Pressespiegel EL País, 30.9.: Russische Offensive in der Ukraine

DIE ANNEXION DER UKRAINISCHEN GEBIETE MACHT DEN KRIEG ZU EINER CHRONISCHEN ERSCHEINUNG

Ruth Ferrero-Turrión (Gastkommentar)

Zweifellos haben die Konsultationen, die vom 23. bis 27. September in den ukrainischen Regionen Donbass, Cherson und Saporischschja stattfanden, eine neue Phase des russischen Eroberungskriegs eingeläutet.
Diese sogenannten Unabhängigkeitsreferenden, die keinerlei rechtliche oder prozedurale Garantie hatten, haben in ihren Ergebnissen keine Überraschungen hervorgebracht: Die Option der Annexion hat mit großer Mehrheit gewonnen.

Die Abhaltung dieser Konsultationen sollte nicht als isoliertes Ereignis gesehen werden. So wurde der Befehl zur Fortsetzung der Referenden parallel zum Dekret über die teilweise Mobilisierung von Soldaten für den Fronteinsatz im Rahmen einer ukrainischen Gegenoffensive verwirklicht, die alle Alarme im Kreml auslöste.
Diese beiden Anordnungen, zusammen mit der Reform des Strafgesetzbuches, die die Strafen für diejenigen verschärft, die es wagen, sich der Einberufung zu entziehen, fielen auch mit dem Unbehagen zusammen, das mehrere der wichtigsten Partner Moskaus, China und Indien, wegen der Verlängerung des Krieges auf dem Gipfeltreffen in Samarkand (Usbekistan) zum Ausdruck gebracht hatten.

Die Referenden und die anschließende Eingliederung dieser Gebiete in die Russische Föderation bedeuten drei wesentliche strategische Ziele für den Kreml.

Erstens, der Öffentlichkeit die zumindest teilweise Verwirklichung eines der Ziele zeigen zu können, mit denen dieser Feldzug gestartet wurde, den Wiederaufbau von Noworossija (Neurussland), d.h. die imperiale Idee von Katharina der Großen, wodurch die östlichen und südlichen Gebiete der Ukraine in die russische Nation eingegliedert würden.
Mit dieser Ankündigung möchte man zeigen, dass der Krieg nicht umsonst war und dass die Mobilisierung des russischen Volkes unerlässlich ist, um diese vom Feind eroberten neuen Gebiete zu verteidigen.

Zweitens, das Risiko einer nuklearen Eskalation in den Blickpunkt zu rücken.
Die russische Militärdoktrin deckt den Einsatz von Atomwaffen für den Fall ab, dass ein Teil des russischen Territoriums angegriffen wird, und dies schließt die kürzlich eingegliederten Regionen ein, wie Außenminister Sergej Lawrow vor einigen Tagen erneut gegenüber den Vereinten Nationen betonte.

Das dritte Ziel, das hier erreicht wurde, betrifft das Einfrieren des Konflikts, etwas, das es Rußland ermöglicht, Zeit zu gewinnen, um seine Kräfte und Fähigkeiten neu zusammenzustellen.

Putin glaubt nach wie vor, dass seine klassischen Abschreckungsmanöver funktionieren können.

Aus verschiedenen Sphären westlicher und ukrainischer Macht scheinen die Drohungen aus Moskau jedoch wenig Wirkung zu zeigen. Vielmehr wird im Gegenteil eine Lesart vorgenommen, die in diesen Bewegungen einen offensichtlichen Beweis für die Schwäche von Putins Macht und ein Bekenntnis zur Verschärfung des Konflikts bis zur endgültigen Niederlage Russlands sieht. Sie glauben keiner der Drohungen des Kremls.

Es ist überraschend, dass diejenigen, die sich am meisten für Aufrüstung und Militarisierung einsetzen, diejenigen, die davor gewarnt haben, dass Putin es ernst meint, diejenigen, die damit prahlen, dass sie mit ihrer Vorhersage der Invasion Recht hatten, jetzt am wenigsten bereit sind, Moskau ernst zu nehmen.

Und doch hat Putin jede seiner Drohungen früher oder später auch wahr gemacht. Er tat dies im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, aber auch 2021 mit der Veröffentlichung eines im Juli letzten Jahres veröffentlichten Artikels, in dem er vor seinen Plänen in Bezug auf die Ukraine warnte und sogar seine bloße Existenz als Nation leugnete.

Vielleicht wäre es nicht unangemessen, seine jüngsten Bedrohungen zu berücksichtigen, um eine Strategie zu formulieren, die es zumindest ermöglicht, sie zu neutralisieren. In der Zwischenzeit wird Russland mit der Annexion dieser Gebiete die Dauerhaftigkeit und Verlängerung des Krieges erreicht haben.“

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Rußland bezeugt hier seinen Willen, den Krieg weiterzuführen.
Allerdings wurden inzwischen die Kriegsziele neu formuliert und die Eroberung des Donbass als Minimalziel angegeben. Die „Entnazifizierung“ der Ukraine, d.h., das Auswechseln ihrer Führungsspitze, ist offenbar aufgegeben worden …
Demgegenüber steht die Verlautbarung der ukrainischen Politiker, alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern zu wollen, für die sie auch die Rückendeckung ihrer westlichen Verbündeten – USA, Polen, GB – haben.

Pressespiegel El País, 17.9.: Militärische Perspektiven Rußlands

„RUSSLAND FEHLEN DIE KRÄFTE

Vladimir Dolin

Nach den erfolgreichen Offensiven der ukrainischen Truppen in Charkow und Cherson kam in Rußland das Thema der Mobilisierung auf die Tagesordnung. Die amtierenden Politiker versichern, daß es dazu nicht kommen wird. Aber Rußland sucht schon seit Monaten hektisch Kanonenfutter für den Ukrainekrieg. Man muß sich fragen, wie dieser Nachschub sich auf die Pläne an anderen Abschnitten seiner weiträumigen Grenzen (60.932 km) auswirken wird.
Der globale Ehrgeiz Rußlands befindet sich nicht in Einklang mit seiner Wirtschaft, seiner Geographie und seiner Bevölkerungsentwicklung. Putin steht vor dem Dilemma, entweder die Niederlage einzugestehen oder eine Generalmobilmachung auszurufen, was riskant ist, weil Waffen in den Händen des Volkes sich leicht gegen den Kreml wenden können, wie es bereits in der Geschichte Rußlands geschehen ist.“

Das ist allerdings im Augenblick das geringere Risiko. Was in erster Linie gegen eine Generalmobilmachung spricht, ist, daß gezwungene Soldaten schlechte Soldaten sind. Das hat sich am Einsatz der ukrainischen Streitkräfte gezeigt. Sie konnten ihre Erfolge in Charkow und Cherson nur feiern, weil sie jede Menge NATO-Unterstützung hatten, auch personelle.
Abgesehen davon hätte eine Generalmobilmachung auch wirtschaftliche Folgen: Rußland müßte auf Kriegswirtschaft umstellen, in kriegswichtige und nicht kriegswichtige Sektoren unterscheiden und die Bevölkerung auf eine Zeit von Blut, Schweiß und Tränen vorbereiten.
Die NATO-Kriegsführung zielt genau darauf hin, in der Hoffnung, damit Aufstände und Unruhen in Rußland auszulösen.

„Am 26. August unterzeichnete Präsident Putin ein Dekret, gemäß dem die russischen Streitkräfte um 137.000 Personen verstärkt werden sollen. Rußlands Armee hätte dann die Stärke von 1,150.000 Mann. Außerdem hat der Kreml die Staatsbetriebe und die Oligarchen dazu verpflichtet, auf eigene Kosten private militärische Einheiten aufzustellen, um sie den Tausenden von Söldnern einzugliedern, die bereits in der Ukraine kämpfen. Die russischen Regionen haben ungefähr 40 Bataillone aus sogenannten Freiwilligen aufgestellt, deren Ausbildung und Bezahlung sie aus ihren Mitteln bestreiten. Das Höchstalter für die Freiwilligen wurde angehoben – in manchen Provinzen bis auf 60 Jahre – und die gesundheitlichen Anforderungen wurden herabgesetzt. Da sich nicht genug Freiwillige melden, werben die privaten Söldnervereine Gefangene in Gefängnissen an. Das Oberhaupt der kaukasischen Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, hat alle russischen Regionen zur Generalmobilisierung aufgerufen.“

Das heißt, Kadyrow will damit der Zentralregierung die Initiative aus der Hand nehmen und die Regionen zu einer Art Wettbewerb aufrufen, wer Rußland am meisten zu verteidigen bereit ist.

„Das heißt, es gibt bereits eine verdeckte Generalmobilmachung.
Warum gibt es zuwenig Soldaten in Rußland?
Am Vorabend des Krieges war die offizielle Mannschaftsstärke der russischen Armee 4x so hoch wie die der ukrainischen. Es ist allerdings möglich, daß die reale Anzahl um einiges darunter lag.
Um in die Ukraine einzumarschieren, zog Rußland 250.000 Mann aus seinen 4 Militärbezirken zusammen.“

Rußland hat 5 Militärbezirke. Es fragt sich, ob der Analyst einen vergessen hat oder ob bei der Rekrutierung wirklich einer ausgespart blieb. Möglicherweise der Nordbezirk um Kaliningrad.

„Aber die Einheiten des westlichen Militärbezirkes kriegten bei den Kämpfen das meiste Fett ab und zahlten einen hohen Preis. Im täglichen Bericht des britischen Verteidigungsministeriums vom 13. September wird darauf hingewiesen, daß die I. Panzerarmee zu Anfang des Einmarsches schwere Verluste hinnehmen mußte und nach der ukrainischen Invasion in Charkow den Rückzug antrat.“

Es ist bemerkenswert, daß die westlichen Quellen immer auf die russischen Verluste zu Anfang der Invasion hinweisen. Daraus läßt sich schließen, daß es Rußland seither gelungen ist, seine Verluste zu minimieren, im Unterschied zu den ukrainischen Streitkräften, die im Sommer selbst hohe Verluste eingestanden.
Was offenbar nicht gelungen ist, darauf weist der Analyst hin, ist, diese Verluste wieder angemessen auszugleichen.

„In dem Bericht seht: »Der Krieg hat diese Armee – wie auch andere Einheiten des westlichen Militärbezirks – geschwächt und auf diese Weise die Fähigkeit Rußlands, im Konfliktfall der NATO etwas entgegenzusetzen. Es wird Jahre brauchen, bis dieses Potential wiederhergestellt werden wird.«
Als Ergebnis des Eintritts Finnlands in die NATO verlängert sich die Grenze dieses Bündnisses zu Rußland um 1272 Kilometer. Der russische Verteidigungsminister Schoigu veranschlagt die durch den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands gestiegenen Verteidigungsbedürfnisse Rußlands auf 12 neue Militäreinheiten, die erst noch zu schaffen sind.
Obwohl viele Soldaten aus dem östlichen – am besten dotierten – Militärbezirk an die Front geschickt wurden, kann der Kreml nicht so einfach Truppen aus dem Osten in den Westen des Landes verlegen, wie es mit den sibirischen Truppen während des II. Weltkriegs möglich war. Rußland hat nie einen Friedensvertrag mit Japan geschlossen und seine Oberhoheit über die Kurilen ist von Japan nicht anerkannt.“

Hier einige Hintergrundinformation zum östlichen Kriegsschauplatz im II. Weltkrieg.

„Tokio hat sein Militärbudget erhöht und Rußland muß das in seine Planungen einbeziehen. Außerdem muß Rußland mit seinen Truppen die Grenze in der Länge von 4209 Kilometer zu China absichern.
Moskau und China befanden sich in einem Kalten Krieg,“

– Hier muß man hinzufügen, damals noch nicht allzu lange –

„der in eine militärische Auseinandersetzung mündete, um den Besitz der Damanski-Insel.“

Die – übrigens unbewohnte – Damanski-Insel (chinesisch: Zhenbao Dao) wurde 2005 mit einem Vertrag von Rußland an China abgetreten.

„Zwischen 1991 und 2008 wurden die territorialen Konflikte zwischen Rußland und China gelöst, aber die Chinesen haben nicht vergessen, daß das russische Imperium sich im Fernen Osten Gebiete angeeignet hat, die sie als die ihrigen betrachten. Außerdem verursacht der Exodus von Sibirien ins Zentrum Rußlands die Entvölkerung großer Gebiete, wo Chinesen die Russen ersetzen.“

Das klingt so, als wäre dort alles in Ordnung. Aber das will der Analyst nicht behaupten, er spielt mit der Angst vor der „Gelben Gefahr“:

„Im Augenblick handelt es sich um eine friedliche Expansion. Unter diesen Bedingungen kann nur eine russische Militärpräsenz die Souveränität über Sibirien und den Fernen Osten garantieren. Rußland und China sind heute Partner, keine Verbündeten. Chinas Militärbudget 2019 betrug 177 Milliarden $, gegenüber dem russischen von 46 Milliarden.
Angesichts dieser Daten kann die Verlegung eines bedeutenden Militärkontingents aus dem Osten des Landes in die Ukraine die Verteidigung des Fernen Ostens und Sibiriens schwächen und und die Chinesen könnten in Versuchung kommen, das Verlorene zurückzuerobern.“

In der Möglichkeitsform spekuliert der Analyst mit territorialen Gelüsten Chinas, obwohl China in der gegenwärtigen Situation nichts weniger gebrauchen könnte als einen Konflikt mit Rußland, ihn daher sicher nicht aktiv suchen würde.
Angesichts der Bedrohungen seiner Seegrenzen durch USA und NATO ist es China nur recht, wenn an der Landgrenze mit Rußland Ruhe ist.

„Der zentrale Militärbezirk grenzt an Kasachstan, auf einer Länge von 7548 km. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und die Grenzkonflikte zwischen den zentralasiatischen Staaten nötigen Rußland, hier eine ausreichende Truppenpräsenz aufrechtzuerhalten, um Bedrohungen abwehren zu können. Das Eindringen der Taliban in Zentralasien gefährdet nicht nur die Staaten in dieser Region, sondern auch die russischen muslimischen Republiken von Bachkortostan und Tatarstan.“

Auch hier wird ein wenig mit Ängsten gespielt. Die Taliban sind seit ihrer Einnahme Afghanistans hauptsächlich mit internen Problemen beschäftigt. Wenn es eine Grenze gibt, die gefährdet ist, so ist es die umstrittene Durand-Grenze zu Pakistan. Es gibt praktisch keine Hinweise, daß sie nach Zentralasien „eingedrungen“ sein sollten.
Aber bei dieser Formulierung werden die muslimischen Minderheiten Rußlands zu einer Art Fünfter Kolonne erklärt, auf die man auch ständig ein Auge haben muß.

„In Georgien und Moldawien redet man von der Wiedereingliederung der sezessionistischen Gebiete. Der russische Militärbezirk Süd entsandte seine fähigsten Einheiten, namentlich die 58. Armee, mit Kampferfahrung aus Armenien und Georgien, in die Ukraine. Infolgedessen konnte die OVKS, deren Mitglieder Armenien und Rußland sind, ihrer Verpflichtung um Unterstützung nicht nachkommen, als Eriwan um Hilfe bat. In Aserbaidschan haben die Verantwortlichen entschieden, daß die Zeit zum Handeln reif war. In der Nacht zum 13. September eröffneten sie das Feuer auf armenisches Territorium. Rußland ist der Garant für Sicherheit in dieser Region, aber im Augenblick ist es zu sehr beschäftigt mit dem Ukrainekrieg. Nach der offiziellen Doktrin müßten die russischen Streitkräfte fähig sein, in zwei militärischen Konflikten gleichzeitig ihre Aufgaben wahrzunehmen, ohne zusätzlich mobilisieren zu müssen. Tatsächlich jedoch war Rußland nicht fähig, gleichzeitig die Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan und den Ukrainekrieg zu betreuen.“

Es ist hier aber nicht nur eine Frage von genug oder nicht genug Soldaten.
Aserbaidschan ist ein enger Verbündeter der Türkei, und Aserbaidschan ist auch eine Öl- und Gas-Großmacht, verfügt also im Unterschied zu seinem angegriffenen Rivalen über ausreichend Mittel, um Armenien im Notfall auch zu überrennen.
Mit der Türkei kann und will sich Rußland aber keineswegs anlegen, weil unter anderem diese Regionalmacht den Schlüssel zu den Meerengen und damit zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes hat:

„Hinter Aserbaidschan steht die Türkei, die sich anschickt, ihren Willen zur militärischen und politischen Dominanz über den Südkaukasus zu demonstrieren und ein ambivalentes Verhältnis zu Rußland hat. Das militärische Potential der Türkei übertrifft im Kaukasus dasjenige Rußlands. Daher kann Rußland nicht seine ganzen Streitkräfte in die Ukraine schicken, die langsam ihre technische Unterlegenheit gegenüber Rußland dank der Waffenlieferungen aus dem Westen ausgleicht. Allein der Umstand, daß sich die Ukraine im grausamsten Krieg in Europa seit 1945 erfolgreich verteidigt, ist eine nicht anerkannte Niederlage für Putin.

Außer der Mobilisierung oder dem Eingeständnis der Niederlage gibt es eine dritte Option: Den Einsatz von Atomwaffen. Aber diese Lösung ginge weit über den ukrainisch-russischen Krieg hinaus und würde eine globale Katastrophe hervorrufen.“

Pressespiegel El País, 13.9.: Debatte in Rußland um den Krieg in der Ukraine

„DER ENTSCHLOSSENE VORMARSCH DER UKRAINISCHEN TRUPPEN ERZEUGT RISSE IN DER RUSSISCHEN POLITISCHEN SZENE

Stimmen der offiziellen Propaganda verlangen Veränderungen in der Regierung und der Militärführung

Der bestimmte Vormarsch der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes in Gegenden, wo seit Monaten die Russen ihre Positionen gehalten hatten, hat die ersten Risse im politischen Diskurs Rußlands entstehen lassen. Bisher waren da keine Mißtöne gegen die offizielle Linie des Kreml zu vernehmen. Die Führer der russischen Propaganda“

Wer das wohl ist?

„drängen öffentlich darauf, die Kommandanten zu exekutieren, die die enormen verlorenen Gebiete verteidigen hätten sollen. Andere der Macht nahestehende Kreise fordern jetzt, diejenigen zu bestrafen, die den Präsidenten Vladimir Putin davon überzeugten, daß seine Truppen in der Ukraine mit Umarmungen empfangen werden würden. Die Rückschläge in Charkow und Cherson treffen zeitlich zusammen mit einem einer neuen Herausforderung seitens der Opposition, von geringem Gewicht, aber vielsagend. Mehr als 40 Gemeinderäte der beiden größten Städte Rußlands haben im russischen Parlament einem Aufforderung zum Rücktritt Putins wegen Hochverrat eingereicht. Diese Initiative gewinnt mit jeder Stunde neue Anhänger.“

Das zeitliche Zusammentreffen dürfte nicht zufällig sein. Die Initiatoren warteten auf einen günstigen Zeitpunkt.

„Der tschetschenische Präsident Kadyrow hat offen von strategischen Fehlern gesprochen.
Die ukrainische Gegenoffensive, die in den letzten Tagen zu großen Gebietsgewinnen geführt hat, hat Rußland überrascht. Am Samstag, als Kiew verkündete, zentrale Orte wie Charkow eingenommen zu haben,“

– das ist irreführend formuliert, die Stadt Charkow war immer in ukrainischer Hand, es handelt sich um mehrere Städte in der Region Charkow –

„befand sich Putin in Moskau bei der Einweihung des größten Riesenrades Europas, während die Einwohner tanzend und trinkend das 875. Jubiläum der Stadt feierten. Das russische Verteidigungsministerium hüllte sich angesichts der Verlautbarungen der ukrainischen Behörden einige Zeit in Schweigen und verkündete schließlich einen geordneten Rückzug in der Region Charkow.
Die Wortwahl des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow zu diesem Rückzug war bezeichnend. In einer Botschaft auf seinem Telegram-Kanal schrieb er über den »Umstand, daß die russische Armee abgezogen ist und mehrere Städte hergeschenkt hat«. Er fügte hinzu: »Ich bin kein Stratege wie die dort im Verteidigungsministerium, aber es wurden Fehler begangen.« Weiters kündigt er an, sich nicht nur mit dem Verteidigungsministerium, sondern auch mit der Führung direkt, also mit Putin in Verbindung zu setzen, falls es nicht unmittelbar Änderungen bei der sogenannten »Sonderoperation« geben sollte.“

Kadyrow fordert offenbar schon länger wichtige Posten für seine tschetschenischen Offiziere und nutzt jetzt auch den günstigen Zeitpunkt.
Die Tschetschenen stellten auch in der Roten Armee eine im Verhältnis zur Bevölkerung überproportionalen Anteil von Berufssoldaten, aber so richtig nach oben kamen sie nie. Sowohl Dudajew (Luftwaffe) als auch Maschadow (Artillerie) waren Militärs.

„Die Armee, nach Umfragen die von den Russen am meisten geschätzte Institution des Landes – mehr noch als der Kreml – ist großem Druck ausgesetzt. Putin weigert sich, eine Generalmobilmachung anzuordnen, eine unpopuläre Maßnahme, wie sie von den Falken gefordert wird.“

Es wird nicht ganz klar, wo diese Falken sitzen: Im Militär, im nationalen Sicherheitsrat?

„Die dem Kreml nahestehenden Medienvertreter schießen sich derweil auf die Militärführung ein. Einer der Hauptverantwortlichen für die Kremlpropaganda, der Moderator Vladimir Solowjow von Rossija 1, verkündete ebenfalls in Telegram: »Viele Anführer in Uniform (ich würde es nicht wagen, sie als Kommandanten zu bezeichnen) verdienen eine unehrenhafte Entlassung, einen Strafprozess oder sogar die Hinrichtung, und ich könnte einigen von ihnen namentlich nennen«.“

Der Kreml hat einen Sprecher, Peskow. Der erwähnte Solowjow, der offenbar ein Parteigänger der russischen Politik ist, wird hier hochstilisiert zu einer Art Goebbels, und seine Telegram-Botschaft dann zu einer Bedrohung für Leib und Leben für einige Offiziere.
Dabei macht er nur eine kleine Hetzpropaganda in einem eben gerade nicht vom Kreml kontrollierten Medium, die für ihn selbst durchaus Folgen haben kann, denn dergleichen ist in Rußland eigentlich verboten.

„Die durch die Gegenoffensive erzeugte Krise hat mit einem Satz die die Ratgeber des Kreml und die Militärführung ins Scheinwerferlicht gerückt. Diverse Analysten und Politiker stellten den Fortgang der Operationen der russischen Truppen in den letzten Monaten in Frage. Dies fand in einer Debatte des beliebten Fernsehkanals NTV statt. die Kontrolle über diesen Sender übt Putin aus, seit er an der Macht ist.“

Das Kreml-Sprachrohr veranstaltet also eine öffentliche Debatte darüber, wie der Krieg, pardon die Spezialoperation, denn so läuft.
Unerträglich, diese Autokratie mit ihrer Zensur.

„»Die Leute, die den Präsidenten davon überzeugt haben, daß die Spezialoperation schnell und effektiv sein würde; daß wir keine Zivilisten bombardieren würden, daß wir kommen würden und die Nationalgarde und die Kadyrowzy (Kadyrows Spezialgarde) Ordnung schaffen würden … diese Leute haben uns alle in eine Falle gelockt,« sagte der Ex-Dumaabgeordnete Boris Nadezhdin. »Gibt es solche Leute?« fragte ihn der Moderator. »Selbstverständlich. Der Präsident setzt sich nicht einfach so hin und sagt: ,Ich werde eine Spezialoperaton ausrufen.’ Jemand hat ihm gesagt, daß die Ukrainer sich ergeben und Rußland anschließen werden,« antwortete er.
Die Offenheit, mit der diese Debatte ausgetragen wurde, erstaunte Rußland. Der Abgeordnete und Vorsitzende der Partei »Gerechtes Rußland« Sergej Mironow hielt an seiner Position der letzten Monate fest, daß es mit »Selenskis Nazi-Regime« keine Verhandlungen geben könnte. Er wurde außer von Nadezhdin sofort von einem großen Teil der Anwesenden kritisiert. Der Analyst für Politik Viktor Olewitsch warf ihm vor, daß »angeblich alles nach Plan verläuft, aber vor 6 Monaten glaubte niemand, daß der Plan wäre, sich jetzt zurückzuziehen.« Ein anderer bekannter Kommentator politischer Ereignisse, Alexej Timofejew, nützte die Gelegenheit daran zu erinnern, daß in offiziellen (also Kreml-treuen) Medien verbreitet wurde, daß die Armee im Falle der Einnahme von Odessa »dem Risiko ausgesetzt würde, sehr heftige Umarmungen von Seiten der Bevölkerung zu erhalten.« Seine Kritik war hart: »Diese Irrtümer waren verbrecherisch, katastrophal – warum müssen wir uns weiterhin die Meinung dieser Experten anhorchen?«.
Im Zentrum der Kritik steht in solchen Debatten inzwischen eine der bekanntesten Gesichter der russischen Propaganda: Die Direktorin von »Russia Today«, Margarita Simonjan, die in einer Talkshow im Fernsehen noch vor dem Einmarsch gesagt hatte: Rußland »besiegt die Ukraine in 2 Tagen«. Heute sind 201 Tage seit dem Beginn der Offensive vergangen und die russischen Truppen ziehen sich an verschiedenen Fronten zurück.
Die Verhaftung mehrer Politiker wegen ihrer Kritik an dem Krieg hat die Kritik an Putin nicht verstummen lassen. Da ihr der Zugang zum nationalen Parlament versperrt ist, spielt sich ein guter Teil der russischen Politik in den Gemeinderäten der großen Städte ab.“

– Es folgt wieder die bereits eingangs erwähnte Story mit den Gemeinderäten, die Putin wegen Hochverrats vor Gericht stellen und absetzen lassen wollen. Der Verfasser des Artikels meint offenbar, die Wiederholung könnte diesem Schritt mehr Gewicht verleihen. –

„»Es handelt sich um einen sehr intelligenten und sehr sorgfältig verfaßten Text. Ich erwarte, deshalb nicht vor Gericht gestellt zu werden, weil wir nichts Illegales gemacht haben. Wir haben die landesweit gültigen Gesetze für ein solches Vorgehen eingehalten und haben Argumente verwendet, die man auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen kann, um ein solches Absetzungsverfahren einzuleiten«, erklärt diese einer ihrer Betreiber, Nikita Juferew, per Telefon.
Dem“ (ursprünglich von Petersburg ausgehenden) „Schreiben schlossen sich inzwischen weitere Stadträte aus Moskau an. »Wir wollen uns an das Publikum Putins wenden, damit er nachdenkt. Wenn sie glaubten, daß die Expansion der NATO eine Bedrohung Rußlands darstellt, so hatte seine Entscheidung vom 24. Februar zum Ergebnis, daß sie sich weiter ausgedehnt hat. Mit dem Beitritt Finnlands hat sich die NATO-Außengrenze sogar verdoppelt«, fügt er hinzu. »Wir sehen die Sache so, daß die von Putin ergriffene Initiative das Risiko für Rußland und seine Bevölkerung vergrößert hat. Jetzt ist die Ukraine eine Gefahr, weil sie als Ergebnis des Einmarsches vom 24. Feber Waffen im Wert von 38 Milliarden $ erhalten hat«, bekräftigt er in mit dem Millimetermaß sorgfältig gewählten Worten.
»Wir sind der Ansicht, daß Putin nicht recht hatte«, präzisiert Juferew. »Man muß die Situation unserer Soldaten in Betracht ziehen, den wirtschaftlichen Abstieg und die Probleme der jüngeren Generation. Die Wirtschaft Rußlands leidet beträchtlich«, fügt er hinzu.“

Diese Absetzungsinitiative geht von der Partei „Jabloko“ aus, die in der Duma nicht mehr vertreten ist und im St. Petersburger Stadtrat eine Fraktion besitzt.

Die jetzt geäußerten Kritikpunkte an dem Ukraine-Krieg sind offenbar auch ein Ergebnis von heftigen internen Debatten innerhalb der Streitkräfte und der politischen Klasse Rußlands, wo eine Abteilung immer noch auf eine Einigung mit der gegnerischen Seite gehofft hat.

Gleichzeitig verkündeten Mitglieder der ukrainischen Regierung im Bewußtsein ihrer derzeitigen militärischen Erfolge, keine Verhandlungen führen zu wollen und die Demilitarisierung Rußlands anzustreben.