LENINS „MARXISTISCHE LEHRE VOM STAAT“
Vorausschicken muß man zunächst, daß Lenins gesamtes theoretisches Werk höchst zweifelhaft ist, und zwar wegen seiner Art, Kritik zu üben.
Er kritisierte die Sozialdemokraten, also diejenigen Leute, die sich wie er auf Marx beriefen, vom Standpunkt der Verfehlung. Ihre Überzeugungen und Taten waren für ihn Abweichungen von der reinen Lehre von Marx und Engels, zu deren befugtem Hüter er sich selbst erklärte. Sie waren daher „Opportunisten“, „Nationalchauvinisten“, „Renegaten“ und dergleichen. Verräter. Seine Kritik lief daher stets auf eine moralische Verurteilung hinaus. Das ist ein Unterschied zur Kritik Marx’ an den Sozialdemokraten, der sich in der „Kritik des Gothaer Programms“ darum bemühte, ihnen inhaltliche Fehler nachzuweisen.
„Staat und Revolution“ wurde zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution geschrieben, in Petrograd, als Lenin sich vor den Behörden verstecken mußte. Er sah eine Revolution vor sich und suchte nach Handlungsanweisungen. Er wollte eine theoretische Grundlage schaffen für das, was er vorhatte.
Die Fehler, die ich ihm ankreide, sind sicherlich Ergebnisse von Vorstellungen, die er schon vorher gehabt, und in dieser Schrift nur mehr niedergeschrieben hat. Hätte er jedoch Zeit und Muße gehabt, seine Überzeugung in Ruhe zu entwickeln, so wären ihm vielleicht die einen oder anderen Widersprüche aufgefallen.
Die Kritik an seiner Schrift ist jedenfalls angebracht, weil sich auf „Staat und Revolution“ jede Menge von Marxisten berufen, die Lenin als Revolutionär und Praktiker schätzen, und ihn deshalb als Theoretiker hochhalten.
Im Vorwort gibt Lenin das Ziel an, das er mit diesem Buch verfolgt:
„Wir betrachten zunächst die Lehre von Marx und Engels vom Staat und wollen besonders eingehend bei den in Vergessenheit geratenen oder opportunistisch entstellten Seiten dieser Lehre verweilen.“
Er behauptet also zunächst, es gebe eine solche Lehre.
Marx hat das „Buch vom Staat“, das er geplant hatte, nie geschrieben. Auch Engels behauptet von sich nicht, eine „Lehre vom Staat“, eine Analyse „des Staates“ in die Welt gesetzt zu haben, auch wenn eines seiner Bücher unter anderem beansprucht, seinen „Ursprung“ zu erläutern. Den Ursprung, die Entstehung einer Sache zu erklären, ist jedoch etwas anderes, als ihr Wesen und ihre Notwendigkeit zu analysieren.
Wenn jetzt Lenin gesagt hätte: Die zwei von mir geschätzten Theoretiker hatten dieses Vorhaben, sind aber nicht dazu gekommen, und deswegen muß ich jetzt eine Lehre vom Staat entwickeln, das nicht geschriebene Buch vom Staat selber schreiben – dagegen wäre nichts einzuwenden. Damit hätte er sich selber zur Autorenschaft bekannt, und sich der Kritik an seinen Ausführungen gestellt.
Voraussetzung für ein solches Unterfangen wäre allerdings, die Äußerungen von Marx und Engels auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und etwaige Mängel und Widersprüche aufzuzeigen. Es wäre auch notwendig gewesen, dort, wo die beiden spätere Entwicklungen (z.B. in Sachen Bismarck’sche Sozialreformen und die Stellung der deutschen Sozialdemokraten zu ihnen) nicht kennen konnten, diese theoretische Lücke zu schließen und selber eine Analyse vorzunehmen.
Er definiert sein Vorgehen aber von Anfang an ganz anders. Er sagt: Diese Lehre gibt es, sie ist aber verschütt gegangen, ich muß sie jetzt wieder ausgraben und darstellen. Was er hier macht, ist eine Kindesunterschiebung: Er entwickelt seine eigene Lehre vom Staat, beruft sich aber auf Marx und Engels und behauptet, das sei alles eigentlich von ihnen. Damit erklärt er sie für ein Kriterium der Wahrheit und sich nur zu ihrem Sprachrohr: Wer gegen mich antritt, ist ein Abweichler, ein Opportunist usw.! Denn bei Marx und Engels steht geschrieben …
In diesem Zusammenhang ist es auch angebracht, darauf hinzuweisen, daß er für sein Buch eine Auswahl des vorliegenden Schrifttums trifft, die dadurch in der marxistischen Tradition als eine Art Kanonisierung angesehen wurde und wird: Die von ihm herangezogenen Schriften gelten als das Um und Auf des Marxismus, das „Kapital“ und die mit ihm verwandten Schriften hingegen sind schon irgendwie den Ökonomen und spezialisierten Marxologen vorbehalten.
Kapitel I
Lenin betitelt dieses Kapitel mit der Überschrift: „Der Staat – ein Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze“.
Damit stellt er erstens fest: Die Klassengesellschaft braucht eine übergeordnete Gewalt, um bestehen zu können – eine Gewalt, die über den Klassen steht und sie beide auf ihre Rolle im Prozeß der Akkumulation verpflichtet.
Gleichzeitig relativiert er aber bereits in dieser Überschrift die Bestimmung des Staates, indem er sagt, sie sei ein „Produkt“. Damit bestimmt er die Staatsgewalt sozusagen als einen Nachschößling der Klassengesellschaft, als etwas von ihr Abhängiges, das keine eigene Bestimmung hat.
„Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen „Ordnung“, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft.“ (S 14)
Die Vorstellung des „Produktes“ wird weiterentwickelt: Jetzt ist der Staat ein „Organ“, das von der einen Klasse zur Unterdrückung der anderen geschaffen wird.
Diese Behauptung wird von da an zur erkenntnisleitenden Idee, von der anderes gefolgert wird:
„Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und „sich ihr mehr und mehr entfremdende“ Macht ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparates der Staatsgewalt, in dem sich diese „Entfremdung“ verkörpert.“ (S 15)
Wenn sich der Staat „mehr und mehr der Gesellschaft entfremdet“, so wird dabei unterstellt, daß er einmal mit ihr identisch war. Woher diese Vorstellung? „Gesellschaft“ und „Staat“ werden hier als ursprünglich gleiche bestimmt, die sich immer mehr voneinander entfernt haben.
Der Umstand, daß der Staat nicht mehr der Gesellschaft dient, stellt den Proletariern die Aufgabe, ihn zu stürzen. Soweit, so gut. Dennoch bleibt hier der schale Nachgeschmack, daß es einmal eine graue Vorzeit gab, in der Harmonie herrschte. Also der Staat vornehme Aufgaben hatte, die er aufgrund der Klassengesellschaft und Klassenherrschaft nicht mehr wahrnimmt.
Es folgen langweilige Ausführungen über den bürgerlichen Staat, mit Berufung auf Engels, die sich darin erschöpfen, daß die moderne Staatsgewalt etwas anderes ist als Stammesgesellschaften oder Affenherden.
Der Beweiszweck ist unklar: Muß man beweisen, daß die Staatsgewalt existiert, und etwas anderes ist als frühere, urzeitliche Gesellschaftsformationen?
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„Staat und Revolution“ wird zitiert nach der Taschenbuchausgabe des Dietz-Verlages von 1989.
Ich hab mir vorgenommen, im Sommerloch dieses bahnbrechende Werk des Marxismus-Leninismus in Fortsetzungen zu verreißen und hoffe auf reges Interesse und Streit, um das ganze dann einmal in ausgereifter Form zu veröffentlichen.
Fortsetzung: Staat und Revolution, Teil 2