Das Vorrücken des Islamischen Staates

DSCHIHAD

Da sind wir also angelangt im 21. Jahrhundert, mit allgemeiner Schulpflicht, Aufklärung und Trennung von Staat und Kirche: perspektivlose Jugendliche aus Europa machen sich auf in den Nahen Osten, um dann dort genußvoll Leute zu enthaupten, zu kreuzigen und das auch noch mit moderner Technik der gesamten Welt in Wort und Bild mitzuteilen.

Rekapitulieren wir doch einmal die Vorgeschichte zu dieser Entwicklung.

1. Das Setzen auf den radikalen islamischen Fanatismus. Religion als Mittel der Politik

Die USA und deren in der NATO organisierte europäische Verbündete haben in ihrem Kampf gegen den Kommunismus und alles andere, was sich der von ihnen gestifteten Weltordnung, der pax americana widersetzt hat, immer auf die islamische Karte gesetzt.
Um der Sowjetunion „ihr Vietnam“ zu verschaffen, wurden die Gotteskrieger in Afghanistan mit allem Nötigen ausgerüstet und als „Freiheitskämpfer“ bejubelt. Gleichzeitig lief eine Kampagne gegen den Gottesstaat der Mullahs im Iran. Es störte anscheinend niemanden, daß die gleiche Mentalität hier hofiert, dort verteufelt wurde – alles nur unter dem Gesichtspunkt: sind sie für oder gegen uns?
In den Palästinensergebieten wurden die Aktivitäten der Muslimbrüderschaft toleriert, ja sogar unterstützt, um die Palästinenser zu spalten und die säkular und prosowjetisch orientierte Fatah zu schwächen. Der Gründer der Hamas, Scheich Jassin, den das israelische Militär 2004 durch zielgerichtete Raketen tötete, wurde bis Mitte der 80er Jahre von den israelischen Behörden nicht nur toleriert, sondern sogar aktiv gefördert. Die Fatah bezichtigte ihn de „Kollaboration mit dem Zionismus“. Auch Israel setzte also damals auf die islamische Karte, gegen den säkularen panarabischen Nationalismus.

Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater mehrer US-Präsidenten, wurde 1998 in einem Interview gefragt, ob dieses Setzen auf den islamischen Fundamentalismus nicht vielleicht ein Eigentor gewesen sei? Das war immerhin 5 Jahre nach dem ersten (Sprengstoff-)Anschlag auf das World Trade Center, der 6 Tote und über Tausend Verletzte forderte:

„Was denn wichtiger gewesen sei, fragte der einstige Carter-Vertraute empört zurück, »die Taleban oder der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums? Einige muslimische Hitzköpfe oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?« Die Darstellung des islamischen Fundamentalismus als weltweite Bedrohung – schon damals durchaus gängig – nannte Brzezinski 1998 schlicht »Blödsinn«.“

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die USA – in Zusammenarbeit mit anderen NATO-Staaten – einige Regierungen im arabischen Raum demontiert, die keine Anhänger des radikalen Islam waren und ihren Staat nach anderen Kriterien regiert haben, wie Saddam Hussein und Ghaddafi. Die USA und ihre Mitarbeiter haben dort religiöse Parteien installiert, wie im Irak, oder religiöse Gruppierungen unterstützt, wie in Libyen.
In Syrien wurden nach dem Ausbruch der Unruhen alle Parteien ins Recht gesetzt, die gegen das – ebenfalls säkulare – Regime von Assad waren. Manche wurden direkt vom Westen unterstützt, andere mit Billigung der USA von Katar und Saudi-Arabien.

Mit der Beibehaltung des Guantanamo-Lagers, und später mit der Hinrichtung von Osama Bin Laden 2011 wurde der islamischen Welt signalisiert: Ihr könnt machen, was ihr wollt – solange es nicht gegen die USA gerichtet ist! Die Einrichtung der Scharia – in Saudi-Arabien seit jeher üblich, im Iran seit der Revolution, in Ägypten seit Sadat – kein Problem! Mit euren Leuten könnt ihr machen, was ihr wollt. Aber unsere Interessen tastet nicht an!
Einzig mit den Schiiten ist die Sache nicht so klar, da sie alle irgendwie mit dem Iran in Verbindung stehen, oder solcher Verbindungen verdächtigt werden, und daher den USA prinzipiell unangenehm sind. Im Irak mußten sich die USA notgedrungen mit den Schiiten arrangieren, waren aber immer unzufrieden mit der Regierung, die sie installiert hatten, vor allem wegen deren Naheverhältnis zum Iran. Das ist wichtig, um die Nicht-Reaktion der USA zu begreifen, als die IS-Kämpfer im Irak vorrückten: die USA hielten sie eine Zeitlang anscheinend für ein probates Mittel, um sich der irakischen Führung zu entledigen.

Als der Bürgerkrieg in Syrien losging, war die westliche Politik und in ihrem Gefolge die Journaille einig: gegen Assad ist uns alles recht! Dies trotz der Tatsache, daß Syrien kein wirkliches Tabu des Westens gebrochen hatte, außer seinem Bündnis mit dem Iran. Sogar der Bürgerkrieg im Libanon wurde durch syrischen Einfluß beendet. Dennoch galt Syrien als ein „Regime“, dessen sich die USA entledigen wollte – koste es, was es wolle.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt des syrischen Bürgerkriegs: er wurde von Strategen der USA als eine Möglichkeit gesehen, die islamischen Fanatiker und Gotteskrieger als eine Art Magnet anzuziehen und an einem Ort zu konzentrieren. Das Schlachthaus Syrien sollte als eine Art Mistkübel dienen, in dem sich die islamischen Störenfriede gegenseitig fertigmachen, um andere Weltgegenden von ihnen zu „befreien“.
Diese Vorstellung hat sich angesichts der jüngeren Ereignisse sehr gründlich blamiert.

2. Die überflüssige Jugend

Die Europäische Union hat gerade durch den Erfolg des bei ihr versammelten Kapitals jede Menge überflüssiger Menschen produziert. Das ist ein Ergebnis dessen, wie das Kapital vorgeht: immer mehr lebendige, also von Menschen verrichtete Arbeit wird durch Maschinen – oder inzwischen durch Computer und Internet – ersetzt, weil dadurch die Gewinne der Unternehmen gesteigert werden. Das wird unter den sehr anerkannten Parolen „Produktivität“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ öffentlich gelobt und quasi heiliggesprochen. Das heißt nichts anderes als: immer mehr Menschen werden durch Maschinen oder Softwareprogramme überflüssig gemacht. Diese aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedenen werden dann als Belastung der sozialen Netze besprochen und durch Bücher wie Thilo Sarrazins Bestseller als Ballast für den Rest der „Nation“ an den Pranger gestellt.

Besonders betroffen ist durch diese Entwicklung die Jugend. Die nachwachsenden Arbeitskräfte können von dem bereits gesättigten Arbeitsmarkt nicht oder nur teilweise aufgesogen werden. Die von der Werbung hofierten „Kids“ gelten nur solange etwas, als sie zahlungsfähig sind. Mehr und mehr jungen Leuten wird von allen Seiten – Arbeitsämter, Medien, Polizei – beschieden, daß sie niemand brauchen kann und sie eigentlich nur im Weg sind. Die Jugendarbeitslosigkeit füllt diverse Studien der EU, die Politiker sehen sie als „Problem“, aber das ganze System ist so geartet, daß es für dieses Problem keine Lösung gibt. Es sind ihrer zu viele, und fertig.
Sobald sie sich mit dieser Perspektive des Elends, – gegenüber allen Propagandalügen völlig unabhängig von ihrer Ausbildung – nicht abfinden und entweder kriminell oder aufmüpfig werden, sehen sie sich der geballten Macht des Staates gegenüber, der über die Eigentumsordnung wacht.

Die Ermordung Carlo Giulianis 2001 war der Auftakt zu einer von den Medien abgesegneten und seither flächendeckend praktizierten Umgangsform mit Armut und Protest der Jugendlichen. Die Aufstände in der Banlieue 2005, die Unruhen in Großbritannien 2011, das Vorgehen gegen die „Empörten“ in Spanien 2011/2012 – all das hat aller Welt, vor allem aber den Betroffenen, vor Augen geführt, daß sie nichts gelten, ihre Anliegen nichtig sind, und daß sie dafür verhaftet, verprügelt, eingesperrt oder auch umgebracht werden können, ohne daß unser feines System von Freedom and Democracy dagegen irgendeine Handhabe bieten würde.

Daraus haben einige den Schluß gezogen, daß es besser ist, in den syrischen Bürgerkrieg zu ziehen. Er bietet einiges: Von Nullitäten, die nichts zu melden haben und Ohnmächtigen, die der Behördenwillkür ausgeliefert sind, können sie sich zu Herren über Leben und Tod verwandeln. Sie können andere Leben auslöschen und sich dadurch zu Mächtigen stilisieren. Aus dem unbedeutenden Omar X. in der französischen Banlieue oder dem Ramiz Y. aus einem Londoner Vorort wird so ein Henker, ein „Macher“, ein Vollstrecker.

Der syrische Dschihad bedient so ein sehr bürgerliches Bedürfnis, das nach Anerkennung: ein unbedeutender Mensch, der nichts hat und nichts kann, verschafft sich über Mord und Totschlag diejenige Stellung, die ihm die normale bürgerliche Gesellschaft verweigert hat, und wird zu einem Richter über Gut und Böse, und über die Berufung auf den einen und wahren Herrn zu einem Pantokrator, dem Richter über das Weltgeschehen.

3. Die Entwicklung in der muslimischen Welt

Die Vertreter des Islam begreifen ihre Religion als die Vollendung allen Glaubens, als die einzige monotheistische Religion der Welt. „Islam“ bedeutet Unterwerfung, Hingabe gegenüber dem einzigen und allmächtigen Gott. Alle anderen Religionen sind gegenüber dieser Vollendung inferior – entweder, sie sind Vorstufen des Islam, wie die Christen und Juden, oder sie sind Leugner derselben und deswegen zu vernichten. So steht es im Koran.
Da der Islam die höchste Stufe des Glaubens ist, so ist es ein Privileg, in diesen Glauben hinein geboren zu sein. Aus dem Islam gibt es keinen Austritt. Wer seine höhere Berufung verleugnet, fällt dem Gericht anheim. Wird er gefaßt, so ist er hinzurichten. Auf jeden Fall ist er vogelfrei, jeder kann ihn umlegen. (Ähnliches gab es im christlichen Glauben, wenn jemand von Papst in Acht und Bann getan wurde.)

Für den sunnitischen Islam gilt die Schia seit jeher als Häresie. Die Schiiten lehnen das Kalifat ab – es ist für sie eine unrechtmäßige Besetzung des höchsten Thrones des Islam. Sie warten auf den Erlöser – den Mahdi –, der den wahren Islam für alle einrichtet.

Das war alles nicht so tragisch, solange in den meisten muslimischen Staaten Regierungen an der Macht waren, die die Religion zu einer Privatsache erklärten, oder eine eigenständige Interpretation des Koran zum allgemeingültigen Dogma erhoben – wie Ghaddafi im Grünen Buch.

1970 erschien das Buch „Der islamische Staat“, in dem die Predigten Chomeinis in Nadschaf zusammengefaßt waren. Darin wird die Aufhebung der Trennung zwischen Staat und Kirche und die Wiedereinführung des islamischen Rechtes gefordert – nicht nur für den Iran. Chomeinis Ansicht war, daß der Islam nur in Form eines Gottesstaates existieren könne. Alles andere sei Verrat an den islamischen Glaubensprinzipien.

Die islamische Revolution 1979 und die Umsetzung von Chomeinis Vorstellungen im Iran setzten die saudische Führung unter Druck. Es konnte doch nicht sein, daß diese Ketzer auf der anderen Seite des Golfs sich päpstlicher als der Papst gaben und zu einer Art Vorbild für die islamische Welt machten! Also wurde betont, daß auch in Saudi-Arabien Kirche und Staat vereint seien, die Rechtssprechung verschärft, der Königswürde der Titel „Hüter der Heiligen Stätten“ hinzugefügt und ein Stiftungsprogramm für Koranschulen im Ausland aufgelegt, das durch seine Erfolge in Pakistan der Weltöffentlichkeit bekannt wurde: dort wurden die Taliban „erschaffen“.
Ab 1979 kamen mehrere Dinge zusammen, die eine militante Auslegung der islamischen Glaubenslehre begünstigten: Die als Fatwa erlassene Aufforderung an alle Muslime, sich am Dschihad gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans zu beteiligen, der Sieg der iranischen Revolution und auch die Besetzung der großen Moschee in Mekka, die mit über 300 Toten endete. Warum eigentlich nur gegen die sowjetische Besatzung eines Landes kämpfen? Was machen eigentlich diese ganzen Ausländer hier, die unsere Sitten verderben, unsere traditionelle Ökonomie ruinieren, ihre Frauen in aufreizender Weise zur Schau stellen, Alkohol und Prostitution einschleppen, usw. usf.? Eine Art Wettbewerb der militanten Moralwachteln ging los, einander an Orthodoxie und Militanz zu übertreffen.

Das Rennen um das Primat der Dschihadisten machte schließlich Al Kaida. Erstens waren ihre Anschläge nach dem Prinzip „Nicht kleckern, klotzen!“ ungleich wirkungsvoller als die der Konkurrenz. Außerdem brachte Ayman Al-Zawahiris Auslegung des Selbstmordattentats als legitimem Mittel des Dschihads so richtig Leben in die Bude, und eröffnete neue Formen des Terrors. Dazu kam die Entwicklung des Internets, das es Sinnsuchern auf dem ganzen Globus ermöglichte, in den Genuß ihrer Ergüsse, Predigten und Koraninterpretationen zu kommen. Der Dschihad erfaßte die ganze Welt.

Es war eine sehr dümmliche, Wildwestfilmen entlehnte Vorstellung der US-Politiker, durch die Beseitigung Bin Ladens diesen Prozeß in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Ein Hydra-Effekt trat ein: für den einen abgeschlagenen Kopf wuchsen unzählige andere, die den seligen Osama noch übertreffen wollen. So beantworten sich die neuen Gotteskrieger die Frage: Warum ist der Islam so schwach und kann dem verderblichen Einfluß der Ungläubigen nicht widerstehen? damit, daß sie jede Menge innere Feinde ausfindig machen: lauwarme Muslime, die ihren Glauben verraten, und andere Konfessionen, die sich wie Maden im Speck in der muslimischen Welt eingehaust haben und ständig als Kollaborateure der westlichen Mächte betätigen. Die Dschihadisten wurden zu Takfiren und beschlossen eine gründliche Säuberung aller Territorien, in denen sie sich breit gemacht hatten – mit demonstrativen öffentlichen Hinrichtungen, damit die Botschaft auch bei allen ankommt.

Als Ayman Al-Zawahiri voriges Jahr in einer Erklärung alle Gotteskrieger aufforderte, die Selbstzerfleischung aufzugeben und ihren Kampf auf die „Kreuzzügler gegen den Islam“, also den westlichen Imperialismus zu richten, war er bei seinem Zielpublikum durchgefallen. Was bildet sich der ein?! Und die Protagonisten des Islamischen Staates sagten sich von Al Kaida los und definierten ihr eigenes Programm:

Islamischer Staat – ja, das ist eine Sache. Aber dieser Staat hat jetzt keine Grenzen mehr und ist nicht auf irgendein Territorium beschränkt. Das Kalifat wird wieder errichtet, und die Weltherrschaft wird angestrebt. Islam für alle! Das ist das Ziel der aktuellen Dschihadisten.

Es wird schwer sein, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen.
– Der Kapitalismus und die Klassengesellschaft, die immer mehr Leute aussortieren und ihnen ihre Nutzlosigkeit auch noch als persönlichen Makel vorwerfen,
– das staatsbürgerlich-untertänige Bewußtsein, das alle Unzufriedenheit in Rechtskategorien einsortiert und nach Schuldigen sucht, die sich natürlich auch immer finden,
– und der höhere Sinn, den so eine Religion in schweren Zeiten stiftet
– all das arbeitet dieser Art von Idiotie in die Hände.

Freihandelsabkommen und Sanktionen

HANDELSKRIEG
Der Fall des Eisernen Vorhanges hat die ganze Welt in einen einzigen großen Markt verwandelt, auf dem sich das Kapital aller Nationen relativ unbehindert tummeln konnte. Die einzige Beschränkung, mit der es umgehen mußte, war die der Zahlungsfähigkeit. Mit Hilfe des IWF, seiner Standy-By-Kredite und der Einrichtung von Börsen in den sozialistischen Staaten wurde Konvertibilität eingeführt und somit sichergestellt, daß die auf diesem globalen Markt gemachten Gewinne in Gelder transferiert werden konnten, die den Status von Weltgeld genossen. Das heißt, daß die Besitzer dieser Währungen jederzeit in jedem Land der Welt Geschäfte machen konnten.
Es sah gut aus für die Heimatländer des Kapitals: sie hatten große Konzerne, sie hatten den Kredit und konnten den anderen ihre Bedingungen diktieren, zum Wohle des bei ihnen zu Hause versammelten Kapitals.
Zwei Dinge gefährden inzwischen dieses Gewinnspiel der westlichen (und auch östlichen, im Falle Japans) imperialistischen Mächte: erstens hat das Verfahren, durch Kredit Zahlungsfähigkeit zu schaffen, mit der Finanzkrise einen Dämpfer erhalten, den es bisher nicht abschütteln konnte. Zweitens sind ihnen auf einmal Konkurrenten erwachsen, die sich am globalen Markt ebenso umtun und dabei durchaus Erfolge verbuchen können.
Freihandel
Da die Herstellung von Zahlungsfähigkeit durch Kredit jetzt nicht mehr so einfach funktioniert und der globale Markt sich kontrahiert, versuchen jetzt die Staaten, sich Märkte zu sichern oder zu erweitern. Eine Methode dazu ist das Abschließen von Freihandelsabkommen. Viele solche Abkommen sind in Verhandlung: Sie sollen Handelshindernisse abbauen und der jeweiligen anderen Seite schrankenlosen Zugang zum eigenen Markt ermöglichen. Die Zweischneidigkeit dieser Art von Abkommen liegt auf der Hand: man riskiert, den einheimischen Markt zu verlieren, während sich das eigene Kapital anschickt, den jeweils anderen zu erobern.
Die Freihandelsabkommen haben aber noch eine zweite Front: man gewährt seinem Partner, also den Unternehmen desjenigen Staates, mit dem man ein solches Abkommen geschlossen hat, schrankenlosen Zugang zum eigenen Markt, behält die Schranken gegenüber Drittstaaten jedoch bei. Der Bevorzugung der einen Nation entspricht die Benachteiligung anderer. Und das könnte den eigenen Unternehmen den Zugang zum Markt dieser Drittstaaten verwehren. Würde also die EU tatsächlich das TIPP mit den USA unterzeichnen, und China dadurch Handelshemmnisse in den Weg legen, so riskiert sie damit Einbußen auf dem chinesischen Markt, da ja niemand China davon abhält, seinerseits ebenso Hindernisse für europäische Produkte einzuführen.
Sanktionen
Ein anderes Mittel zur Markteroberung ist das Einführen von Sanktionen. Sie sind das Umgekehrte der Freihandelsabkommen: einem anderen Staat soll durch Sanktionen Markt entzogen werden. Bestimmte Güter werden nicht mehr von dort importiert, und die Erzeugung anderer soll durch Exportverbote behindert oder verunmöglicht werden. So sollen Rußland die Energieexporte erschwert werden, indem der Export von Technologien für Energiegewinnung und -transport untersagt wird. Auch hier waren reziproke Maßnahmen zu erwarten. Rußland ist schließlich keine Bananenrepublik, die vom Export eines einzigen Gutes abhängig ist, sondern hat die Möglichkeit, seinen Markt auch für bestimmte Güter zu sperren.
Die Sanktionen treffen also die EU doppelt: einerseits durch den direkten Exportstopp von Gütern, die unter die von der EU verhängten Sanktionen fallen. Zweitens durch den Verlust von Marktanteilen, der durch Rußlands Gegenmaßnahmen verursacht wird.
Infragestellen des Weltgeldes
Die Konkurrenten der „alten“ kapitalistischen Nationen haben sich vor ein paar Jahren zusammengeschlossen. Die Fragwürdigkeit der bisherigen Weltgelder (US-Verschuldungsdebatte, Euroschuldenkrise, Yen-Abwertung) und die sich verschärfende Konkurrenz um die Märkte hat die BRICS dazu bewogen, ein eigenes Verrechnungswesen für den Handelsverkehr untereinander einzuführen, anstatt wie bisher den Umweg über Dollar, Yen und Euro zu machen. Das ist ein ziemlicher Angriff auf das gesamte imperialistische Gefüge: mit jeder Tonne Öl oder Bananen, die nur mehr nach einem Rubel–Peso-Kurs abgerechnet wird, verlieren die Weltwährungen an Gewicht.
Die BRICS werden in den deutschsprachigen Medien oft herabmindernd als „Schwellenländer“ bezeichnet – sie würden gern, schaffens aber nicht, über die Schwelle zu kommen. Ihre Integrationstätigkeit wird heruntergespielt, der Tonfall in den Medien ist abschätzig. Sie nehmen sich etwas vor, was gar nicht geht, weil die Chefs sind doch wir, und uns können die doch letztlich nicht das Wasser reichen … Der Angriff auf das Weltgeld, den ihre Tätigkeit darstellt, wird aber wohl wahrgenommen, und nach Möglichkeiten gesucht, dies zu unterbinden.
Die EU in der Zwickmühle
Relativ geräuschlos verhandelt die EU seit einiger Zeit ein Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Ländern. Sie möchte damit auch dort einen Fuß in die Tür kriegen und der US-Freihandelszone NAFTA und dem Projekt FTAA Konkurrenz machen. Im Frühjahr war Optimismus angesagt:
„Argentinien soll seine Blockadehaltung aufgegeben haben und inzwischen größere Bereitschaft für den Zollabbau an den Tag legen.“ (http://www.agrarheute.com/eu-mercosur-freihandel-argentinien)
Argentinien braucht nämlich die Zolleinnahmen noch weitaus dringender als andere Länder, da es international keinen Kredit hat und sich daher aus der eigenen Ökonomie finanzieren muß. Noch weniger Begeisterung für das Abkommen zeigte Venezuela. Von den Mercosur-Mitgliedern hatte vor allem Brasilien Interesse an diesem Abkommen. Und so schleppten sich die Verhandlungen dahin.
Und jetzt die Rußland-Sanktionen gegen die EU! Die EU verliert einen Markt für Agrarprodukte. Und diese miesen Russen wollen die ausgesperrten Produkte Europas aus Lateinamerika beziehen, wo diverse Agrarproduzenten schon ganz euphorisch über die Perspektiven sind, die ihnen der russische Markt bietet.
Bei der EU hingegen gibts lange Gesichter. Sie möchten protestieren und ihr Mißfallen darüber ausdrücken, daß – ja was eigentlich? Die lateinamerikanischen Staaten dorthin exportieren, wo sie Abnehmer finden! Jetzt wollten sie ihnen gerade einräumen, mehr in die EU exportieren zu dürfen – und jetzt brauchen die Lateinamerikaner diesen Markt gar nicht mehr so nötig! Der Präsident von Brasiliens Fleischproduzenten-Verband z.B. verkündet strahlend, daß Brasilien den gesamten russischen Geflügelbedarf abdecken kann.
Die BRICS-Abrechnungs-Methode wird mehr Volumen gewinnen, und die EU hat gar keine Möglichkeit, irgendeinen Druck auszuüben. Jede Maßnahme, die sie gegen lateinamerikanische Staaten setzen könnte, würde ihr dort weitere Marktanteile entziehen.
Schon liest man, daß für Deutschlands Wachstum das Schlimmste befürchtet wird …

Der Argentinien-Krimi, neueste Folge

DER COUNTDOWN LÄUFT

„Es sind noch 23 Tage bis zu dem Zeitpunkt, an dem Argentinien die Zahlungen auf Schuldtitel einstellen könnte/müßte, die nach US- und europäischem Recht ausgegeben wurden.“ (El País, 11.7.)

Das ist die Frist, innerhalb Argentinien seine Schuld bei dem 1% der Gläubiger bezahlen müßte, die vor dem US-Gericht Recht auf die volle Auszahlung der Nominale plus Zinsen der von ihnen gehaltenen argentinischen Schuldtitel erhalten haben. Diese Gläubiger sind dadurch zu Erstgläubigern geworden, ihre Forderungen genießen damit Priorität gegenüber allen anderen. Die ihnen geschuldete Summe beträgt 1,3 Milliarden Dollar. Solange Argentinien diese 1,3 Milliarden nicht bezahlt, können diese Gläubiger alle Vermögenswerte Argentiniens pfänden. Das läßt sich international nicht so leicht durchsetzen, wie die bisherigen Versuche zeigen, dem argentinischen Staat gehörende Flugzeuge oder Schiffe zu beschlagnahmen.

Die bisherigen Vergleiche der argentinischen Regierung mit denjenigen 93 % der Gläubiger, die der Umschuldung zugestimmt haben, haben jedoch als Auszahlungsort die USA, wodurch auch die letzte Tranche der Schuldentilgung, die Argentinien überwiesen hat, vom Gericht beschlagnahmt worden ist. Argentinien kann also seine Schuld bei diesen 93% der Gläubiger nicht abzahlen, solange die 1% bei den Geierfonds – im weiteren der Einfachheit halber GF – nicht bezahlt sind.
Auch das herablassend-großzügige Angebot, das die GF Argentinien gemacht haben – die argentinische Regierung könnte einen Teil dieser Schuld in Staatsanleihen bezahlen – ändert am prinzipiellen Hammer dieser Schuldforderung nichts: Würde Argentinien diese 1,3 Milliarden auszahlen, so würden weitere 15 Milliarden von den restlichen 6% der Gläubiger eingeklagt werden, die den seinerzeitigen Vergleichen nicht zugestimmt haben und ebenfalls die volle Auszahlung der Schuld fordern. Und damit wären auch die Umschuldungen mit den restlichen 93 % der Gläubiger hinfällig und die ihnen gegenüber inzwischen auf 120 Milliarden angewachsene Schuld Argentiniens wäre wieder gültig.

Mit der Auszahlung der 1,3 Milliarden würde Argentinien also eine Schuld von 136,3 Milliarden Dollar anerkennen.
Wenn Argentinien nicht zahlt und dadurch wiederum bankrott ist, würde das die – sehr eingeschränkte, aber doch gegebene – Konvertibilität des Peso beenden. Alles ausländische Kapital, sofern flüssig, würde Argentinien sofort verlassen. Die Reserven der argentinischen Nationalbank sind viel zu gering, um durch Interventionskäufe einen solchen Vertrauensverlust aufzufangen. Damit wäre der ganze Außenhandel dieses – nach rund 20 Jahren IWF-Partnerschaft ziemlich desindustrialisierten – Landes gefährdet: Argentinien könnte nur mehr auf Tauschbasis importieren. Vor allem die Energieversorgung wäre gefährdet.

In ein paar Tagen wird in Brasilien über die Aufnahme Argentinien in die BRICS, die Errichtung einer Entwicklungsbank und eines Währungsfonds entschieden.

An der Behandlung Argentiniens wird weltweit viel Kritik laut, die sich beinahe ausnahmslos auf das Prinzip der Souveränität beruft und im Urteil des amerikanischen Gerichts eine Verletzung desselben erkennt. Das Ideal der Gemeinschaft gleichberechtigter Nationen wird gegen die Wirklichkeit der imperialistischen Weltordnung gekehrt.
Interessanterweise gab es seinerzeit keine Kritik von Menschen- und Völkerrechts-Anhängern, als Argentinien die Dollarparität mit dem IWF vereinbarte und Staatsanleihen mit Gerichtsstand USA auf den Weltbörsen ausgab. Das liegt zum einen an der geänderten Weltlage, aber zum anderen eben daran, daß in einem solchen Schritt niemand die Verletzung des Souveränitätsprinzips erkannte, die ihm innewohnte.

Ein Beispiel für diese Art von untertäniger Kritik, die sich sehr anklägerisch und rechtsbewußt gibt, liefert die argentinische Menschenrechts-Ikone Adolfo Pérez Esquivel:

„Es ist notwendig, das Gesetz anzuwenden, aber immer auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen »rechtlich« und »rechtmäßig«, zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, und anzuerkennen, daß dem Recht“ (welchem?) „zufolge die Binnenschuld gegenüber dem Volk Priorität hat: der Kampf gegen den Hunger, die Armut und die Ausgrenzung großer Sektoren der Bevölkerung.“ (El País, 11.7.)

Nun ja. Dafür hat er ja auch den Nobelpreis bekommen: für seine Fähigkeit, luftige und durch nichts gedeckte Rechtstitel aus dem Ärmel zu ziehen und unters Volk zu schleudern – und damit den Glauben an die prinzipielle Güte der Weltordnung in „großen Sektoren der Bevölkerung“ aufrecht zu erhalten.