Die multipolare Welt

EINE UNERFREULICHE PERSPEKTIVE

Über Staatsgewalt, Landesgrenzen und Krieg

Eine Landesgrenze ist ein völliges Kunstprodukt. Nichts ist dümmer als das Geschwätz von „natürlichen“ Grenzen.
Eine Landesgrenze sagt aus, wie weit die Gewalt des einen und des anderen Staates reicht, die sich auf den beiden Seiten befinden. Die Staaten haben sich gegeneinander konstituiert und im Laufe ihres Bestehens und einiger kriegerischer Auseinandersetzungen auf diese Grenze geeinigt – eine Einigung, die jederzeit widerrufen werden kann, wenn ein Staat sich mächtig genug fühlt, ein Stück eines Nachbarstaates zu beanspruchen und diesen Anspruch auch durchzusetzen.
Die Welt ist voller strittiger Grenzen. Auch in Europa gibt es genug Grenzen, über die zwischen den Nachbarstaaten keine Einigkeit herrscht, die nicht international anerkannt sind, usw.
Im Laufe der Zeit haben viele Staaten versucht – mit oder ohne Erfolg – ihre Grenzen zu erweitern und sich Territorium der Nachbarstaaten einzuverleiben.

Auch dann, wenn die Grenze nicht berührt wird, gibt es den Anspruch der Staaten, seinen Einfluß und seine Gewalt auch außerhalb seiner Grenzen zur Geltung zu bringen. Sei es mit kriegerischen, sei es mit „friedlichen“ Mitteln, die auch immer recht gewaltträchtig sind. Dazu später.

Zu Zeiten des Kalten Krieges – als die Welt in Anlehnung an den heutigen Sprachgebrach „bipolar“ war –, wachte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges eine Macht darüber, daß Grenzstreitigkeiten verbündeter Staaten nicht in Kriegen mündeten. Im sowjetischen Einflußbereich war Revanchismus aller Art verboten. Nur die Hauptmacht selber nahm sich Grenzveränderungen heraus, vor allem im Gefolge von Weltkrieg II.
Auch im Westen gab es Grenzkriege, wie den Falkland-Krieg 1982, oder von der NATO im Keim erstickte Auseinandersetzungen wie diejenigen zwischen Griechenland und der Türkei.
Generell aber galt, daß keiner der Blöcke Grenzkriege wollte, weil das die Allianz gegen den Hauptfeind geschwächt hätte.

Diese einigende Klammer fiel mit dem Zerfall der SU weg. Seither ist das Rennen wieder eröffnet. In den Nachfolgestaaten der SU, auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Nordafrika, im Fernen Osten – überall melden sich „eingefrorene“ Konflikte und Grenzstreitigkeiten, es wird aufgerüstet wie wild und nix ist mehr fix.

Das gehört zu einer multipolaren Welt dazu, und zeugt davon, daß diese bereits fortschreitet. Die verschiedenen „Pole“ wollen eben ihre Grenzen und ihren Einfluß auf Kosten anderer erweitern.

Internationale Spielregeln

Wer sich auf Regeln beruft, vergißt meist, daß es jemanden gibt, der die Regeln setzt, und andere, die sie befolgen.
Bereits beim nationalen Recht gibt es das Mißverständnis, daß das Recht selbst sozusagen natürlich, göttlich oder ähnliches sei und die tatsächliche Staatsgewalt es nur vollstreckt. Man macht sich gerne etwas darüber vor bzw. täucht sich darüber hinweg, daß diese Gewalt es auch setzt, also das Recht überhaupt erst durch Gewalt in die Welt kommt.
Anhänger des Rechts, der Menschenrechte und der internationalen Spielregeln sind daher immer Parteigänger der Gewalt, auch wenn sie sich als das Gegenteil präsentieren und gegen – einzelne, partikulare – Gewalt wettern.

Zu diesen „internationalen Spielregeln“ gehören auch die diversen supranationalen Gerichtshöfe in Den Haag, Luxemburg, Straßburg, die dadurch, daß sie keinem besonderen Staat angehören, dem Trugbild Leben verleihen, daß das Recht über der Gewalt stünde.
Man merkt aber an ihren Rechtssprüchen, daß sie die Interessen bestimmter Staaten bevorzugen und sich auch nicht daran stoßen, daß die USA sich ihrer Jurisdiktion nicht unterwirft. Darin erkennt man ein Bewußtsein dessen, daß die Hegemonialmacht nicht in gleichem Maße zur Rechenschaft gezogen werden kann wie die restlichen Staaten, die sich an die von dieser Macht gesetzten Regeln halten müssen und das meistens auch wollen.

Rußland beklagt die „Privatisierung“ der internationalen Regeln durch EU und USA und möchte gerne seine Rechtssprechung über seine Grenzen ausdehnen. Deshalb erhebt es Anklage gegen ausländische Bürger (der Ukraine), wo eine angebliche Gesetzesübertretung nach internationalem Recht dingfest macht. Damit will sich die russische Regierung als der bessere Vollstrecker des internationalen Rechts präsentieren, das es damit auch anerkennt.
Rußland leistet sich damit den Widerspruch, der Hegemonialmacht ihre Sonderstellung zu bestreiten, aber das von ihr aufrechterhaltene Regelwerk anzuerkennen.

Dieses Regelwerk bezieht sich auch auf die restlichen Interessen, die neben der Machtvollkommenheit der Staaten existieren bzw. die Grundlage ihrer Ambitionen bilden.

Der Weltmarkt

Es müssen einmal klare Verhältnisse geschaffen werden, damit ein US-Unternehmen in Ägypten investieren oder eine deutsche Firma Lieferverträge mit einem Unternehmen in Indonesien abschließen kann. Das fremde Eigentum muß geschützt sein, die Zahlungsmodalitäten gehören abgesichert und die Rechtssprechung muß irgendwie zwischen Herkunfts- und Zielland koordiniert sein. Das ist notwendig, damit sich ein Staat an den Reichtumsquellen eines anderen bedienen kann, unter dem Motto „friedlicher Handel und Wandel“.

Die entsprechende Weltordnung wurde von den USA nach 1945 durchgesetzt, bei dem auch die Kolonialmächte ihre Kolonien aufgeben und damit auf exklusive Handelsbeziehungen verzichten mußten. Unter dem Titel der Souveränität und des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ wurden diese Staaten mit eigenen Regierungen ausgestattet und mit Hilfe von Krediten und Handelsabkommen in den Weltmarkt integriert, was sich bei vielen heute vor allem in Schuldenbergen ausdrückt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die Staaten aus dem Orbit der Sowjetunion Schritt für Schritt in den Weltmarkt einbezogen, durch Einrichtung eines Bankennetzes, Zahlungsmodalitäten, nicht zu vergessen die Einrichtung einer Eigentumsordnung, die in vielen Gegenden mit Hilfe von Schußwaffen stattgefunden hat.

Heute wird das ein Stück weit rückgängig gemacht. Durch Sanktionen und Embargos werden verschiedene Staaten teilweise oder ganz vom Weltmarkt ausgeschlossen. Es bildet sich ein zweiter Weltmarkt. Die „alten“ Nutznießer desselben – die USA, die EU, anglosächsische Staaten, die Schweiz – drängen sich um die Hegemonialmacht USA, während andere eine „Schattenwelt“, einen Weltmarkt der Ausgeschlossenen mit China als Referenzmacht bilden. Dazwischen bilden sich ambitionierte Regionalmächte, die versuchen, sich in beiden Hemisphären zu betätigen.

Sehr kriegsträchtig, das Ganze: Bereits jetzt laufen mehrere Konflikte um die Aufteilung der Welt, ihre Rohstoffe, ihre strategisch wichtigen Positionen, und es ist anzunehmen, daß deren eher mehr werden als weniger.

Imperialismus heute

DIE NEUAUFTEILUNG DER WELT, ODER: DAUERKRIEG FÜR ALLE

Wer macht das Rennen? Wer hat die Nase vorn?
Nach diesem Winter werden wir mehr wissen.

Die Türkei und die Golfstaaten haben große Ambitionen und auch das Geld und die Waffen, sie zu verwirklichen, während die alten Weltmächte gegen ihren Abstieg kämpfen.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 1.12.: Die NATO und Rußland

„DIE RUSSEN AUS EUROPA FERNHALTEN“: DAS NANNTE SERGEJ LAWROW ALS DAS HAUPTZIEL DER EXISTENZ DER NATO

Über die Philosophie der NATO Erinnern wir uns an die Entstehung der NATO. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, entwickelte die Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“.
Was jetzt passiert, heißt nichts anderes, als daß die NATO zu den konzeptionellen Prioritäten zurückkehrt, die vor 73 Jahren entwickelt wurden. Sie wollen die Russen außerhalb Europas halten. Die Amerikaner wollen ganz Europa versklaven und haben das bereits erreicht. Sie halten inzwischen nicht nur die Deutschen, sondern die gesamte Europäische Union unter Kontrolle.
Die Philosophie der Dominanz und der einseitigen Vorteile waren also nach dem Ende des Kalten Krieges nie verschwunden.

Über die zerstörerische Tätigkeit der NATO Während ihres Bestehens kann sich die NATO keine einzige tatsächliche Erfolgsgeschichte zuschreiben – sie bringt Verwüstung und Leid.
So geschen mit den Aggressionen gegen Serbien und Libyen, der Zerstörung der libyschen Staatlichkeit, dem Irak, oder Afghanistan, dem das Bündnis 20 Jahre lang Demokratie nach seinem Verständnis beizubringen versuchte.
Für sich spricht auch die Tatsache, dass die Sicherheitsfrage in der serbischen Provinz Kosovo, wo die NATO seit mehr als zwei Jahrzehnten zugegen ist, nicht gelöst werden kann.

Zu den NATO-Manövern Die Manöver der NATO wurden in den letzten Jahren intensiver und zielten offen darauf ab, Russland einzudämmen. Sie versuchten, die antirussische Ausrichtung zu beschönigen, aber sie ist offensichtlich. Und immer näher an unseren Grenzen – sowohl in der Ostsee und dem Schwarzen Meer als auch bei Manövern zu Land in Polen.
All dies widerspricht dem 1997 unterzeichneten Grundsatz-Abkommen zwischen Russland und der NATO. Ein Schlüsselelement dieses Dokuments war die Zusage der NATO, auf die dauerhafte Stationierung bedeutender Kampftruppen auf dem Territorium der neuen Mitglieder des Bündnisses zu verzichten. Ein schönes Versprechen. Es war ein Kompromiß. Nach einer Weile schlugen wir vor, das Konzept der „bedeutenden Kampftruppen“ genauer zu definieren.
Die NATO lehnte dies kategorisch ab. Und uns wurde gesagt, dass sie sich verpflichtet haben, dies nicht dauerhaft zu tun, aber mittels Rotation sei die Stationierung möglich.

Zu den März-Gesprächen zwischen Moskau und Kiew Wir waren bereit, das Thema Sicherheit nach dem Beginn der Spezialoperation (= Einmarsch) zu diskutieren. Als die Ukrainer im März um Verhandlungen baten, gingen wir zu diesen Verhandlungen. Nach mehreren Runden, am 29. März in Istanbul, überreichten uns die Ukrainer ein Dokument, wo wir mit den darin enthaltenen Prinzipien einverstanden waren.
Die Gewährleistung der Sicherheit der Ukraine durch die Achtung ihres Nichtblockstatus (sie würde der NATO nicht beitreten), durch die Achtung ihres nichtnuklearen Status (keine Bemühung um atomare Bewaffnung) und die Bereitstellung von Garantien für sie auf kollektiver Basis – von den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates wurden namentlich die Türkei und Deutschland erwähnt.
Wir stimmten zu, aber anscheinend wurde den Ukrainern ein oder zwei Tage später von ihren amerikanischen Kollegen gesagt: Warum macht ihr sowas? Mit euch müssen wir die russische Armee schwächen, durch euch müssen wir die maximale Menge an Waffen verbrauchen, die die europäischen Länder haben, damit sie später neue Waffen von uns, den USA, kaufen müssen – um unseren Waffenproduzenten Einnahmen zu verschaffen.

Zu den „Anträgen“ Russlands auf Verhandlungen mit Kiew Wenn wir beschuldigt werden, irgendeine Art von Verhandlungen zu fordern, um Zeit zu gewinnen, um zusätzliche Kräfte für die Spezialoperation zu sammeln, ist das sowohl lächerlich als auch unangenehm. Weil Menschen lügen, und offen lügen. Weil wir nie um Verhandlungen gebeten haben. Aber sie haben immer gesagt: Wenn jemand Interesse an einer Verhandlungslösung hat, hören wir zu.

Über europäische Aufrufe zu Verhandlungen Papst Franziskus spricht schon seit langem davon. Macron sprach aus denselben allgemeinen Positionen, Bundeskanzler Scholz sagte, er werde weiter mit Putin sprechen. Der türkische Präsident Erdogan hat mehr als einmal darüber gesprochen. Aus Italien erinnere ich mich nicht an solche Initiativen, außer vom Heiligen Stuhl. Aber niemand bietet etwas Konkretes an.
Papst Franziskus ruft zu Verhandlungen auf, aber er hat auch eine unverständliche, ganz und gar nicht christliche Erklärung abgegeben, in der er zwei Nationalitäten der Russischen Föderation hervorhebt, von denen während der NWO Gräueltaten zu erwarten sind.*) Der Vatikan sagte, das werde nicht wieder vorkommen, es habe ein Missverständnis gegeben. Aber das hilft der Sache nicht und trägt nicht zur Autorität des Heiligen Stuhls bei.

Über die Möglichkeit, einen Atomkrieg zu beginnen Unserer gemeinsamen Verantwortung – mitsamt den USA als beiden größten Atommächten – können wir uns nicht entziehen. Wir haben eine gemeinsame Erklärung der Präsidenten vom Juni 2021, dass ein Atomkrieg von niemandem gewonnen werden kann, also darf er nicht begonnen werden.
Eine ähnliche Erklärung gibt es von den fünf Atommächten.**) Wir waren bereit, weiter zu gehen und zu sagen, dass nicht nur ein Atomkrieg entfesselt werden sollte, sondern jeder Krieg zwischen Atommächten inakzeptabel ist, selbst wenn jemand beschließt, ihn mit konventionellen Mitteln zu beginnen, das Risiko einer Eskalation zu einem Atomkrieg enorm wäre.

Über die Sicherheit Russlands Wenn die kollektive Sicherheit nicht zustandekommt, sorgen sich alle um ihre eigene Sicherheit. Für uns ist die Bedrohung, die die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten von der Ukraine aus für Russland geschaffen haben, real.
Brzezinski sagte schon 1998: Die Ukraine muss von Russland getrennt werden, weil Russland mit der Ukraine ein Imperium ist und ohne die Ukraine ein regionaler Akteur. Das Ziel ist seit langem gesetzt.

Über die Ziele des Westens in der Ukraine Das in der Ukraine erklärte Ziel ist nicht, die Demokratie in der Ukraine zu retten, sondern Rußland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Und in Folge Rußland zu zerstören. Aber das Ziel, Rußland zu besiegen – das hat für die strategische Stabilität große Bedeutung, weil einer der Schlüsselspieler zerstört werden soll.
Gleichzeitig sagen sie uns: Über die Ukraine soll mit den Ukrainern gesprochen werden, wann immer diese es wollen, und mit Ihnen werden wir über die nukleare Stabilität sprechen – das ist irgendwie naiv.

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*) Lawrow bezieht sich auf ein Interview, das der Papst am 22. November gegeben hat und in dem er Tschetschenen und Burjaten als besonders grausam bezeichnet.

**) Lawrow bezieht sich hier auf die 5 Atommächte, die Kernwaffen besitzen und den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet haben: USA, Rußland, China, Großbritannien, Frankreich.
Darüber hinaus verfügen Indien, Pakistan und Nordkorea eingestandenerweise und anerkanntermaßen über Atomwaffen, unterzeichnen aber den Vertrag nicht, ebenso wie Israel, dessen Atomwaffen streng geheim sind (siehe Fall Vanunu).