Syriens Rückkehr zur Normalität

DAS EINSAMMELN VON DAVONGESCHWOMMENEN FELLEN
Mehr als 8 Jahre seit den ersten Unruhen und mehr als eine geschätzte halbe Million Tote später, nach 11 Millionen Flüchtlingen im In- und ins Ausland, und nach Zerstörung eines guten Teiles der ganzen Infrastruktur und Produktion sieht es so aus, als ob die vereinigten Anstrengungen der syrischen Armee, der Hisbollah, der russischen und iranischen Hilfstruppen und deren logistischer Unterstützung dazu geführt hätten, ihrem Ziel sehr nahe gekommen zu sein: Syrien in seinen Grenzen und die auf die Aleviten gestützte Regierung Baschar El Assads zu erhalten.
Das freut natürlich die USA, die EU und Israel gar nicht, weil sie gerne eine Regierung nach ihrem Gutdünken dort eingesetzt und das Territorium Syriens unter ihre Freunde verteilt, bzw. sich etwas davon genommen hätten.
Die Türkei hatte und hat Ähnliches vor, muß sich jedoch aus verschiedenen Gründen mehr zurückhalten, als es Erdogan und Co. lieb ist.
Eines haben die USA, die EU und die von ihnen unterstützten Dschihadisten jedenfalls erreicht: Syrien ist ökonomisch ziemlich am Boden.
Und dort soll es, wenn es nach diesen westlichen Leuchttürmen der Freiheit geht, auch bleiben.
1. Sanktionen
Die EU hat kürzlich wieder einmal alle bestehenden Sanktionen gegen Syrien bestätigt und verschärft.
Sie beziehen sich auf Import und Export von Energieträgern, Blockierung von Finanztransaktionen, Verbot des Exports von Erdöl- und Kommunikationstechnologie nach Syrien, Flugverbote für syrische Flugzeuge und Flüge nach Syrien, u.a.
Es ist klar, daß damit Syrien die Möglichkeit genommen werden soll, durch Ölverkäufe Devisen zu erwirtschaften, seine eigene Energieversorgung aufrecht zu erhalten und an internationale Zahlungsmittel zu kommen, um Güter aller Art auf dem Weltmarkt zu erwerben.
Diese Sanktionen zielen vor allem darauf, zu verhindern, daß Syrien zu Geld kommt und seine zerstörte Wirtschaft wiederaufbauen kann. Das wird natürlich von den wohlmeinenden Staaten der westlichen Wertegemeinschaft alles nur gemacht, um die armen Syrer von ihrem „Regime“ zu befreien. Alles also letztlich im Interesse des p.t. Publikums.
Diese Sanktionen, ähnlich wie die gegen andere Schurkenstaaten wie Kuba oder den Iran oder Venezuela, rufen im Land zwar Verwerfungen und Versorgungsmängel hervor, haben aber letztlich für die verhängenden Länder zur Folge, daß sie einen Markt verlieren. Das betroffene Land muß sich nach anderen Importquellen umsehen. Und ärgerlicherweise gibt es die. So springen Rußland, China, Katar, Ägypten, der Libanon und andere Länder als Krediteure, Lieferanten und Transitländer ein und machen diejenigen Geschäfte, die das Kapital der die Sanktionen verhängenden Staaten nicht mehr machen kann.
Die Sanktionen sind somit ein zweischneidiges Schwert, und das merken vor allem die EU-Staaten. Der Preis, auf dem US-Markt weiter präsent sein zu dürfen, ist der, andere Märkte aufzugeben. Der Selbsterhalt des EU-Bündnisses und seiner Währung bedeutet also wirtschaftliche Selbstbeschränkung und wachsende Abhängigkeit von den USA.
2. Die Justiz im Reich des Guten, Teil 1: Anklage gegen Dschihadisten geht gar nicht!
Kürzlich hat Trump für einige Aufregung gesorgt, als er die EU-Staaten aufgefordert hat, ihre Dschihadisten zurückzunehmen.
Diejenigen IS-Kämpfer und ihre Familien, die bei den Kämpfen der letzten Jahre von den kurdischen mit ihnen verbündeten arabischen Milizen Milizen im Nordosten Syriens gefangenengenommen wurden, vor allem vor und nach dem Fall von Rakka, sitzen dort nämlich in Lagern herum und niemand weiß, wohin mit ihnen. Die Vertreter der Kurden haben schon öfter verlangt, von diesem menschlichen Ballast befreit zu werden. Sie haben nämlich weder das Interesse noch die Kompetenz, sie vor Gericht zu stellen. Erst als Trump die Sache zur Sprache brachte, kam eine Reaktion aus der EU. Seither wälzen diverse Politiker, die Medien und „Experten“ aller Art die Frage, ob man denn das könnte oder wollte?
Wessen sollen sie eigentlich angeklagt werden? Halsabschneiden, Dienst in einer fremden Armee, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung?
Alles gaaanz schwierig. Für dort begangene „Gräueltaten“ brauchte man Beweise, um diese Gotteskrieger verurteilen zu können. Man müßte mit kurdischen Milizen und syrischen Behörden zusammenarbeiten.
Nur das nicht!
Was die Kurden anginge, so wären sie damit von der EU ein Stück weit als halbstaatliche Autorität anerkannt, die Türkei wäre sauer, und es könnte zu Verwicklungen aller Art kommen.
Und erst die syrischen Behörden! Man müßte den Unrechtsstaat und den „Schlächter“ als Regierung anerkennen, um mit syrischen Behörden zusammenarbeiten zu können.
Auch der „Dienst in einer fremden Armee“ als Tatbestand hat es in sich. Damit wäre der IS als Staat anerkannt, was ja auf keinen Fall sein soll.
Schließlich ist es auch mit der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ nicht ganz einfach. Was heißt „Unterstützung“? Wenn diverse Frauenzimmer sich darauf berufen, doch nur für ihren Schatz gekocht und ihm die Wäsche gewaschen bzw. sich ihm als Beischläferin zur Verfügung gestellt zu haben, können sie dafür verurteilt werden?
Die Dschihadisten wiederum rasieren sich ihren Bart ab, nehmen wieder eine westliche Ästhetik an und beteuern, nur Sanitäter gewesen zu sein bzw.in der Küche Kartoffeln geschält zu haben.
Um ihnen nachzuweisen, daß das nicht so war, sind kostspielige Untersuchungen notwendig, Befragung von Milizmitgliedern, Einsatz von Dolmetschern, Juristen, Reisen in Gebiete, wo man sich auch heute noch nicht ganz sicher fühlt und womöglich in sehr bescheidenen Unterkünften hausen muß, weil die 4 Stern-Hotels alle dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen sind.
Die mit so einem Fall befaßten Juristen könnten sich da ein recht genaues Bild davon machen, wie die Aufständischen in Syrien gehaust haben, und es ist nicht sicher, ob das für die deutsche oder französische oder andere Regierungen angenehm wäre. Immerhin könnte man da anfangen, über Gründe und Hintergründe des Krieges nachzudenken und ein unerfreuliches Bild über die Beteiligung diverser EU-Staaten gewinnen.
Diese Variante – heimholen und hier vor Gericht stellen – ist aber auch deswegen die populärste und naheliegendste, weil Väter und Mütter der Dschihadisten und ihrer Dulcineas mehr oder weniger laut fordern, doch ihre lieben Kinder und die herzigen Enkerln, die oftmals auch schon Halsabschneider-Kurse durchlaufen haben, bei sich haben zu können.
Die nächste Idee, die aufkam, war die, dortselbst Gerichte einzurichten und die über das konsularische Personal zu betreuen.
Das ist natürlich eine besondere Schnapsidee. Erstens haben weder die syrische Regierung noch die kurdische Verwaltung ein Interesse, sich zu Handlangern der europäischen Justiz zu machen. Ansonsten gibt es in Syrien Wichtigeres zu tun, als langwierige Gerichtsverfahren gegen fanatische Killer zu führen.
Der Irak, der die Angeklagten oder auch nur Verdächtigen in Schnellverfahren zu Tode verurteilt – und auch hinrichtet –, ist kein Vorbild für Syrien. Weder die syrische Justiz noch die Behörden Rojavas haben vor, es ihm gleichzutun. Diese Henker-Tätigkeit lehnen sie ab.
Zweitens ist es eine Illusion und auch eine Frechheit, anzunehmen, Syrien oder die kurdischen Behörden würden so etwas wie eine exterritoriale Jurisdiktion bei sich dulden, also die Rechtssprechung fremder Länder bei sich zulassen.
Und schließlich haben Konsulatsbeamte keine strafrechtliche Ausbildung oder Kompetenz.
Ein weiterer Vorschlag lautete, doch einen internationalen Gerichtshof einzusetzen. Auch dieser Vorschlag prosperiert nicht.
Die internationalen Gerichthöfe betreffend Ruanda und Ex-Jugoslawien verdanken ihr Zustandekommen einer außerordentlichen Konstellation, als Rußland und China auf Kooperation mit den USA und der frischgebackenen EU setzten und deshalb im Sicherheitsrat einem solchen Gerichtshof zustimmten. Diese Situation ist aber heute nicht mehr gegeben. Ohne ein solches Mandat läßt sich aber ein solcher Gerichtshof nicht mehr einrichten.
Darüber hinaus war der Untersuchungsgegenstand dieser Gerichte ein anderer. Da ging es um die Aburteilung eines sozialistischen Staates als Verbrechen überhaupt, und um die Zurechtstutzung der Nachfolgestaaten zu subalternen Hinterhöfen der EU. Oder, im Falle Ruandas und Burundis, um die Aburteilung eines Genozids, um so etwas überhaupt einmal durchspielen zu können, durchaus mit Absicht auf etwaige Folge-Prozesse.
In Syrien schaut das ganz anders aus.
Ein Gerichtshof wegen Kriegsverbrechen in Syrien könnte sich nicht nur auf den IS beschränken. Die meisten Staaten sind aber nicht daran interessiert, Al Nusra-Front-Mitglieder, Weißhelme und ähnliche auf die Anklagebank zu setzen, weil sie teilweise von ihnen unterstützt wurden und werden. Großbritannien würde da nicht gut aussehen, die Türkei schon gar nicht, und Saudi-Arabien wäre gar nicht erfreut, wenn auch nur ein Teil seiner IS-Unterstützung ans Licht käme. Und erst die USA …
3. Die Justiz im Reich des Guten, Teil 2: Anklage gegen Freunde der Kurden oder der Regierung Assad geht schon!
Deutschland möchte sich offenbar im Spiel halten für einen Regime Change in Damaskus und an seiner Feindschaft gegen Assad festhalten.
Nachdem es seinerzeit nicht gelungen ist, den internationalen Gerichtshof in Den Haag für dieses Projekt zu gewinnen, ist die deutsche Justiz selber tätig geworden.
Sie zieht eine eigene Gerichtsbarkeit gegen Assad auf, wo frühere Mitglieder von Geheimdiensten, Regierung usw. vor Gericht gestellt werden sollen. Das alles mit Fotodokumenten und Zeugen, und möglicherweise auch besonders behandelten Kronzeugen unter den Flüchtlingen, die, hmmm, zu gewissen Aussagen überredet oder sonstwie gebracht werden sollen. Immerhin kriegt man sicherer Asyl, wenn man sich als vom Assad-Regime als verfolgt bezeichnet …
Um die Sache weiterzubringen, werden auch Verhaftungen vorgenommen.
Auch für syrische Juristen, die sich dafür einspannen lassen, gibt es bei diesem Gericht Jobs.
Deutschland maßt sich da eine Jurisdiktion über eine fremde Staatsgewalt an, das ist schon recht gewagt. Offenbar will es aus den vielen syrischen Flüchtlingen politisches Kapital schlagen. Da es aber gar keine Mittel hat, um die etwaigen Urteile gegen syrische Verantwortliche auch zu vollstrecken – sofern sie sich nicht in Deutschland befinden – haben derartige Verfahren auch etwas Lächerliches an sich. Man merkt sowohl den Anspruch als seine Haltlosigkeit.
Auch linke Kämpfer, die auf Seiten der YPG gekämpft haben, kommen vor Gericht.
Immerhin ist die PKK in Deutschland offiziell als terroristische Vereinigung eingestuft, die YPG-Milizen gelten als ihre syrische Filiale, und daß da jemand sich sozusagen Revolutions- und Aufstands-Unterricht holen könnte, das gefällt den Behörden gar nicht.
Auch in Spanien werden Mitglieder einer linken Gruppe, die nach Rojava sind, um dort den IS zu bekämpfen und sich Tips für den bewaffneten Kampf zu holen, vor Gericht gestellt, weil sie sich dort Milizen angeschlossen haben, „die von der terroristischen Organisation PKK-KCK abhängen“.
Fazit
Man merkt, die Bekämpfung des IS war und ist nicht erste Priorität vieler EU-Staaten.
Man merkt auch, der System-Change in Syrien ist nicht gelungen, wird aber dennoch gerade von Deutschland nicht aufgegeben.
Die Außenpolitik der EU-Staaten in Syrien und Umgebung ist zusätzlich kopf- und auch zahnlos geworden, seitdem die USA ihren Rückzug angekündigt haben.
Die Justiz erweist sich als ein eher mattes Mittel der Außenpolitik und kann Armeen und Waffensysteme nicht ersetzen.
Die EU verliert durch ihre Bündnistreue zu den USA jedes Jahr mehr Gewicht in der Welt.

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 7: Puerto Rico

VERWÜSTUNG

„Alles ist eine Wüste
Das Volk ist gestorben
an Not“ (Rafael Hernandez „El Jibarito“ – Puertorikanische Klage, 1929)

Zuletzt war Puerto Rico in den Medien, als der Hurrikan Maria im September des Vorjahres die Insel ohne Strom und Trinkwasser hinterließ und fast 3000 Tote forderte.
Heute, mehr als ein Jahr später, ist nur ein Teil des Schadens repariert. In erster Linie wurde diejenige Infrastruktur in Gang gesetzt, die mit dem Tourismus zusammenhängt, der dringend benötigte Einnahmen bringt.
Puerto Rico war, ungeachtet seines Namens („Reicher Hafen“), nämlich schon vorher ziemlich in Schwierigkeiten.


Teil der USA ohne Rechte

Puerto Rico gehörte seit den Anfängen desselben, also seit 1493 zum spanischen Kolonialreich und verblieb dort auch, nachdem sich das Festland von Mexiko bis Patagonien aus diesem gelöst hatte. Die Reste der spanischen Besitzungen in der Karibik wurden rund um die kubanischen Unabhängigkeitskriege von den USA annektiert, so auch Puerto Rico im Jahr 1898.
Die USA hatten lange kein Interesse daran, sich in die Karibik auszudehnen. Sie begnügten sich damit, das Festland Lateinamerikas zu ihrer Einflußzone zu machen, in Konkurrenz mit dem British Empire.

Das Interesse an der Karibik als Vorhof der USA erwachte gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die USA sich eine Kriegsflotte zulegten und begannen, über einen Kanal durch Mittelamerika nachzudenken. Sie wollten sich die Karibik für Stützpunkte sichern, mischten sich deshalb in den kubanischen Unabhängigkeitskrieg ein und vertrieben die Spanier.
Damals besetzten die US-Streitkräfte Puerto Rico. Diese de facto-Inbesitznahme wurde durch den Pariser Vertrag von 1899 besiegelt. Seither gehört Puerto Rico den USA, als ihr Territorium.

Zunächst war Puerto Rico militärisch besetztes Territorium. Es war eine Art Kolonie, aber dieser Status wurde nie offiziell als solcher benannt.
Mit dem Foraker Act von 1900 wurde eine zivile Verwaltung mit sehr beschränkten Befugnissen eingesetzt. Die Regierung wurde von den USA ernannt, die Selbstverwaltung beschränkte sich – ähnlich wie in der spanischen Kolonialverwaltung – auf die Gemeindeebene. Wahlen für eine Art Parlament waren eine Farce. Das Rechtssystem wurde nach US-Recht konstruiert, aber mit einer Menge Ausnahmen, unter anderem, was die Steuerhoheit betraf.

Puerto Rico ist ein historisch einzigartiger Fall von beschränkter Souveränität, der bis heute als solcher besteht. Es ist ein Staat, der keiner ist, aber als solcher international anerkannt ist. Ein Fall von Souveränität, die jeden Staatsakt, sei es im Inneren, sei es nach außen, immer mit der übergeordneten Macht der USA koordinieren muß. Jede Freiheit, die sich die Regierung dieses Staates erlaubt, muß vorher mit den USA abgesprochen werden. Was jedoch die Verbindlichkeiten dieses Halb-Staates betrifft, ist er auf sich allein gestellt. Die USA stehen nicht gerade für die Schulden Puerto Ricos, und sie haben keinerlei Verpflichtung, für die Schäden auf der Insel aufzukommen, die Naturkatastrophen verursachen.

Im Jones Act von 1917 wurde den Puertorikanern die US-Staatsbürgerschaft zugesprochen – sofern sie nach der Annexion von 1898 geboren waren. Damit verfestigten die USA ihren Anspruch auf die Insel und verwehrten sich gegen Unabhängigkeitsbestrebungen. Der unklare Status von Puerto Rico wurde damit weiter festgeschrieben.
Der unmittelbare Anlaß für diesen Beschluß – gegen den Willen der damaligen puertorikanischen Politiker – war der Wille, die Männer Puerto Ricos als US-Soldaten in den 1. Weltkrieg schicken zu können, in den die USA einen Monat nach dem In-Kraft-Treten des Gesetzes eintraten.
Seither ist die Emigration aus Puerto Rico in die USA ein taugliches Ventil für alle ökonomischen Nöte. Die Puertorikaner bevölkern die Slums der USA und ermöglichen durch ihre Überweisungen das Überleben der restlichen Bewohner der Insel.

Das zum gleichen Zeitpunkt, im Zuge des Krieges der USA gegen Spanien 1898 annektierte Hawai wurde 1959 unter der Präsidentschaft Eisenhowers zum 51. Bundesstaat der USA erklärt. Dem ging eine Abstimmung voraus, wo die Bewohner Hawais befragt wurden, ob sie den USA beitreten oder weiter in dem gleichen ungeklärten Status – wie Puerto Rico – verbleiben wollten. Die Idee der Unabhängigkeit wurde gar nicht zum Thema gemacht.

In Puerto Rico wurde anders vorgegangen. Versuche eines US-Politikers, über die Unabhängigkeit Puerto Ricos zu entscheiden, wurden sowohl in den USA als auch unter deren Parteigängern in Puerto Rico hintertrieben. 1948 wurde das sogenannte Knebelgesetz erlassen, das das Hissen der puertorikanischen Flagge und andere Äußerungen für die Unabhängigkeit Puerto Ricos sowie Vereine, die sich selbige zum Ziel setzten, unter Strafe stellten. Dieses Gesetz war bis 1957 in Kraft, als es vom US-Kongress aufgehoben wurde.
Eine Abstimmung über den Status der Insel fand während des gesamten 20. Jahrhunderts nicht statt. Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung wurden ermordet oder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein Referendum von 2012 zu dieser Frage wurde ignoriert.

Puerto Rico ist also bis heute ein annektiertes Territorium der USA, mit ungeklärten Zuständigkeiten.
Als Rufe nach Unabhängigkeit sowie Streiks überhandnahmen und die Stabilität und Funktionalität Puerto Ricos ernsthaft gefährdeten, dehnten die USA 1933 die New Deal-Maßnahmen auch nach Puerto Rico aus. Vor allem auf dem Gebiet der Infrastruktur und des Gesundheitswesens wurde in den 30-er Jahren einiges investiert. Damals wurde die Insel mit Staudämmen für die Elektrizitätsgewinnung versehen und ein Stromnetz aufgebaut. Eine angestrebte Landreform und der Aufbau einer Industrie scheiterten vor allem am Widerstand von Firmen und Politikern in den USA.
Damals wurden jedoch die Grundlagen für das ehrgeizige Projekt der Nachkriegszeit gelegt, und auch die Politiker erzeugt, die in der Zugehörigkeit zu den USA das Heil Puerto Ricos sahen und alle anderen Richtungen ausschalteten.


Operation „Ans Werk!“

Unter dem 1948 gewählten Präsidenten Luis Muñoz Marín, den man als einen Vorkämpfer der Idee der „Entwicklung“ betrachten kann, wurde in Puerto Rico ein Programm begonnen das die bisherige, auf Zuckerrohranbau und sonstige Agrarprodukten basierende Wirtschaft der Insel gründlich umkrempelte.
Muñoz Marín war der erste nicht vom Senat ernannte, sondern von der Bevölkerung gewählte Präsident Puerto Ricos. Mit der solchermaßen zustande gekommenen Autorität sah er sich befugt, nicht nur alle Unabhängigkeitsbestrebungen zu verfolgen und niederzumachen, sondern auch dem Segen des Privateigentums und des Kredits auf der Insel zum Durchbruch zu verhelfen. Er war ein bekennender Anhänger der freien Marktwirtschaft, und der USA als Wohltäter Puerto Ricos.

„Ans Werk!“ war nicht mehr und nicht weniger, als eine Billiglohnzone für US-Kapital zu schaffen, – das, was später in Mexiko flächendeckend als „Maquiladoras“ stattfand. Puerto Rico und sein voraussehender Präsident schufen eine Art Mischung von Billiglohnsektor und Steuerparadies für US-Kapital. Der unklare Status Puerto Ricos wurde als Lockvögeli für das US-Kapital eingesetzt. Die Insel wurde – durchaus als eine Art Vorreiter für Verlagerung in Billiglohnländer – dem amerikanischen Kapital angeboten: zollmäßig Inland, und dennoch steuermäßig und gesetzesmäßig Ausland.

Den Bewohnern Puerto Ricos wurde dieses Programm verkauft als: Seid nur willig und billig, und schon kommt der Segen des Kapitals, schafft Arbeitsplätze und Wohlstand! Schon der Name dieses Programms war ein Aufruf an die Botmäßigkeit an die Bewohner der Insel: Es liegt an euch, macht doch etwas daraus!
Im Zuge dieses Programm wurde die Landwirtschaft heruntergefahren, sodaß Puerto Rico nicht nur bei allen Grundnahrungsmitteln, sondern auch bei seinen ehemaligen Exportprodukten Zucker und Kaffee importabhängig ist. Puerto Rico wurde damit auch zu einem Markt für US-Konsumgüter.

Um das US-Kapital anzulocken, schuf die puertorikanische Regierung noch einen zusätzlichen Attraktivitäts-Faktor: Unter dem Motto „Fortschritt“ und „Familienplanung“ wurde mehr als ein Drittel der weiblichen Bevölkerung zur Sterilisation überredet, was von USA-Organisationen großzügig finanziert wurde, um „Überbevölkerung“ und Armut zu lindern. Damit sollte das Einstellen von weiblichen Arbeitskräften befördert werden, die dem Kapital verläßlich das ganze Jahr hindurch zur Verfügung stehen würden. Auch „die Pille“ wurde zuerst in Puerto Rico großflächig ausprobiert, bevor sie in den USA zugelassen wurde. Die Frauen Puerto Ricos waren also in mehrerlei Hinsicht Versuchskaninchen für US-Firmen. Als Nebenprodukt dieser Vorgangsweise hat sich eine gewisse pharmazeutische Industrie dort angesiedelt.


Puerto Rico heute

Mit dem Abschluß des Freihandelsabkommens NAFTA mit Mexiko 1994 wurde Puerto Rico als Billiglohnland unbedeutend. Mexiko ist für die US-Firmen näher, größer, über den Landweg erreichbar. Neue Firmen siedelten sich in Puerto Rico nicht mehr an, manche alte sperrten zu und verlegten ihre Produktion nach Mexiko. In die Infrastruktur wurde nicht mehr viel investiert, die Abwanderung nahm zu.
Puerto Rico war lange eine Steueroase für US-Kapital. Das bedeutete jedoch, daß weder die Firmen, die nur ihren Firmensitz auf der Insel angemeldet hatten, als auch diejenigen, die dort tatsächlich Produktionsstandorte betrieben, Steuern bezahlten. Die Haupteinnahmen des Staates bestanden also sowieso lange Zeit – neben Zuschüssen aus den USA selbst – in den Steuern und Abgaben, die die arbeitende Bevölkerung in seine Kassen spülte.
2 Jahre nach dem Abschluß von NAFTA, 1996, strichen die USA die Steuervergünstigung für Puerto Rico, das damit endgültig unattraktiv für Investoren aller Art wurde.

Der Weltmarkt war so weit fortgeschritten, daß Puerto Rico unwichtig für das USA-Kapital wurde, weil inzwischen anderswo in Lateinamerika auch die meisten Schranken für das US-Kapital niedergerissen worden waren.
Und Puerto Rico begann sich zu verschulden, ohne irgendeine Aussicht, diese Schuld jemals selbst bedienen zu können. Es erhielt Kredit, weil es für die Gläubiger ein Teil des US-Territoriums war und deshalb als relativ solider Schuldner eingestuft wurde. Vermutlich nahmen die Banken und Fonds, die puertorikanische Anleihen kauften, auch an, daß der Kredit Puerto Ricos von der Fed irgendwie gestützt werden würde, falls die die Regierung der Insel ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen könnte.
Seit 2015 kann Puerto Rico seine Anleihen nicht mehr bedienen und erhält daher auch keinen Kredit mehr. Bezüglich einer Stützung durch den US-Staatskredit haben sich die Gläubiger genauso geirrt wie in Detroit oder Kalifornien. Puerto Rico kann jedoch aufgrund seiner ungeklärten rechtlichen Stellung auch keinen Bankrott anmelden oder seine Schuld mit den Gläubigern neu verhandeln. Es ist auf Zuschüsse aus den USA angewiesen, auf die es jedoch keinen konkreten Rechtsanspruch hat. Die Hilfen, die es von Budget und Katastrophenschutz der USA erhält, haben daher den Charakter eines Almosens.

Dieser unerfreuliche Zustand betrifft über 3 Millionen Menschen. Seit 2007 wurde keine Volkszählung mehr durchgeführt, damals wurden 3,7 Millionen gezählt. Seither ist die Einwohnerzahl wegen Abwanderung wahrscheinlich zurückgegangen.

Pressespiegel: El País, 24.10.

DIE TÜRKEI NÜTZT DEN FALL KASHOGGI, UM SAUDI-ARABIEN GEGENÜBER AN EINFLUSS ZU GEWINNEN
Andres Mourenza
Eine der Fragen, die angesichts des Falles Kashoggi hinter den Kulissen debattiert werden, ist die der Machtverhältnisse im Nahen Osten, wo die Türkei die Führungsrolle gegenüber anderen Mächten beansprucht, die diese traditionell innegehabt haben, wie dem Iran, Ägypten und vor allem Saudi Arabien. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat ihre Arme für die Dissidenten dieser Länder geöffnet, während bei sich zu Hause innerhalb der letzten 2 Jahre 60 000 Personen unter der Anklage der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen im Gefängnis gelandet sind, darunter 150 Journalisten.
Am 8. Oktober, nach 6 Tagen ohne Nachrichten vom saudischen Journalisten Jamal Kashoggi, und angesichts der Hypothese einer möglichen Ermordung, versammelten sich Mitglieder verschiedener Vereinigungen vor dem Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Sie verlangten rechtliche Schritte. Da waren ägyptische Anwälte, syrische Journalisten, irakische und libysche Aktivisten und auch die jemenitische Nobelpreisträgerin Tawakul Kerman. Für sie alle bedeutete nämlich das Verschwinden Kashoggis nicht nur den Verlust eines Freundes und einer Person gewissen Bekanntheitsgrades, sondern erzeugte auch Ängste, daß die Tentakel derjenigen autoritären Regimes, denen sie entkommen waren, sie auch im Exil erreichen könnten.
„Obwohl die türkische Regierung gegen ihre eigene Opposition mit seit Jahrzehnten nicht gekannter Härte vorgeht, hat sie Dissidenten aus dem Nahen Osten mit einer politischen oder religiosen Profilierung willkommen geheißen“, erklärt Aaron Stein vom Think Tank Atlantic Council.
„Bis in die 90-er Jahre ließen sie (Regimekritiker aus dem Nahen Osten) sich in Paris, London oder den USA nieder, weil diese Staaten eine Politik der Offenen Tür gegenüber Dissidenten in den Tag legten. Aber die seit 2 Jahrzehnten geführten Debatten um die Migration haben es sehr erschwert, sich dort niederzulassen. Es ist inzwischen sogar sehr schwierig, irgendeinen Oppositionellen aus dieser Weltgegend zu einer Konferenz nach London oder Washington einzuladen, aufgrund des verschärften Visa-Regimes“, versichert Mohammed Okda, Politberater aus Ägypten und persönlicher Freund Kashoggis. „Die Türkei hingegen ist in Sachen Aufenthaltsgenehmigung sehr großzügig, und angesichts einer wachsenden arabischen Bevölkerung ist es leichter, sich in einem ohnehin muslimischen Land zu integrieren.“
Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten nimmt die Türkei die uigurische Diaspora auf, die eine verwandte Sprache spricht, trotz des guten Verhältnisses zwischen Ankara und Peking. Ebenso geben sich Oppositionelle aus Zentralasien und dem russischen Kaukasus in der Türkei ein Stelldichein. Im Osten, in Van ist es nicht schwierig, politische oder religiöse Flüchtlinge aus dem Iran zu treffen. Was sich seit dem Regierungsantritt Erdogans verstärkt hat, sind die Beziehungen mit Oppositionellen aus dem arabischen Raum, vor allem nach dem gescheiterten „Arabischen Frühling“, den die Türkei zu nutzen versuchte, um an Einfluß zu gewinnen, indem sie sich als Modell für eine Umgestaltung präsentierte.
„Die alten Kolonialmächte sind mehr an Stabilität interessiert, und deshalb haben sie oft die Autokraten des Nahen Ostens unterstützt. Erdogan hingegen hat sich in dieser Region als Beschützer der Schwachen dargestellt, was ihm in den arabischen Gassen viel Bewunderung eingebracht hat“, fügt Okda hinzu. Seit dem Anfang des „Arabischen Frühlings“ haben sich Vertreter der Muslimbrüder verschiedener Länder in Istanbul die Klinke in die Hand gegeben, und auch mit Regierungsvertretern verhandelt, und als er scheiterte, nahm die Türkei diejenigen auf, die vor Verfolgung flüchteten. Weiters hat die Syrische Nationale Koalition, eine Dachorganisation von Gegnern des Assad-Regimes, ihren Sitz in Istanbul. Andere türkische Städte in Grenznähe zu diesem kriegsgeschüttelten Land haben Anführer diverser Rebellenfraktionen aufgenommen.
Der türkische Islamismus hat andere Wurzeln als derjenige der Muslimbrüder und unterscheidet sich von ähnlichen Strömungen durch Betonung auf dem nationalen Interesse. Vor 2 Jahren erklärte mir der Experte Rusen Çakir, daß die türkischen Islamisten zwar Wert auf die muslimische Umma (Gemeinschaft) legen, aber bitte unter ihrer Führung, im Anklang an das seinerzeitige Osmanische Reich. Diese Idee findet sich auch in den Äußerungen Erdogans. Zuletzt betonte er am 15. Oktober: „Die Türkei ist das einzige Land, das die islamische Welt anführen kann.“
Im Wechsel der Verbündeten (…) hat die Türkei in jüngerer Vergangenheit Partei gegen das Ägypten Marschalls Al Sisis ergriffen, nimmt Anhänger des gestürzten Präsidenten Morsi auf und erlaubt ihren Radioprogrammen, aus Istanbul zu senden. Katar hat es gegen die von Riad angeordnete Blockade verteidigt.
(Darin ist die Unterstützung für Katar sehr verkürzt zusammengefaßt. Die türkische Regierung hat eine Luftbrücke zur Sicherstellung der Versorgung mit Katar errichtet und eigenes Militär hingeschickt, um Saudi-Arabien von einem Einmarsch abzuhalten. Ohne die Türkei hätte Katar das nicht durchgestanden.)
Die Beziehungen zu Saudi-Arabien haben sich seit dem Aufstieg des Kronprinzen Mohammed Bin Salman und dessen aggressiver Außenpolitik verschlechtert. Im Zuge dessen kam es zur engen Verbindung mit Ägypten und den Vereinigten Emiraten, mit denen die Türkei seit geraumer Zeit über Kreuz ist. Dort machte übrigens – ganz zufällig – die 15-köpfige Truppe der vermutlichen Kashoggi-Mörder eine Zwischenlandung bei ihrer Rückkehr nach Riad in 2 Privatflugzeugen.
„Der Nahe Osten hat sich in einen Dschungel verwandelt, in dem jedes Land nach Mitteln zur Gewinnung von Einfluß sucht. Und die Türkei nutzt den Fall Kashoggi, um zu zeigen, daß sie Macht hat und viel bewirken kann“, meint Ilke Toygur, eine türkische Mitarbeiterin des Real Instituto Elcano. Ein Ziel der türkischen Regierung, die an die Medien Details über seine Ermordung durchsickern ließ, ohne sie offiziell zu behaupten, besteht darin, „den Druck auf die USA zu erhöhen, damit Washington Druck auf Saudi Arabien ausübt, um Bin Salman zu schwächen und Riad zur Änderung seiner Außenpolitik zu bewegen.
Während der jüngsten Krise hat Erdogan zweimal mit Salman Bin Abdulaziz, dem Vater von Prinz Mohammed telefoniert, und dadurch erreicht, daß die Angelegenheit jetzt von ihm gehandled wird. Er hat den vorher aggressiven Ton Riads gemildert und den Mord zugegeben. Falls sich die Türkei doch irgendwann mit der Version Saudi-Arabiens zufriedengeben sollte, so würde das bedeuten, daß Erdogan etwas dafür erhalten hat, politisch oder wirtschaftlich.
(Angeblich soll die kürzliche Erholung der türkischen Lira auf Interventionskäufe aus Saudi-Arabien zurückzuführen sein.)