IMPERIALISTISCHE KONKURRENZ 2010
Unter den Vorschlägen des G 20-Gipfels zur „Bewältigung“ der angeblichen Wirtschafts- und Währungsprobleme gehörte auch derjenige der USA, die Handelsbilanzüberschüsse auf 4% des BIP zu begrenzen. Dieser Vorschlag stieß, was man so liest, auf taube Ohren.
Das erste, was einem dazu einfällt, ist: Warum sollte irgendein Staat, also auch die USA selbst, daran interessiert sein, Handelsbilanzüberschüsse, also Exporterfolge, zu beschränken?
Die Handelsbilanz mißt, was an Waren aus einem Land hinausgewandert, also auf auswärtigen Märkten erfolgreich abgesetzt worden ist; und was an Waren einmarschiert ist, wodurch sich fremde Warenbesitzer an der inländischen Kaufkraft bereichert haben.
Wenn diese Bilanz zugunsten des Exports ausschlägt, so ist das den verantwortungsbewußten Politikern sehr recht und angenehm: Es heißt nämlich, daß ihre Geschäftsleute erfolgreich waren und Reichtum an sich gezogen haben, und zwar nicht nur auf dem eigenen Hoheitsgebiet und in dem dort gültigen allgemeinen Kauf- und Zahlungsmittel, sondern auch im Ausland, und in international gültiger Währung, also in Weltgeld.
Ist die Handelsbilanz hingegen negativ, so stellt sich in den meisten Fällen Unzufriedenheit, mitunter sogar Panik ein: Es heißt nämlich, daß die eigene Nation mehr konsumiert als sie verbraucht, daß das eigene Kapital schwächer ist als ausländische Unternehmen, und dieser Umstand bedroht womöglich sogar die Zahlungsfähigkeit und Substanz dieses Staates.
Es gibt allerdings noch eine Zahlungsbilanz, die manche der negativen Seiten der Handelsbilanz wieder aufhebt. In ihr wird nämlich gemessen, was für Geldmengen sonst noch bei den Grenzen aus- und einspazieren: Dazu gehören z.B. Transfer-Überweisungen von Gastarbeitern, Einkünfte aus dem Tourismus, und der Kapitalexport.
Die USA haben seit den 70-er Jahren durchgehend eine negative Handelsbilanz, aber eine positive Zahlungsbilanz, weil ihr Kapital sich erfolgreich überall auf der Welt tummelt. Außerdem verfügen sie über ein Geld, das jeder gerne nimmt, das Weltgeld schlechthin, und besitzen dadurch eine praktisch unbegrenzte Verschuldungsfähigkeit. Deswegen hat ihr Handelsbilanzdefizit sie bisher nicht allzusehr gestört.
Jetzt wollen sie auf einmal, daß ihre Konkurrenten ihre Exporte drosseln und mehr amerikanische Waren, also solche, die nicht nur von amerikanischen Firmen, sondern dezidiert in Amerika hergestellt werden, kaufen.
Dabei verlangen sie von den Nationen, die ihrer Ansicht nach zu viel exportieren, nicht weniger, als daß sie ihre Exportsubventionen kürzen, ihre Wirtschaftsförderungsmaßnahmen zurückfahren (im Falle Chinas: ihre Exporte durch Aufwertung ihrer Währung verteuern,) und überhaupt, ihr eigenes nationales Kapital schwächen.
Während Streite um die Handelsbilanz in den 90-er Jahren über Quoten (Stichwort Bananen-Streit) und die WTO ausgetragen wurden, so ist die heutige Politik der USA da weiter – nicht äußere Beschränkungen, durch einen imperialistischen Konkurrenten auferlegt, kein Protektionismus ist mehr angesagt – nein, die Gegner sollen sich selbst, aus eigener Einsicht, zurücknehmen und ihre Kapitalisten beschränken.
Das ist ein sehr unbescheidener Anspruch, der jedoch einer Weltmacht würdig ist, die eben durchsetzen möchte, daß alle anderen nach ihrer Pfeife tanzen.
Zu diesem Schritt will sie ihre Kontrahenten – vor allem sind damit China und Deutschland gemeint – nicht durch einen Krieg, also durch überlegene Waffengewalt zwingen, wie sie sie gegenüber etwas kleiner dimensionierten Widerstandsnestern einsetzt, sondern durch die andere Waffe, über die die USA verfügen: den Dollar.
Während den meisten anderen Staaten der Welt eine Abwertung ihrer Währung unangenehm ist, und sie durch Stützungskäufe zu verhindern suchen, nehmen die USA dieselbe auch schon seit geraumer Zeit gelassen hin: Durch die Abwertung des $ gegenüber den anderen Referenzwährungen verringert sich die Auslandsschuld der USA, ohne daß sie dadurch an Verschuldungsfähigkeit einbüßt. Die Ereignisse dieses Jahres – erst die Euro-Krise im Frühjahr, dann die etwas heftige Reaktion der Geldhändler auf die Erhöhung der Leitzinssätze in China – haben gezeigt, daß bei jeder Verunsicherung der internationalen Finanzwelt der $ nach wie vor als sicherer Hafen gilt, ungeachtet seines Wertverlustes und der Kassandrarufe aller möglichen Experten.
Als Frau Merkel vor einiger Zeit meinte, der Dollar sei überschätzt, so meinte sie damit, man sollte die Stellung des Dollars als Weltgeld überdenken, also an seiner Qualität herumdenken. Jetzt, wo er schwächelt, ist es ihr auch wieder nicht recht.
Die Entscheidung der USA-Führung, gegen den Strom aller IWF und Maastricht-Weisheiten ihre Wirtschaft durch Geldspritzen zu beleben und damit zu demonstrieren, daß die USA solche kleinlichen Sparmaßnahmen nicht nötig haben, ist für sich schon selbst eine Provokation, die den anderen unmißverständlich vor Augen führt, daß sie immer noch hinter den USA rangieren, trotz „größter Markt“, „Exportweltmeister“ usw. Noch ärgerlicher jedoch sind die Folgen, nämlich der Wertverlust des $, und die vorgeführte Fähigkeit der USA, die Unkosten ihrer Wirtschafts- (und Kriegs!-)Politik auf die restliche Welt abzuwälzen.
Kategorie: Recht und Gewalt
Staat und Revolution, Teil 12
Seinen Vorstellungen, anstatt sie zu begründen, stellt Lenin spöttisch die Gegenposition gegenüber:
„Vom bürgerlichen Standpunkt aus ist es leicht, eine solche Gesellschaftsstruktur als “reine Utopie” hinzustellen und darüber zu spotten, daß die Sozialisten jedem das Recht zusichern, von der Gesellschaft ohne jegliche Kontrolle über die Arbeitsleistung des einzelnen Bürgers eine beliebige Menge Trüffeln, Autos, Klaviere u. dgl. m. zu erhalten.“ (111)
Na klar, Klaviere und Trüffeln sind schwer massendeckend herzustellen. Wer will die auch schon? Das Auto ist hingegen heute eine conditio sine qua non, eine Grundbedingung für die Verfügbarkeit des lohnabhängigen Menschen, und keineswegs ein Grundbedürfnis, das jedem zukommt. Kommunismus heißt demzufolge nicht, daß jedem jeder Schmarrn zugestanden wird, von dem ein heutiger, bürgerlicher Mensch meint, das sei das non plus ultra des Konsums oder Luxus.
Lenin argumentiert hier gegen Bedürfnisse, die unnötig, oder unwichtig sind, und meint darüber bürgerliche Argumente entkräftet zu haben. Aber was wichtiger ist: Er macht damit einen Unterschied auf zwischen „richtigen“ Bedürfnissen und „anderen“ Bedürfnissen. Er sagt: Es gibt doch Bedürfnisse, die sind absurd, und andere, die sind berechtigt. Und wir – wir!, die Bolschewiki, – kümmern uns einmal um die „richtigen“ Bedürfnisse, und buchstabieren dem Rest der Menschheit diese vor. Also: Nicht die Leute selber bestimmen, was sie wollen (da kämen Klaviere vermutlich nicht an erster Stelle), sondern wir machen einmal eine Zusammenstellung, was wichtig ist. Und dann verpflichten wir das p.t. Publikum auf das, was sie zu wollen haben.
Lenin macht einige Erläuterungen über Irrwege des revolutionären Gedankens – wie die der Unterstützung des I. Weltkrieges durch prominente Anarchisten, – und hebt zur Überwindung des Kapitalismus in den Kommunismus, samt Übergangsphase, die Marx’sche Dialektik in den Himmel.
Hier zeigt sich, warum die Dialektik als Methode in der sowjetischen Theorienbildung so populär geworden ist. Immer, wenn der Verstand auf einen Widerspruch stößt, auf eine Absurdität des bürgerlichen Denkens, so wird die Angelegenheit elegant mit dem Verweis auf „Dialektik“ erledigt: . Es zahlt sich aus, hier ein wenig zu verweilen, und Lenins Position als „Theoretiker“ des „marxistischen Denkens“ zu würdigen. Er hat nämlich hier – und auch anderswo – die „Dialektik“ als eine marxistische Denkweise eingeführt. Und das heißt nicht mehr und nicht weniger als: Wenn der Verstand auf einen logischen Widerspruch stößt, so ist dieser nicht als Widerspruch festzuhalten, und aufzulösen, sondern als solcher stehenzulassen. Damit ist eine Denkvorschrift erlassen, und diese wird zu Wissenschaft definiert: Wenn wir auf einen Widerspruch stoßen, und der stört uns, so sagen wir einfach: das ist „dialektisch“, hier wollen wir nicht weiter nachdenken, wir wollen beide Seiten des Widerspruchs stehenlassen. Wer dagegen argumentiert, und den Widerspruch aufheben will, der ist nicht „marxistisch“, sondern „bürgerlich“, und dessen Einwände lassen wir nicht gelten.
„Dialektik“ wird also hier in dieser Schrift als 1. eine marxistische Methode, die von da ab ein greatest Hit der „marxistisch-leninistischen“ „Theorie“ geworden ist, und 2. als ein Trick, Widersprüchen aus dem Weg zu gehen, eingeführt.
So leitet Lenin über zu dem von ihm angestrebten „Gemeinwesen“:
„So ergibt sich, daß im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“ (114)
Also: weil die gesellschaftliche Umgestaltung nicht „auf einen Schlag“ geht, die Leute dumm sind, und überhaupt man alles dialektisch betrachten muß – deshalb hat die Partei das Recht, mit ihren Bürgern das zu machen, was sie will. So wurden auch in der SU Strafgesetzbücher erlassen, die Ehe eingerichtet, Homosexuelle verfolgt, usw.
Staat und Revolution, Teil 10
Für den „Übergang“, der für Lenin anstand, bringt er auch einige Vorschläge. Er fragt sich: Wie steht die Diktatur zur Demokratie?
Zwei Floskeln werden hier einander gegenübergestellt, zwei Formen dessen, wie angeblich Staat gemacht gehört. Es ist hier vielleicht angebracht, wieder einmal an den Disput Lenins mit Kautsky zu erinnern, zur Frage „Diktatur oder Demokratie?“, und es ging um die Frage, wie im künftigen proletarischen Staat regiert werden sollte: per Dekret oder durch Wahl? Beides sehr verkehrt, wenn es um die Ermittlung richtiger Inhalte geht. Die werden nämlich durch Streit und Debatte ermittelt, und weder durch Händchen hochhalten, noch durch Verordnung.
Also, der Streit um Diktatur oder Demokratie war schon von vornherein daneben, weil es dabei darum ging, wer entscheiden darf, und nicht darum, was entschieden wird. Demokratie wurde als eine Methode der Entscheidungsfindung eingeführt, bzw. verworfen. Es war auch eigenartig, daß Kategorien staatlicher Gewalt für die Handlungen einer Partei herangezogen wurden, deren Mitglieder sich zumindest als Kritiker bürgerlicher Herrschaft verstanden.
Lenin macht sich nun daran, die bürgerliche Demokratie schlecht zu machen, und zwar vom nicht ausgesprochenen, sondern stillschweigend unterstellten Standpunkt aus, daß die „wirkliche“ oder „verwirklichte“ Demokratie eine feine Sache wäre. Aber davon kann eben in der Klassengesellschaft keine Rede sein! Die Frauen dürfen nicht wählen, der Organisationsgrad der sozialdemokratischen Partei ist niedrig, usw. Also, die vorhandene Demokratie, selbst in den entwickeltsten kapitalistischen Staaten, ist sowieso eine Augenauswischerei.
Was folgt daraus? Also, lassen wir diese Demokratie doch bleiben!? Nein, keineswegs! Wir sind ja sooo für die Demokratie, auch wenn wir mit unorthodoxen Mitteln dort hin gelangen! Die Diktatur des Proletariats ist nämlich eigentlich die Verwirklichung der „Demokratie für die Armen“, für die bisher Ausgeschlossenen:
„Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d.h. ihr Ausschluß von der Demokratie – diese Modifizierung erfährt die Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus.“ (S. 102)
Aber, leider, wegen der Umstände, ist der Übergang etwas gewalttätig:
„Beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ist die Unterdrückung noch notwendig, aber es ist das bereits eine Unterdrückung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Ausgebeuteten. Ein besonderer Apparat, eine besondere Maschine zur Unterdrückung, ein “Staat” ist noch notwendig, aber es ist das bereits ein Übergangsstaat, kein Staat im eigentlichen Sinne mehr, denn die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohnsklaven von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache, daß sie viel weniger Blut kosten wird als die Unterdrückung von Aufständen der Sklaven, Leibeigenen und Lohnarbeiter, daß sie der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird. Und sie ist vereinbar mit der Ausdehnung der Demokratie auf eine so überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, daß die Notwendigkeit einer besonderen Maschine zur Unterdrückung zu schwinden beginnt.“ (S. 104)
Es ist halt so eine Sache mit Mehrheit und Minderheit, und ebenso mit der „Unterdrückung“. Weder hat die Mehrheit unbedingt recht noch die Minderheit unbedingt unrecht.
Da die durch die Revolution entmachteten „Ausbeuter“ (vermutlich Grundherren, Unternehmer und Kaufleute?) zwar eine Minderheit waren, die Lohnsklaven von gestern auch, die jedoch schon längst nicht mehr „Leibeigenen“, sondern durch das „Dekret über das Land“ (8.11. 1917) zu Eigentümern erklärten Bauern die Mehrheit des „Volkes“ darstellten, richtete sich in der Folge all das, was als „Diktatur des Proletariats“ besprochen und für richtig und unumstößlich erklärt worden war, auch gegen diese.
Vielleicht noch eine Bemerkung zu dem immer wiederkehrenden Dementi Lenins, er bzw. die Bolschewiki, seien keine „Utopisten“(105) oder Träumer – mit dem dann immer auf die Gewalt hingewiesen wird, die notwendig ist, um Sozialismus/Kommunismus/Diktatur des Proletariats usw. zu machen.
Abgesehen davon, welche Maßnahmen damit begründet werden sollen – was ist in dem Vorwurf enthalten, jemand sei ein Utopist oder Träumer? Jede Revolutionär ist notwendig Utopist, denn er will einen Zustand herstellen, den es noch nicht gibt. Und Träumer, – ein seltsamer Einwand gegen politische Kontrahenten. Als ob sie irgendwelche Dichterlinge wären, die sich in die falsche Abteilung verirrt haben.
Gemeinsam ist beiden Benamsungen, daß sie an anderen Personen mangelnde Fähigkeiten entdecken, und gar keinen konkreten Einwand zum Gegenstand haben.
Aber man kennt doch die gleichen Vorwürfe heute aus der demokratisch-parlamentarischen Diskussion: Fundis und Realos, man muß das „Machbare“ angehen, solche Forderungen seien „sinnlos“, weil nicht „durchsetzbar“ – sie gehören zum völlig üblichen Instrumentarium des demokratischen Kampfes um die Macht.
Mit seiner Vorstellung dessen, wie Kommunismus bzw. Sozialismus in einer Gesellschaft nach der Revolution, also nach der Aufhebung des Privateigentums zu funktionieren habe, beruft sich Lenin wieder auf die Ausführungen von Marx:
„Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum einzelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft leistet einen gewissen Teil gesellschaftlich notwendiger Arbeit und erhält von der Gesellschaft einen Schein darüber, daß es ein gewisses Quantum an Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein erhält es ein gewisses Quantum Produkte aus den gesellschaftlichen Vorräten an Konsumtionsmitteln. Nach Abzug des Arbeitsquantums, das für die gemeinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, wie er ihr gegeben hat.“ (S. 106-107)
Es würde jetzt zu weit gehen, den Abschnitt aus der „Kritik des Gothaer Programms“, auf den Lenin sich bezieht, einer eigenen Kritik zu unterziehen. Nur soviel, daß er ein wenig an die Proudhon’sche Tauschbank erinnert, von der Marx ja gar nichts gehalten hat, und dieses System der Bezugsscheine durch verschiedene Maßnahmen ergänzt werden muß, um grobe Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Dafür braucht man natürlich dann Behörden und Maßnahmen und jemanden, der festlegt, was gerecht ist.
Dagegen ein Zitat aus Kropotkins „Eroberung des Brotes“, gegen die anarchistischen Kollektivisten:
„Die Kollektivisten beginnen mit der Verkündigung eines revolutionären Prinzips – der Aufhebung des Privateigentums – und verleugnen es im Augenblick, in dem sie es aussprechen, indem sie eine Organisation der Produktion und des Konsums aufrechterhalten, die sich auf Grundlage des Privateigentums entwickelt hat.“ (Kap. 13, Die kollektivistische Entlohnung, II.)
Man könnte sich, wenn man so etwas vorhat, so meinte Kropotkin 1892, die ganze Mühe genausogut sparen. Er hielt übrigens das System für nicht praktikabel.
Lenin ist hier nicht ganz wohl. Er hat ein Bewußtsein davon, daß diese Zettel-Wirtschaft keine besondere Anziehungskraft hat, und bemüht sich deshalb hier, zu begründen, warum es nicht anders geht:
„Das ist ein “Mißstand”, sagt Marx, aber er ist in der ersten Phase des Kommunismus unvermeidbar, denn will man nicht in Utopien verfallen, so darf man nicht annehmen, daß die Menschen sofort nach dem Sturz des Kapitalismus lernen werden, ohne alle Rechtsnormen für die Allgemeinheit zu arbeiten, sind doch die ökonomischen Voraussetzungen für eine solche Änderung durch die Abschaffung des Kapitalismus nicht sofort gegeben. Andere Normen aber als die des “bürgerlichen Rechts” sind nicht vorhanden.“ (109)
Kommunismus heißt also bei Lenin, „für die Allgemeinheit zu arbeiten“. Damit ist irgendwie unterstellt, daß man selber nichts davon hat. Nicht das schnöde Eigeninteresse soll einen bewegen, sondern die Hingabe an das Kollektiv. Das war das jahrzehntelang gepredigte Ideal des „neuen Menschen“ in der Sowjetunion, das eben schon bei Lenin angelegt ist. Und klar, wenn niemand dieses selbstlose Interesse hat, so brauchts eben „Rechtsnormen“, also Zwang, um diese Selbstlosigkeit hervorzubringen.
Interessant ist auch der Hinweis auf die „ökonomischen Voraussetzungen“ für eine solche psychische Disposition. Vermutlich meint er, daß die Abschaffung des Privateigentums eine solche zwangsläufig zur Folge hätte. Das ist ein Trugschluß. Aber er spricht dabei (nicht sofort gegeben) auch aus, daß er nicht vorhat, das Privateigentum ohne weiteres abzuschaffen. Und die „Normen des bürgerlichen Rechts“ können auch nur „vorhanden sein“, also gelten, wenn ebendieses in den Sozialismus „mitgenommen“ wird.
Das Unterkapitel schließt mit dem in Form eines Glaubensbekenntnisses hergebeteten Satz, der einer Beschwörung gleichkommt:
„Zum vollständigen Absterben des Staates bedarf es des vollständigen Kommunismus.“ (109)