Für den „Übergang“, der für Lenin anstand, bringt er auch einige Vorschläge. Er fragt sich: Wie steht die Diktatur zur Demokratie?
Zwei Floskeln werden hier einander gegenübergestellt, zwei Formen dessen, wie angeblich Staat gemacht gehört. Es ist hier vielleicht angebracht, wieder einmal an den Disput Lenins mit Kautsky zu erinnern, zur Frage „Diktatur oder Demokratie?“, und es ging um die Frage, wie im künftigen proletarischen Staat regiert werden sollte: per Dekret oder durch Wahl? Beides sehr verkehrt, wenn es um die Ermittlung richtiger Inhalte geht. Die werden nämlich durch Streit und Debatte ermittelt, und weder durch Händchen hochhalten, noch durch Verordnung.
Also, der Streit um Diktatur oder Demokratie war schon von vornherein daneben, weil es dabei darum ging, wer entscheiden darf, und nicht darum, was entschieden wird. Demokratie wurde als eine Methode der Entscheidungsfindung eingeführt, bzw. verworfen. Es war auch eigenartig, daß Kategorien staatlicher Gewalt für die Handlungen einer Partei herangezogen wurden, deren Mitglieder sich zumindest als Kritiker bürgerlicher Herrschaft verstanden.
Lenin macht sich nun daran, die bürgerliche Demokratie schlecht zu machen, und zwar vom nicht ausgesprochenen, sondern stillschweigend unterstellten Standpunkt aus, daß die „wirkliche“ oder „verwirklichte“ Demokratie eine feine Sache wäre. Aber davon kann eben in der Klassengesellschaft keine Rede sein! Die Frauen dürfen nicht wählen, der Organisationsgrad der sozialdemokratischen Partei ist niedrig, usw. Also, die vorhandene Demokratie, selbst in den entwickeltsten kapitalistischen Staaten, ist sowieso eine Augenauswischerei.
Was folgt daraus? Also, lassen wir diese Demokratie doch bleiben!? Nein, keineswegs! Wir sind ja sooo für die Demokratie, auch wenn wir mit unorthodoxen Mitteln dort hin gelangen! Die Diktatur des Proletariats ist nämlich eigentlich die Verwirklichung der „Demokratie für die Armen“, für die bisher Ausgeschlossenen:
„Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d.h. ihr Ausschluß von der Demokratie – diese Modifizierung erfährt die Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus.“ (S. 102)
Aber, leider, wegen der Umstände, ist der Übergang etwas gewalttätig:
„Beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ist die Unterdrückung noch notwendig, aber es ist das bereits eine Unterdrückung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Ausgebeuteten. Ein besonderer Apparat, eine besondere Maschine zur Unterdrückung, ein “Staat” ist noch notwendig, aber es ist das bereits ein Übergangsstaat, kein Staat im eigentlichen Sinne mehr, denn die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohnsklaven von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache, daß sie viel weniger Blut kosten wird als die Unterdrückung von Aufständen der Sklaven, Leibeigenen und Lohnarbeiter, daß sie der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird. Und sie ist vereinbar mit der Ausdehnung der Demokratie auf eine so überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, daß die Notwendigkeit einer besonderen Maschine zur Unterdrückung zu schwinden beginnt.“ (S. 104)
Es ist halt so eine Sache mit Mehrheit und Minderheit, und ebenso mit der „Unterdrückung“. Weder hat die Mehrheit unbedingt recht noch die Minderheit unbedingt unrecht.
Da die durch die Revolution entmachteten „Ausbeuter“ (vermutlich Grundherren, Unternehmer und Kaufleute?) zwar eine Minderheit waren, die Lohnsklaven von gestern auch, die jedoch schon längst nicht mehr „Leibeigenen“, sondern durch das „Dekret über das Land“ (8.11. 1917) zu Eigentümern erklärten Bauern die Mehrheit des „Volkes“ darstellten, richtete sich in der Folge all das, was als „Diktatur des Proletariats“ besprochen und für richtig und unumstößlich erklärt worden war, auch gegen diese.
Vielleicht noch eine Bemerkung zu dem immer wiederkehrenden Dementi Lenins, er bzw. die Bolschewiki, seien keine „Utopisten“(105) oder Träumer – mit dem dann immer auf die Gewalt hingewiesen wird, die notwendig ist, um Sozialismus/Kommunismus/Diktatur des Proletariats usw. zu machen.
Abgesehen davon, welche Maßnahmen damit begründet werden sollen – was ist in dem Vorwurf enthalten, jemand sei ein Utopist oder Träumer? Jede Revolutionär ist notwendig Utopist, denn er will einen Zustand herstellen, den es noch nicht gibt. Und Träumer, – ein seltsamer Einwand gegen politische Kontrahenten. Als ob sie irgendwelche Dichterlinge wären, die sich in die falsche Abteilung verirrt haben.
Gemeinsam ist beiden Benamsungen, daß sie an anderen Personen mangelnde Fähigkeiten entdecken, und gar keinen konkreten Einwand zum Gegenstand haben.
Aber man kennt doch die gleichen Vorwürfe heute aus der demokratisch-parlamentarischen Diskussion: Fundis und Realos, man muß das „Machbare“ angehen, solche Forderungen seien „sinnlos“, weil nicht „durchsetzbar“ – sie gehören zum völlig üblichen Instrumentarium des demokratischen Kampfes um die Macht.
Mit seiner Vorstellung dessen, wie Kommunismus bzw. Sozialismus in einer Gesellschaft nach der Revolution, also nach der Aufhebung des Privateigentums zu funktionieren habe, beruft sich Lenin wieder auf die Ausführungen von Marx:
„Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum einzelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft leistet einen gewissen Teil gesellschaftlich notwendiger Arbeit und erhält von der Gesellschaft einen Schein darüber, daß es ein gewisses Quantum an Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein erhält es ein gewisses Quantum Produkte aus den gesellschaftlichen Vorräten an Konsumtionsmitteln. Nach Abzug des Arbeitsquantums, das für die gemeinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, wie er ihr gegeben hat.“ (S. 106-107)
Es würde jetzt zu weit gehen, den Abschnitt aus der „Kritik des Gothaer Programms“, auf den Lenin sich bezieht, einer eigenen Kritik zu unterziehen. Nur soviel, daß er ein wenig an die Proudhon’sche Tauschbank erinnert, von der Marx ja gar nichts gehalten hat, und dieses System der Bezugsscheine durch verschiedene Maßnahmen ergänzt werden muß, um grobe Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Dafür braucht man natürlich dann Behörden und Maßnahmen und jemanden, der festlegt, was gerecht ist.
Dagegen ein Zitat aus Kropotkins „Eroberung des Brotes“, gegen die anarchistischen Kollektivisten:
„Die Kollektivisten beginnen mit der Verkündigung eines revolutionären Prinzips – der Aufhebung des Privateigentums – und verleugnen es im Augenblick, in dem sie es aussprechen, indem sie eine Organisation der Produktion und des Konsums aufrechterhalten, die sich auf Grundlage des Privateigentums entwickelt hat.“ (Kap. 13, Die kollektivistische Entlohnung, II.)
Man könnte sich, wenn man so etwas vorhat, so meinte Kropotkin 1892, die ganze Mühe genausogut sparen. Er hielt übrigens das System für nicht praktikabel.
Lenin ist hier nicht ganz wohl. Er hat ein Bewußtsein davon, daß diese Zettel-Wirtschaft keine besondere Anziehungskraft hat, und bemüht sich deshalb hier, zu begründen, warum es nicht anders geht:
„Das ist ein “Mißstand”, sagt Marx, aber er ist in der ersten Phase des Kommunismus unvermeidbar, denn will man nicht in Utopien verfallen, so darf man nicht annehmen, daß die Menschen sofort nach dem Sturz des Kapitalismus lernen werden, ohne alle Rechtsnormen für die Allgemeinheit zu arbeiten, sind doch die ökonomischen Voraussetzungen für eine solche Änderung durch die Abschaffung des Kapitalismus nicht sofort gegeben. Andere Normen aber als die des “bürgerlichen Rechts” sind nicht vorhanden.“ (109)
Kommunismus heißt also bei Lenin, „für die Allgemeinheit zu arbeiten“. Damit ist irgendwie unterstellt, daß man selber nichts davon hat. Nicht das schnöde Eigeninteresse soll einen bewegen, sondern die Hingabe an das Kollektiv. Das war das jahrzehntelang gepredigte Ideal des „neuen Menschen“ in der Sowjetunion, das eben schon bei Lenin angelegt ist. Und klar, wenn niemand dieses selbstlose Interesse hat, so brauchts eben „Rechtsnormen“, also Zwang, um diese Selbstlosigkeit hervorzubringen.
Interessant ist auch der Hinweis auf die „ökonomischen Voraussetzungen“ für eine solche psychische Disposition. Vermutlich meint er, daß die Abschaffung des Privateigentums eine solche zwangsläufig zur Folge hätte. Das ist ein Trugschluß. Aber er spricht dabei (nicht sofort gegeben) auch aus, daß er nicht vorhat, das Privateigentum ohne weiteres abzuschaffen. Und die „Normen des bürgerlichen Rechts“ können auch nur „vorhanden sein“, also gelten, wenn ebendieses in den Sozialismus „mitgenommen“ wird.
Das Unterkapitel schließt mit dem in Form eines Glaubensbekenntnisses hergebeteten Satz, der einer Beschwörung gleichkommt:
„Zum vollständigen Absterben des Staates bedarf es des vollständigen Kommunismus.“ (109)
Kategorie: Recht und Gewalt
Staat und Revolution, Teil 9
Im 5. Kapitel von Staat und Revolution
wird die fixe Idee vom „Absterben des Staates“ auf ein sehr luftiges Fundament gesetzt. Lenin nimmt sich hier die „Kritik des Gothaer Programms“ vor und leitet aus ihr „wissenschaftlich“ ab, daß und wie sich der Staat verflüchtigen muß.
Diese Unart, mit Zitaten begründete Voraussagen für die Zukunft zu machen, und das als Gipfel der Wissenschaftlichkeit auszugeben, gilt leider – aufgrund der Vorarbeit von Lenin und anderen – als „marxistisch“. Es ist jedoch wieder einmal festzuhalten, daß diese Vorgangsweise höchst unwissenschaftlich ist, wie es Vorhersagen im allgemeinen sind. Marx ging im Allgemeinen nicht so vor, seine Schriften mußten jedoch leider dafür herhalten.
Zunächst wird diese Kritik einmal falsch vorgestellt:
„Der polemische Teil dieses bedeutenden Werkes, der aus einer Kritik am Lassalleanertum besteht, hat seinen positiven Teil, nämlich die Analyse des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des Kommunismus und dem Absterben des Staates, sozusagen in den Schatten gestellt.“ (S. 96)
Marx formulierte seine Kritik am Gothaer Programm so, daß er seinen Anhängern vorwarf, sie hätten sich von den Lasalleanern sozusagen über den Tisch ziehen lassen und ihnen zu viele Zugeständnisse gemacht, – weil er der Wahrheit auswich, daß auch den Leuten, die sich als seine Anhänger bezeichneten, diese Momente des Lasalleanertums gut gefielen und sie sie gerne übernahmen. Marx kritisiert in diesem Brief verschiedene Moralismen, die später in der Sozialdemokratie und im Realsozialismus Karriere gemacht haben, so z.B. den Kult der Arbeit und in dessen Gefolge das Lob des Proletariers als fleißiger Biene.
Was Lenin hingegen als den „positiven Teil“ hinstellt, war gerade einerseits eine Kritik der Lasalleschen Idee des „unverkürzten Arbeitsertrages“, und von Marx keineswegs als Gebrauchsanweisung dafür gedacht, wie Staat zu machen sei, geschweige denn wie er „absterben“ würde.
Eine andere Frage sind Marx’ Ausführungen zum Staat der Gegenwart und der Zukunft, und die sind einfach falsch.
Lenin dekretiert zunächst:
„Marx … interessiert ein anderes Thema: die Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft.“ (S. 97)
Das interessiert zwar Lenin, und nicht Marx, aber Lenin unterschiebt es ihm eben, um seinen eigenen Standpunkt dann daraus abzuleiten. Das ganze beginnt mit einem Paukenschlag:
„Die ganze Theorie von Marx ist eine Anwendung der Entwicklungstheorie – in ihrer konsequentesten, vollkommensten, durchdachtesten und inhaltsreichsten Form – auf den modernen Kapitalismus.“ (S. 97)
Die 3 Seiten, die Marx der Widerlegung des „unverkürzten Arbeitsertrages“ von Lassalle verfaßt hat, werden erstens in den Rang einer „Theorie“ erhoben. Zweitens wird behauptet, die seien die „Anwendung“ einer anderen Theorie, von der wir auch das erste Mal hören.
Eine Anwendung einer Theorie auf die Wirklichkeit! Man glaubt, in einem Wissenschaftstheorie-Proseminar für Zweitsemester zu sitzen, einer dieser Veranstaltungen, wo den jungen Leuten ein für allemal der Gebrauch ihres Verstandes abgewöhnt werden soll. Und dieses trostlose Kompliment wird von Lenin noch mit lauter Superlativen bedacht, als seelische Vorbereitung für die Schaumschlägerei, die jetzt folgt.
Lenin zitiert Marx’ Überlegungen, demzufolge die „Gesellschaft“ überall gleich, d.h. kapitalistisch, die Staaten aber verschieden seien:
„”Der heutige Staat” ist also eine Fiktion.“ (S. 98)
Weil es Unterschiede zwischen den Staaten gibt, soll es verkehrt sein, von „Staat“ zu reden? Damit darf man das Allgemeine nicht festhalten und eine Abstraktion behandeln? Das kommt fast einem Denkverbot gleich: Man darf den heutigen Staat und seine Rolle für die kapitalistische Gesellschaft nicht zum Gegenstand einer Betrachtung machen.
Obwohl, so ganz eng sieht es der Meister auch wieder nicht:
„Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von “heutigem Staatswesen” sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.“ (98)
Also, über den „heutigen Staat“ kann man einerseits nichts sagen, weil er eine „Fiktion“ ist, andererseits aber vielleicht doch, weil es immerhin „gewisse Gemeinsamkeiten“ gibt.
Also was jetzt?
Einen „zukünftigen Staat“ soll es aber dann doch geben, ohne bürgerliche Gesellschaft?
O weh.
Hier rächt sich der Theorieverzicht gegenüber den heutigen Staatswesen unmittelbar: Über die kann man zwar nichts aussagen, der Begriff „Staat“ wird also nicht ermittelt, über ein zukünftiges Staatswesen kann man jedoch alles mögliche frei erfinden.
Die Beteuerung von Marx, man müßte dabei selbstverständlich „wissenschaftlich“ vorgehen, verpufft angesichts des Vorherigen ins Leere.
Das Lob Lenins:
„Marx räumt vor allem mit der Konfusion auf, die durch das Gothaer Programm in die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft hineingetragen wird“ (98)
– klingt in diesem Zusammenhang höchst aufgesetzt: Im Gegenteil, hier wird Konfusion in die bewußte Frage hineingetragen.
Weiteres Zukunftsweisendes von Marx:
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. “ (99)
Dieses seither in Stahl gegossene Dogma des Marxismus-Leninismus lohnt es sich wirklich zu hinterfragen.
Erstens: die Veränderung in Richtung Kommunismus, d.h. Vergesellschaftung der Produktionsmittel in den Händen der Produzenten, kann Lenin zufolge nur revolutionär erfolgen.
Das ist angesichts der Gewaltverhältnisse, die in der kapitalistischen Gesellschaft herrschen, wahrscheinlich. Weder der staatliche Gewaltapparat, noch die Klasse der Unternehmer wird ihre Macht freiwillig aus der Hand geben.
Es soll dennoch an dieser Stelle der von den Anarchosyndikalisten propagierte Generalstreik als Mittel der Machtübernahme nicht vergessen werden. Auch diese Umwälzung der Gesellschaft wird nicht ohne Waffen und Gewalt auskommen, setzt aber eine ungleich breitere Beteiligung der Bevölkerung voraus, als die, die in der russischen Februar- und Oktoberrevolution am Werke war.
Die Frage, die sich hier stellt, ist die: Findet eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung statt, die schon vorher weiß, was sie will und was sie nicht will, oder schafft es eine Minderheit – mit Hilfe von enttäuschten Staatsbürgern, die durch einen gerade stattgefundenen Krieg unter Waffen stehen –, eine Veränderung der Machtverhältnisse durchzuführen?
Wenn letzteres der Fall ist, wie schaut dann die „Übergangsperiode“ aus? Nach welchen Vorstellungen formt sich diese neue Gesellschaft?
In jedem Fall kommt man mit der Formel der „Diktatur des Proletariats“ nicht weiter, weil sie bedeutet nichts anderes, als daß die neuen Machthaber ihre Vorstellungen der restlichen Gesellschaft aufzwingen und sich dafür den nötigen Gewaltapparat zulegen – mit dem guten Gewissen, damit der „Entwicklung“, dem „Fortschritt“ und schließlich dem „Kommunismus“ zu dienen. Für die „Übergangsperiode“ haben sie sich alle Rechtstitel gesichert, weil sie dienen der „ausgebeuteten Klasse“.
Staat und Revolution, Teil 8
Die nächsten paar Seiten widmet sich Lenin den Anarchisten. Mit ihnen hatte er ein Problem: Sie hatten Einfluß in der damaligen Arbeiterschaft, waren immer Gegner des Krieges und Anhänger einer Revolution gewesen. Das „Opportunismus’“ konnte man sie also nicht bezichtigen, und auch des „Abweichlertums“ nicht, da sie ja keine Anhänger des Marximus waren. Ihre Forderung nach der „Abschaffung des Staates“ mußte jedoch lächerlich gemacht werden, um sowohl diese Forderung verstummen zu lassen als auch ihren Einfluß bei den Räten zurückzudrängen.
„Staat und Revolution“, das sollte man nie vergessen, ist auch gegen das Rätesystem geschrieben. Lenin wollte mit dieser Schrift die „Revolution von unten“ bekämpfen, im Sinne seines „Primats der Partei“ und den Führungsanspruch der Partei über die Arbeiterschaft begründen, – im Interesse der Arbeiterschaft, selbstverständlich.
Lenin zitiert hierfür zwei ursprünglich auf italienisch erschienene Schriften: „Der politische Indifferentismus“ von Marx und „Von der Autorität“ von Engels, beide aus dem Jahr 1873.
Die Argumentation läßt sich kurz zusammenfassen: Revolution geht nur mit Gewalt, wer Gewalt ablehnt, verzichtet auf den Kampf gegen die Bourgeoisie. Gewalt ist autoritär, also ist auch die Revolution autoritär. Auf Schiffen und Eisenbahnen braucht es auch Autorität. Autorität ablehnen heißt Gewalt ablehnen und damit verzichtet man auf Revolution. Den Staat „von heute auf morgen“ abzuschaffen, käme Selbstentwaffnung gleich. Man muß nämlich erst die sozialen Verhältnisse verändern, mit Hilfe des proletarischen Staates, und dann stirbt er ja ohnehin von selbst ab. Wer das nicht begreift, ist entweder dumm oder verlogen. „In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion.“ (S. 74)
Damit einem diese Argumente schlüssig erscheinen, muß man bereits die Trennung, die Lenin in den vorigen Kapiteln vollzogen hat, mitmachen: „Staat“, das ist der bewaffnete Arm der Bourgeoise, alles was Waffen in der Hand hat. Der Rest sind irgendwelche neutralen Behörden, „Verwaltung“ eben. Und dann ist der proletarische Staat, der Lenin vorschwebt, eben genauso ein Gewaltapparat, nur in den richtigen Händen.
Damit ist auch die Kurve gekratzt, um die Anarchisten alt ausschauen zu lassen: Statt nur den bürgerlichen Staat zu bekämpfen, lehnen sie das Prinzip des Staates ab, entwaffnen dadurch die Arbeiterklasse und arbeiten der Reaktion in die Hände.
Die nächste Schrift, die sich Lenin vornimmt, ist die Kritik von Engels am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokraten. Dort schlägt Engels in seinem Brief an Bebel vor, das Wort „freier Volksstaat“ durch „Gemeinwesen“ zu ersetzen, um Irrtümer zu vermeiden und den Übergangscharakter des Arbeiterstaates hevorzustreichen.
So kann mans natürlich auch machen, daß man den Begriff überhaupt wegläßt und umschreibt. (Die deutschen Sozialdemokraten haben es übrigens nicht gemacht, sie haben nur statt „Volksstaat“ „Staat“ hingeschrieben.)
Es folgen dann besonders langweile Ausführungen über die Fortschrittlichkeit verschiedener Staatsformen, und daß Zentralismus auf jeden Fall besser ist als Föderalismus. Als abschreckendes Beispiel wird die Schweiz angeführt. Argumente, Begründungen sucht man hier vergeblich.
Weiter geht es mit einer Einleitung von Engels zu einer späteren Ausgabe (1891) des „Bürgerkriegs in Frankreich“. Lenin bezeichnet die von Engels hier gezogenen Lehren aus der Kommune als das „letzte Wort des Marxismus“. Das non plus ultra also. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß man dagegen nichts einwenden darf, weil sonst wird man als Marxist exkommuniziert, von Lenin höchstpersönlich.
Nach einigen Ausführungen über die Bewaffnung des Proletariats und daß das dem Bürgertum nicht recht ist (surprise, surprise!), und einer Kritik an der Stellung der Sozialdemokratie zur Religion – Erklärung zur Privatsache statt Kritik an derselben –, denen man sich anschließen kann, aber was heißt das eigentlich? – kommt er auf Ersetzung und Entlohnung der Beamtenschaft zu sprechen. Beamten müssen gewählt werden und dürfen nicht mehr verdienen als gewöhnliche Arbeiter.
Die Frage, die sich hier stellen würde, wäre: Was ist ihre Aufgabe? Was verwalten sie eigentlich? Es kommt aber nichts. Dafür wird daraus wieder einmal eine „Lehre“ gezogen:
„Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konsequente Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwandelt und auf der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zur Aufhebung des Staates ist nötig, daß die Funktionen des Staatsdienstes in solche einfachen Operationen der Kontrolle und Rechnungsführung verwandelt werden, die für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung und später für die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme verständlich und ausführbar sind.“ (S. 91)
Was entnehmen wir diesem Zitat?
1. Demokratie wird zu einer bloßen Verfahrensform erklärt, die im Wählen von Repräsentanten besteht. Das ist ein häufiges Mißverständnis dessen, was Demokratie bedeutet: Der Begriff bedeutet „Volksherrschaft “, dient der Aufrechterhaltung der Kapitalsinteressen, und die Verfahrensform wird sehr großzügig gehandhabt. Heute gilt z.B. Österreich in den Medien zweifelsfrei als Demokratie, weil dort die Gemeindevertreter, Landesregierungen, das Parlament und das Staatsoberhaupt durch Wahlen bestimmt werden, Kuba hingegen nicht, obwohl dort die Gemeindevertreter und die Provinzvertreter auch durch Wahlen bestimmt werden.
2. Wenn die Verfahrensform stimmt, so ist der Inhalt dessen, worüber diese solchermaßen gewählten Vertreter entscheiden, für die Anhänger von Demokratie relativ gleichgültig. Die Ermächtigung für diverse Entscheidungen ist ausschlaggebend, deren Inhalt ist dann ziemlich beliebig und richtet sich nach den Erforderungen in- und ausländischer Mächte.
(Wie wir im Folgenden sehen werden, ist letztlich für Lenin die Verfahrensform auch nicht entscheidend, sobald wichtigere Gesichtspunkte auftreten.)
3. Zivile Beamte (die nicht gewählt wurden!) vollführen also dennoch „Funktionen des Staatsdienstes“, nicht nur die Gewalt macht also den Staat aus. Und deren bisheriger Mangel war – mangelnde Transparenz? Nicht das, wofür sie angeblich dienten: Unterdrückung, Verdummung der Arbeiter zugunsten der Bourgeoisie?
Das Zitat, das angeblich so viele Fragen beantwortet, läßt noch viel mehr Fragen offen.
Schließlich, auch das bleibt in obigem Zitat offen: was ist eigentlich „Sozialismus“? Man müßte diesen Begriff irgendwie mit Inhalt füllen, sonst ist dieses Zitat eine Tautologie: Demokratie führt zu Sozialismus, und Sozialismus ist vollendete Demokratie. Alles sehr schön. Aber worum geht es eigentlich?
Umso mehr, als Lenin den Gedanken wie folgt fortführt:
„… ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.“ (S. 91)
Also: einerseits sind wir ja sehr für Demokratie, andererseits ist sie im Grunde überflüssig. Warum dann Partei ergreifen für diese Staatsform? Nur weil es gut klingt? Wenn sie ohnehin für nichts taugt im proletarischen Staat?
„Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus bringen.“ (S. 91)
Über irgendwelche dialektischen Verschlingungen hat dann die Demokratie doch was mit der Arbeitermacht zu tun. Lenin vollführt hier einen Eiertanz, um zu beweisen, daß alle diese von ihm herangezogenen Schriften zeigen, daß es eine Entwicklung zum Sozialismus gibt und jede Einseiferei seitens der Bolschewiki, oder seiner Person, gerechtfertigt ist, sofern sie dem „Fortschritt“ dient. Demokratie muß man einerseits propagieren, aber wenn man einmal damit die Leute auf seine Seite gezogen hat, so ist sie schnellstmöglich abzuschaffen. „Demokratie“ heißt hier soviel wie „Mitbestimmung“: Erst muß man die Leute diesbezüglich auf seine Seite ziehen, daß sie in einer neuen Gesellschaft selbstverständlich auch etwas zu sagen hätten. Kaum hat man dann die neue Gesellschaft konstituiert, so sind natürlich alle diese Mitbestimmungs-Gremien und -Möglichkeiten sofort zu liquidieren …
„Engels begeht aber nicht den Fehler, den z.B. manche Marxisten in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen begehen: im Kapitalismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und im Sozialismus überflüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, in Wirklichkeit aber falsche Argumentation ließe sich über jede beliebige demokratische Einrichtung wiederholen, auch über die bescheidenen Beamtengehälter, denn ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.“ (S. 91)
Die Demokratie wird hier von Lenin zu einer reinen Augenauswischerei erklärt. Im Kapitalismus ist sie „nie verwirklicht“, im Sozialismus ist sie überflüssig.
Diese Bestimmung der Demokratie ist nicht mit einer Kritik von derselben zu verwechseln. Lenin erklärt diesen Begriff zu einer bloßen Verfahrensform, einem Begriff, mit dem man die Leute für sich einnimmt, um ihn dann, wenn die eigenen Ziele verwirklicht sind, einfach abzuschaffen. Weils sich als „marxistisch“ eingebürgert hat, daß unangenehme Dinge einfach „absterben“, so spricht Lenin ihr auch diese Entwicklung zu. Im Grunde erklärt er die Demokratie zu eier Einseiferei, zu einer schlauen Roßtäuscherei für Revolutionäre: Man verspricht dem Volk Demokratie, und wenn man dann die Macht hat, so wirft man die ganze Demokratie in den Mistkübel der Geschichte.
Eine eigenartige Form, die Massen, oder das Proletariat zu überzeugen: Man nimmt einen Begriff aus dem bürgerlichen Repertoire, erklärt sich zu deren Vertreter, und wenn man dann an der Macht ist, so verabschiedet man sich davon.
Warum dieser Begriff der Demokratie attraktiv ist, warum man damit Leute gewinnen kann, ist für Lenin ganz gleich. Er „zieht“, also verwendet man ihn, und sobald sich die Gelegenheit ergibt, so läßt man ihn fallen.
Das folgende Lob Lenins für Engels ist eher ein intellektuelles Eigentor, es läßt nämlich beide großen „Theoretiker“ eher alt ausschauen:
„Der Dialektiker Engels bleibt am Ende seiner Tage der Dialektik treu. Marx und ich, sagt er, hatten einen ausgezeichneten, wissenschaftlich exakten Namen für die Partei, aber es fehlte die wirkliche, d.h. die proletarische Massenpartei.“ (S. 94)
Eine Lachnummer. Der Name paßt, es fehlt nur die Partei.
Und was heißt in diesem Zusammenhang „wissenschaftlich exakt“? In beiden Fällen liegen Absichtserklärungen vor, auch wenn Engels sich über den Umstand hinwegtäuschen will: Wer sich als Kommunist bezeichnet, bringt damit zumindest einen Vorbehalt gegen das Privateigentum zum Ausdruck, erklärt es für ein Zu-Überwindendes. Wer sich als Sozialdemokrat bezeichnet, betont seine soziale Ader und bekennt sich zur Demokratie als Herrschaftsform.
Somit hatten die beiden Parteien genau die Namen, die ihrem Programm entsprachen.
Lenins programmatische Erklärung am Ende dieses Kapitels mag als frommer Wunsch angesichts der späteren Entwicklungen grotesk erscheinen:
„Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, daß eine Gesellschaftsordnung anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde. Doch in unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterdrückung einzuhalten.“ (S. 95)
Diese schöne neue Welt ist aber nicht deshalb nicht zustandegekommen, weil Lenin sie nicht aufrichtig gewünscht hätte, oder selbst nicht an seine Sprüche geglaubt hat. Nein, der Kommunismus sowjetischer Prägung ist deshalb gescheitert, weil Lenin die feindselige Welt, der er gegenüberstand, falsch bestimmt hat, wie in diesem vorliegenden Falle den Staat und die Demokratie.