfürstentum Litauen und das Rzeczpospolita (das polnisch-litauische Königreich) auch wieder aktuell werden.

AP: Die militärisch-politische Lage wird nicht von den Wünschen einzelner Länder und auch nicht von historischen Hinterlassenschaften und Erfindungen bestimmt, sondern von den Realitäten, die sich in der Welt abzeichnen. Wir bewegen uns nirgendwo hin – wir müssen diese Probleme vor Ort lösen.“

Schöne Aussichten.