Pünktlich 15 Jahre nach Dayton: Der Architekt des „failed state“ beißt ins Gras

NACHRUF AUF RICHARD HOLBROOKE

Er ist sehr pünktlich gestorben, der Mann. Besser kann jemand seinen Tod gar nicht koordinieren. Außerhalb des Balkans hatte man ihn schon ein bißl vergessen. Bei seinen letzten Missionen hat er sich nicht allzusehr hervorgetan. Sein Lebenswerk aber steht: Das Proktektorat Bosnien.

Seine diplomatische Karriere begann er bei USAID, der Entwicklungshilfeagentur der USA, deren Hauptaufgabe die „counterinsurgency“ ist, die Bekämpfung sowohl kommunistischer Umtriebe, als auch jener Politiker in der 3. Welt, deren Vorstellungen über nationale Entwicklung den Interessen der USA zuwiderlaufen. Nach Mitautorentätigkeit bei den „Pentagon-Papers“, dem Drehbuch des Vietnamkrieges, hatte er sein erstes richtiges berufliches Highlight bei der indonesischen Annexion Ost-Timors im Jahre 1975, die von den USA militärisch unterstützt wurde, um die kommunismusverdächtige FRETILIN auszuschalten. Schließlich sorgte er für eine entsprechende Militärpräsenz der USA in Südkorea, um dem feindlichen Norden ordentlich das Fürchten zu lehren. Auch ein Lebenswerk, das ihn überlebt hat.

Er hat sich also als Kalter Krieger durchaus einen Namen gemacht und bewährt, wenngleich er damals mehr im Hintergrund agiert hat.

Clinton ernannte ihn 1994 zum Sonderbeauftragten für den Balkan.
Dieser diplomatische Rang existiert zwar schon eine Zeitlang im internationalen Verkehr, Holbrooke war jedoch anscheinend der erste, der als US-Diplomat dieses Amt bekleidete. Sein Mandat war gewissermaßen unbeschränkt: Er konnte mit jeglicher Rückendeckung durch Außenministerium, Geheimdienste und den Präsidenten selbst das tun, was er für geraten hielt, um Amerikas Interessen zu vertreten. Seine Tätigkeit war völkerrechtlich nicht definiert, er hatte freie Hand und er nützte diesen Status gründlich aus.

Man muß vielleicht auch das Verhältnis der USA zu Jugoslawien kurz charakterisieren. Unter Reagan wurde eine Art Kommission gegründet, die untersuchen sollte, wie man Jugoslawien „verwestlichen“, zu einem Staat der westlichen Hemisphäre machen könnte. Mit den immer deutlicher werdenden Zeichen der sowjetischen Regierung Gorbatschow, den Sozialismus aufzukündigen wurde Jugoslawien als Puffer zusehends überflüssig. Die Wirtschaftspolitik der USA und ihres verlängerten Armes, des IWF, stürzten Jugoslawien jedenfalls ins ökonomische Chaos. Das war das Vorspiel zu den sezessionistischen Tendenzen und den Kriegen.
Ein Land, das keinen Platz mehr hatte in der Welt, und eine serbisch dominierte Regierung, die das nicht zur Kenntnis nehmen und den Staat mit Gewalt aufrechterhalten wollte: Das war das Szenario, als Richard Holbrooke die Bühne betrat. Und er war entschlossen dazu, – auch als Konkurrenzprojekt zur EU, die ähnliches vorhatte – die Auflösung Jugoslawiens rechtsförmlich zu besiegeln.

Das Abkommen von Dayton, das er entwarf und durchdrückte, war eine Negation der Ambitionen aller drei Politiker (Milošević, Tuđman und Izetbegović) und gleichzeitig eine Kapitulation von Seiten derer, die es unterzeichneten. In Dayton wurde klargestellt, daß in Zukunft alle Politiker der Nachfolgestaaten Jugoslawiens solche von Amerikas Gnaden zu sein hätten, und Alleingänge ausgeschlossen sind.
Mit den Verträgen von Dayton wurden nicht nur die Grenzen Bosniens festgelegt und Bosnien in den Rang eines Staates erhoben, sondern Serbien und Kroatien verpflichteten sich auch zur Anerkennung der gegenseitigen Grenzen (Artikel 1), was die Grundlage für die Aufgabe Ostslawoniens durch Serbien (damals noch Jugoslawien) und eine weitgehende Demilitarisierung der serbisch-kroatischen Grenze zur Folge hatte.

Weiters war es eine Absage an Träume eines Groß-Serbiens. Die serbisch besiedelten Gebiete Bosniens dürfen sich nicht mit Serbien selbst vereinigen, sondern haben sich als Teil Bosniens zu betätigen.

Ebenso wurden Vorstellungen eines Groß-Kroatiens, mit „Heimholung“ der Herzegowina und womöglich der Save-Ebene, beendet. (Es gab während des Bosnien-Krieges mehrere informelle Treffen serbischer und kroatischer Delegationen über eine Aufteilung Bosniens.)

Was Bosnien selbst betrifft, so mußten sich Izetbegović und seine Parteigänger mit einer äußerst beschränkten Souveränität, die eigentlich gar keine ist, abspeisen lassen: Mit der notgedrungen im Vertrag festgelegten Autonomie der Republika Srpska war die Entscheidungsfähigkeit nach innen beschränkt. Mit der Einsetzung eines Hohen Repräsentanten = Protektors (man hat den Namen vermieden, weil er aus verschiedenen Gründen einen schlechten Beigeschmack hat) war der bosnischen Regierung eine Kontrollbehörde vor die Nase gesetzt, und die Festlegung der paritätischen Machtausübung innerhalb der Föderation als auch im Gesamtstaat beschränkte den Handlungsspielraum der bosnischen Regierung weiter.

Mit Bosnien wurde ein Vielvölkerstaat geschaffen, den niemand von den beteiligten Völkern wollte, nachdem in der politischen Propaganda gerade die angebliche Unterdrückung der Nationalitäten als Grund für das „Scheitern“ Jugoslawiens angegeben wurde. Viele Völker unter einem Dach – geht nicht: bei Jugoslawien, – muß gehen: bei Bosnien.

Den Gründer und Präsidenten der Republika Srpska, Radovan Karadžić, schloß er erst von den Friedensverhandlungen aus und bewegte ihn mit einem Versprechen auf Freiheit vor Strafverfolgung 1996 zum Rückzug aus der Politik.
Holbrooke hat bestritten, dieses Versprechen gegeben zu haben. Außer Karadžic erinnert sich daran auch der Karadzic keineswegs freundlich gesinnte und an den Verhandlungen von Dayton beteiligte Muhamed Sacirbey.

Das war eben einer der Vorteile des Status als Sonderbeauftragter: Unbeschränkte Vollmachten, alles ohne Rechtsverbindlichkeit. Das Haager Tribunal hat bereits klargestellt, daß eine solche Zusage keinerlei Einfluß auf das Verfahren hat, selbst wenn es sie gegeben hätte.

Das Staatsgebilde Bosniens ist heute 15 Jahre alt. Die Kosten für die Protektorats-Institutionen und die (inzwischen sehr geschrumpften) Besatzungstruppen trägt das bosnische Budget, und sie tragen zur Staatsverschuldung bei. Die wiederholten Versuche der jetzigen Regierung Silajdzić, über den Umweg einer neuen Verfassung den Sonderstatus der Republika Srpska aufzuheben, sind bisher gescheitert. Es ist anzunehmen, daß anläßlich des Prozesses, der ihrem Gründer gemacht wird, ein neuer Anlauf unternommen wird.

Das Mandat des „Hohen Repräsentanten“ wurde 2008 auf unbestimmte Zeit verlängert.

Neues vom Euro

DIE SACHE MIT DEN EUROBONDS
Der Euro bleibt weiter im Gerede, was seinem Kurs nicht gut tut. Während Irland gerade „gerettet“ wurde, unter heftigem Gerangel bezüglich der Bedingungen, die an diese Finanzhilfe geknüpft waren, stehen nicht nur die nächsten Kandidaten für dergleichen Manöver schon in der Warteschlange, sondern es zeigt sich auch am vorigen Problemfall, daß allen Sprachregelugen zum Trotz das Sparpaket, das Griechenland im Frühjahr verordnet wurde, nicht zu der angestrebten „Sanierung des Staatshaushaltes“ geführt, sondern die Wirtschaft des Landes weiter zerrüttet, und das Verhältnis von Staatseinnahmen und -ausgaben keineswegs verbessert hat.
Die Aussichten für die Zukunft sind also so, daß immer mehr Euro-Mitgliedsstaaten mit EU-Krediten gestützt werden müssen, und zwar als Dauerprogramm: Ihre Ökonomie ist aufgrund der internationalen und Inner-EU-Konkurrenz überwiegend zu einem Markt für die erfolgreicheren EU-Staaten geworden, die Handelsbilanz ist negativ, und ein immer größerer Teil der Staatsausgaben muß durch Kredit finanziert werden, weil bei schrumpfender Ökonomie notgedrungen auch das Steueraufkommen zurückgeht: Arbeitslose zahlen keine Steuern, und Unternehmen wandern ab. Und gekauft wird selbstverständlich auch weniger, wenn alle pleite sind.
Die erfolgreich produzierenden und exportierenden EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Deutschland finanzieren also auf lange Sicht ihre eigenen Absatzmärkte mit diesen „Rettungspaketen“.
Angesichts dieser Perspektive hat der luxemburgische Oberhäuptling Juncker vorgeschlagen, gemeinsame Anleihen unter dem Namen Eurobonds herauszugeben. Seine Idee dabei war offenbar, daß dann die Risikoaufschläge auf nationale Anleihen entfallen, der Zinssatz sich vereinheitlicht und dadurch erstens Rettungsaktionen unnötig werden, zweitens die einzelnen Volkswirtschaften durch diesen einheitlichen Zinssatz neue Impulse erhalten würden.
Das wiederum wurde von verschiedenen Staaten, die diese „Rettungspakete“ nicht brauchen, sondern schnüren, heftigst zurückgewiesen: Sie wollen nämlich ihren eigenen nationalen Kredit nicht dadurch gefährden, daß sie mit ihm für die Verschuldungsfähigkeit derjenigen Staaten einstehen, die sich wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast befinden. Stattdessen wollen sie den betroffenen Regierungen noch mehr dreinreden dürfen als bisher. Am liebsten würden Merkel und Sarkozy Länder wie Griechenland und Irland unter ihr persönliches oder nationales Kuratel stellen.
Das ganze lebt erstens von der dummen Vorstellung, es läge nur an der richtigen Wirtschaftspolitik, um eine ins Hintertreffen geratene Nationalökonomie wieder in Schwung zu bringen. Zweitens ist es auch von der Lüge begleitet, daß man mit Einschränkungen die Wirtschaft voranbringt: „Angemessene haushaltspolitische Maßnahmen und Strukturreformen, die das Wachstum wieder anschieben“ (EZB-Ratsmitglied Mario Draghi) schauen nämlich nicht so aus, daß an allen Ecken gekürzt wird, sondern im Gegenteil, da wird fest hineingebuttert – das sah ja die BRD-Regierung vor ein paar Jahren genau so, als sie die Maastricht-Kriterien mißachtete. Auf diese Art, mit staatlichen Wirtschaftshilfen und Infrastrukturprojekten wird nämlich Zahlungsfähigkeit geschaffen, als Voraussetzung – aber nicht Garantie! – für lohnende Geschäfte.
Griechenland und Irland hat es erwischt, bald ist Portugal dran.
Was das für den Euro bedeutet, wird die Zukunft weisen. Eines kann man aber schon heute feststellen: Nichts Gutes.

Staat und Revolution, Teil 16

ZUM SCHLUSS NOCH EINMAL DIE RAETEBEWEGUNG, KAUTSKY UND PANNEKOEK
Lenin kommt schliesslich auf ein anderes Werk Kautskys zu sprechen: seine Polemik gegen Pannekoek.
(Anton Pannekoek war ein holländischer Astronom, der in der deutschen sozialdemokratischen Presse Artikel veröffentlichte und eine Zeitlang auf der Parteischule der Sozialdemokraten in Berlin lehrte. In Ablehnung der Haltung der Partei gegenüber dem Krieg schloss er sich der linken Opposition an und wurde zum Theoretiker der Rätebewegung, in der er sie angemessene Form der Selbstorganisation der Arbeiterklasse sah.)
Lenin zitiert Pannekoek, nicht ohne Vorbehalte:
“Der Kampf des Proletariats”, schrieb er, “ist nicht einfach ein Kampf gegen die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt … der Inhalt dieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats … Der Kampf hört erst auf, wenn als Endresultat die völlige Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, daß sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat”
denn im Grunde vertritt Pannekoek hier eine den in dieser Schrift dargelegten Anschauungen Lenins entgegengesetzte Position. Es ist im Folgenden interessant zu verfolgen, wie Lenin sich erst Pannekoeks bedient, um Kautsky zu widerlegen, um dann Pannekoek selbst zu demontieren.
Interessant auch Kautskys Stellung:
“Bisher”, schrieb er, “bestand der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten darin, daß jene die Staatsgewalt erobern, diese sie zerstören wollten. Pannekoek will beides.”
Wenn Kautsky auch den Gegensatz zwischen den beiden Richtungen korrekt benennt, so ist jedoch nicht festzustellen, wie er zu dem Schluss kommt, dass Pannekoek die Eroberung der Staatsmacht auf seine Fahnen schreibt.
Lenin sieht die Sache anders: Pannekoeks „Darstellung“ (warum Darstellung? Es handelt sich hier nicht nur um ein unglücklich gewähltes Wort. Lenin deutet hiermit an, dass Pannekoeks Ausführungen – zum Unterschied von seinen eigenen, aber auch denen Kautskys, nicht den Stellenwert einer Theorie haben.) sei „nicht klar“, und Kautsky benennt den Unterschied der beiden Richtungen falsch:
Es folgt ein spitzfindiges Auseinanderklauben, dass die Anarchisten „nur“ den Staat zerschlagen wollen, die Marxisten hingegen sich zunächst seiner bedienen, ihn dann zerschlagen und schliesslich eine neue Staatsmacht an seine Stelle setzen.
Lenin redet hier von „Marxisten“, Kautsky von „Sozialdemokraten“: auch diesen Unterschied sollte man nicht übersehen. Lenins moralischer Vorwurf, dass die Sozialdemokraten den Marxismus „verraten“ hätten, hat eine reale Grundlage darin, dass sich die deutsche Sozialdemokratie eine eigene Interpretation der Klassiker vorbehalten hat, die sich von der Lenins unterscheidet.
Lenin erklärt sich also hier zum Marxisten, um dann Pannekoek als Vertreter seiner Position zu definieren.
„Um seine Entstellung des Marxismus zu bemänteln“,
macht Kautsky das gleiche wie Lenin: Er zitiert Marx. Damit bringt er sich als Vertreter des „marxistischen“ Prinzips des „Zentralismus“ ins Spiel, um Pannekoek als Zerstoerer des Zentralismus zu kritisieren.
Wahrscheinlich hat Kautsky recht, Pannekoek, oder überhaupt die Rätebewegung hatte es nicht mit dem Zentralismus. Das wiederum interessiert Lenin gar nicht. Er wird nur wütend, weil sich Kautsky der gleichen Argumentation wie er selbst bedient, gegen die Rätebewegung. Dieser Usurpator!
Kautsky wirft Pannekoek vor, die Beamten abschaffen zu wollen, und auch damit hat er vermutlich recht. Er argumentiert, warum Beamte immer notwendig sind. Auch hier stoert Lenin nicht der Inhalt von Kautskys Ausführungen, sondern der Umstand, dass seine eigenen, „marxistischen“ Argumente hier für antirevolutionäre Positionen „missbraucht“ werden. „Revolution“ wird durch „Opposition“ ersetzt, die Zerschlagung der Staatsmacht ist weg vom Fenster.
Auch Beamte sind ersetzbar, meint Lenin, durch andere Beamte, und wenn die aber der Revolution und dem Proletariat verpflichtet sind, so sind sie entweder gute Beamte, oder gar keine Beamten mehr …
Kautsky hingegen! Voellig der Bürokratie verpflichtet, und ohne die geringste politische Distanz zur bürgerlichen Bürokratie, die doch notwendig die Interessen der Bourgeoisie vertritt.
Es folgt ein Exkurs Lenins über die verkehrte Interpretation des Trade-Unionismus durch Kautsky und Bernstein.
Von Pannekoeks Gedanken ist nicht mehr die Rede. Es wird ein namensloser „Anarchist“ eingeführt, um auch gleich wieder gegen ihn zu polemisieren – Verzweiflungstaten statt kühne revolutionäre Arbeit …
Es folgt die Polemik um den Massenstreik. Die Anarchisten und auch die Rätebewegung sahen den Streik als Mittel, die Regierung zu stürzen. Kautsky wendete sich dagegen, weil er ja mit friedlichen Mittel die Macht erobern wollte.
Was hat Lenin dazu zu sagen? Nichts anderes, als dass Kautsky sich wieder einmal als Opportunist entlarvt und damit zu denen gehoert.
Damit, mit dieser nicht sehr überraschenden Entlarvung, mit entsprechendem Blitz und Donnerwetter, schliesst Lenins Schrift zu „Staat und Revolution“.
Der Taschenspielertrick, den er mit dieser Hereinholung“ Pannekoeks gemacht hat, dient dazu, sich selbst zum Vertreter der Rätebewegung zu stilisieren, die alle ihre revolutionären Ziele verwirklicht, während sie ihre unreifen und idealistischen Vorstellungen abschafft.