Pressespiegel: Hírklikk, 27.7. 2019

ES IST ZWAR WIDERWÄRTIG, WAS IN UNGARN PASSIERT, ABER ES HERRSCHT ORDNUNG
G.M. Tamás im Gespräch mit Péter Németh
(Original hier)

Die ungarische Regierung hat mit der Außenwelt gebrochen, worin auch die Intelligenzia und die Schüler und Studenten inbegriffen sind, – das sagt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás in seinem Interview mit HÍRKLIKK. Im Zusammenhang damit formulierte er seine Überlegungen, warum Proteste im In- und Ausland wirkungslos bleiben. Er betont auch, daß man diese gegenwärtige (ungarische) Regierung mit friedlichen Mitteln nicht loswerden kann. In Ungarn gibt es einen neuen, modernen Faschismus. Aber es gibt auch größeres Unheil: Der Klimawandel wird zu einer dramatischen Situation führen. Dazu sagt G.M. Tamás: Deine Kinder werden anbrennen wie die Wurst in der Pfanne.

Am Tag des Erscheinens dieses Interviews tritt Viktor Orbán in Baile Tusnad (1) auf. Was meinst du, wird er eine angriffslustige oder eher neutrale Rede halten? Es geht um den Konflikt mit der EU und der Europäischen Volkspartei.

Es ist mir total wurscht, was Viktor Orbán in Baile Tusnad verkündet. Ich halte es nicht für wichtig. Wir kennen das Programm: Einmal ruft er auf zum Krieg, ein anderes Mal beruhigt er das Publikum wieder. Zwischen diesen beiden Polen bewegt er sich, denn die Unterdrücker-Systeme bestehen aus diesen 2 Elementen. Einmal muß man die Leute mobilisieren – aber nicht zuviel, weil das gibt Scherereien –, ein anderes Mal muß man zu Ruhe und Ordnung aufrufen. Man muß die Leute gleichzeitig bewegen und ruhigstellen.

Die Soziologin Zsófia Nagy meint, Orbán wählt absichtlich gesellschaftliche Gruppen als Feindbild aus, möglichst solche, die keine Möglichkeit zum Widerstand haben. Läßt dich dieses Problem auch kalt?

Seit dem Fall Napoleons und der Heiligen Allianz, also seit 200 Jahren, ist das die Taktik der herrschenden Klasse. Vorurteile gabs immer. Aber seit damals ist die Hasspropaganda ein wichtiger und offizieller Teil der Staatsverwaltung und des staatlichen Lebens. Ideologische Manipulation ist eine grundlegende Funktion des modernen Staates. Meistens richtet es sich gegen solche Gruppen, deren Ruinierung keine besonderen Probleme hervorruft. Dafür werden vorhandene Vorurteile gegen rassische Unterschiede oder solche des Geschlechts benutzt – (oder auch das Generationsproblem: denken wir nur an die Hetze gegen die Jugend 1968!) und verbinden die mit den beiden klassischen gesellschaftsbezogenen Gefühlen. Das eine davon ist der Brotneid, das andere die Existenzangst. Von den wohlhabenden, einflußreichen gebildeten „Fremden“ grenzen sie sich moralisch ab; die armen, gesellschaftlich ausgegrenzten, Forderungen stellenden „Fremden“ halten sie für gefährlich. Es ist im Interesse des modernen kapitalistischen Staates, die berechtigte gesellschaftliche Unzufriedenheit gegen die – scheinbar oder tatsächlich – auf der obersten und untersten gesellschaftlichen Stufe stehenden Gruppen zu lenken, wenn diese als fremd oder gesellschaftlich verwerflich gelten. Diese Taktik hat schon zu Massenmorden, massenhaften Deportationen und Bürgerkriegen geführt und tut dies auch heute (denken wir an die Rohingya, die Genozide in Ruanda und Ex-Jugoslawien), aber der Staat lernt nicht.

Aber es ist doch nicht uninteressant, was so vorgeht. Als ich das letzte Mal hier war, wurde gerade die Ruinierung CEU (2) betrieben, derzeit diejenige der Akademie der Wissenschaften (3)

Ist schon geschehen.

Ja, es ist geschehen, ich wollte nur sagen, daß diese Aktionen der Regierung auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen sind.

Das stimmt so nicht. Es gibt keine Universität, Akademie, wissenschaftliche Gesellschaft, Rektorenkonferenz, Schriftstellervereinigung, die nicht gegen dieses Zerstörungswerk aufgetreten ist. Regierungen haben protestiert, der Widerstand war gewaltig, aber das bedeutete der ungarischen Regierung nichts, weil sie hat mit der Außenwelt gebrochen, worin auch die Intelligenzia und die Schüler und Studenten inbegriffen sind. Die Meinung der britischen, französischen und deutschen Akademien, von Sorbonne, Cambridge, Oxford, Harvard und Yale würde die französische oder deutsche Regierung (immerhin Großmächte) von solchen plumpen Maßnahmen abhalten. Aber Orbán nicht. Nicht deshalb, weil er so viel Macht hat, sondern deshalb, weil er Ungarn soweit gebracht hat, daß es nicht mehr zu den zivilisierten Nationen gehört. Ihm ist das ganz gleichgültig.

Aber warum ist es den Mitgliedern der ungarischen Gesellschaft gleichgültig?

Es ist ihnen überhaupt nicht gleichgültig. Es gab ja große Demos und Proteste. Alle Organisationen der Geisteswelt verurteilten diese Vorgangsweise, auch die Konservativen. Weder in Ungarn noch in Siebenbürgen und der Vojvodina gibt es eine Universität, einen Lehrstuhl, eine wissenschaftliche Gesellschaft, die nicht protestiert hätte. Der Aufschrei ging von Sibirien bis Kalifornien. Auch Demonstrationen gab es.

Das heißt aber, daß es keine Macht in Ungarn gibt, die Orbán von seinen Absichten abbringen oder diese Regierung loswerden könnte.

Es gibt keine Chance, in keiner Hinsicht und auf keine Art, diese Regierung zu beseitigen. Das ist eben das Wesen einer Diktatur: friedlich kann man sie nicht beseitigen, es gibt keinen Herausforderer im Inneren, der Aussicht auf Erfolg hätte. Über was wundern wir uns?
Vor 30 Jahren, zur Zeit des Systemwechsels, hätten wir uns das freilich nicht gedacht. Aber seit 9 Jahren, seit 2010, haben wir ein neues System, nicht das, was ’89 entstanden ist. Es ist sinnlos, sich über das vorige zu unterhalten, das war anders. Das war ein verfassungskonformer, liberaler, pluralistischer Rechtsstaat, was man vom jetzigen nicht sagen kann.

Es ist sinnlos, sich über das zu unterhalten, für das du aktiv gekämpft hast? (4)

Nein. Es ist vorbei, aus, Schluß. Dieses System lebte von 1989 bis 2010. Ein abgeschlossenes Kapitel. Es war eine wichtige Epoche, aber sie ist abgeschlossen. Noch dazu ist es ein Zeitabschnitt, den die heute Lebenden im historischen Sinne zurückweisen, verachten, verurteilen. Weil sie ihn (nicht zu Unrecht) mit der Privatisierung, der Arbeitslosigkeit, den Kürzungen und den dauernden Debatten verbinden.

Manche würden da sagen: Wir könnten nicht ruhig hier sizen und auf die Regierung schimpfen, wenn es wirklich eine diktatorische wäre.

Das stimmt nicht. Warum zum Teufel sollten Orbán und seine Freunde beunruhigt sein über das, was wir hier besprechen, wenn das ihr System nicht im Geringsten gefährdet? Sie sind ja nicht verrückt. Von uns geht überhaupt keine Gefahr für sie aus.

Wir sind sozusagen das Feigenblatt?

Nicht einmal das. Wir sind völlig irrelevant.

Was soll ein denkender Mensch unter solchen Umständen tun?

In den 200 Jahren, seit der moderne Staat mit seinem unterdrückerischen Charakter besteht, gab es – wenn es hoch kommt – insgesamt 20 Jahre, wo so etwas wie Freiheit herrschte. 20 aus 200. In den restlichen 180 Jahren lebten die Menschen auch, und schufen einiges. Das ist alles nichts Neues. Der Mensch erledigt sein Tagwerk, versucht sich frei zu bewegen und kritisch zu denken, den Rest überläßt er der Vorsehung.

Das meinst du aber jetzt nicht ernst!

Das ist mein tödlicher Ernst.

Ich glaube es deshalb nicht, weil du ein sehr leidenschaftlicher Mensch bist.

Natürlich bin ich leidenschaftlich, aber ich bin gleichzeitig nicht naiv. Ich habe keine Illusionen. Dieses System ist von innen her nicht zu knacken. Solange die heute gültigen Regeln eingehalten werden, läßt sich da nichts machen. Auf eine friedliche Veränderung brauchen wir nicht hoffen.

Die vorherrschende Meinung ist, daß eine Veränderung nur von innen kommen kann, nicht von außen.

Von außen ginge es, aber die Betreffenden wollen das nicht.

Warum nicht?

Weil hier Ordnung herrscht. Mit Ungarn gibt es kein Gfrett, zum Unterschied von Somalia, Sudan, Tschad, Irak, Äthiopien. Dort sprechen die Waffen. Es ist zwar abstoßend, was in Ungarn passiert, aber hier herrscht Ordnung. Hier wird auch einmal ein Zusammenbruch kommen, Chaos, radikale Veränderungen – wenn es zu spät ist. Aber das wünsche ich niemandem, genausowenig, wie ich jemandem dieses eklige System wünsche, das von Gier, Materialismus, Angst und Chauvinismus zusammengehalten wird.

Das heißt, es gibt gar keinen Kampf der EU für den Rechtsstaat?

Natürlich hätten sie gerne einen Rechtsstaat, aber wichtiger als der osteuropäische Rechtsstaat ist ihnen, in der Früh Kaffee mit Milchschaum im Bett trinken zu können und nicht im Schützengraben verrecken zu müssen. Wer will Krieg? Wer will Konflikte? Wer will Armut und Elend? Niemand. Wenn man aber ein Land ernsthaft unter Druck setzt, so verursacht das Konflikte. Die EU bewegt sich sowieso auf ihre Auflösung zu. Keiner will Probleme, schon gar nicht dann, wenn es auch so schon genug Sorgen gibt.

Du sagst also, daß das Auftreten der Volkspartei gegen Fidesz (5) …

Bitte erwähne diese Europäische Volkspartei nicht, sie ist völlig bedeutungslos. Die europäischen Parteienfamilien leben vor allem in der ungarischen Presse, im Westen sind sie unbekannt. Sie wurden zu einer Art ungarischer Manie, als ein Aspekt der Orbán-Manie und der Orbán-Phobie. Ich sag’s noch einmal: Woanders interessieren die niemanden. Und zu Recht. Sie sind bedeutungslos.

Zumindest für uns sind sie unter dem Gesichtspunkt wichtig, daß sie Fidesz zur Ordnung rufen wollen.

Sie haben einen schwachen Versuch in die Richtung gemacht. Für mehr reichte es nicht.

Ist deiner Ansicht nach der Versuch bereits gescheitert?

Sicher bin ich nicht, ich glaube aber schon. Wer weiß, wie lange dieses folgenlose Hin und Her noch weitergeht.

—– 2. Teil des Interviews ——

_______________________________________

(1) Eine Stadt in Rumänien, im Siedlungsgebiet der ungarischen Minderheit, wo seit Anfang der 90-er Jahre eine „Sommeruniversität“ stattfindet, die aber keineswegs der Wissenschaft huldigt, sondern der Selbstdarstellung ungarischer Politiker dient, die Siebenbürgen als ihre Bühne betrachten.

(2) Central European University, von George Soros gegründete Privatuniversität, die sehr großzügig Stipendien an Studenten aus ehemals sozialistischen Staaten verteilt. Aufgrund angeblicher verbotener Finanzierung wurde diese Institution 2018 zum Umzug nach Österreich genötigt.

(3) Die Ungarische Akademie der Wissenschaften (MTA) soll in Zukunft alle Forschungsprojekte vom Ministerium für Innovation und Technologie genehmigt bekommen, was der bisherigen Funktionsweise dieser Institution widerspricht.

(4) G.M. Tamás war Gründungsmitglied des Bundes Freier Demokraten und saß mehrere Jahre als Abgeordneter im Parlament.

(5) Die Europäische Volkspartei wollte Fidesz aus ihren Reihen ausschließen, ließ es aber dann doch bleiben, weil das interne Risse bei der EVP vergrößert hätte.

Pressespiegel El País, 21.7.: Negativzinsen

DIE ZAHL DER UNTERNEHMEN, DIE BANKEN FÜR EINLAGEN BEZAHLEN, WÄCHST
20% der Einlagen von Unternehmen in der Eurozone müssen aufgrund der von der EZB festgelegten negativen Zinssätze bereits Zinsen an Unternehmen zahlen
Die Welt steht kopf. Die Praxis des Bezahlens beim Geldverleih hat sich etabliert. Früher war es für die Bank normal, für Einlagen Zinsen zu bezahlen. Und dann konnte die Bank dieses geliehene Geld zu einem höheren Zinssatz verleihen und so einen Gewinn erzielen.
Jetzt ist das kompliziert geworden – aufgrund von der EZB festgelegten negativen Zinssätze, die die Banken für ihre Liquidität bestrafen. Bis zu dem Punkt, dass in der Eurozone nach Angaben der Eurobank bereits 20% der Einlagen von Unternehmen der Bank Zinsen zahlen.
Daher empfiehlt die von Mario Draghi geleitete Organisation den Banken nachdrücklich, für die Aufbewahrung des Geldes der Unternehmen zu kassieren. Im Falle von Privatpersonen rät die EZB davon ab, da diese dann das Geld aus der Bank abziehen und unter die Matratze stecken könnten.
Zur Bewältigung der Krise hat die Europäische Zentralbank dem Finanzsystem insgesamt Liquidität zugeführt. Der Geschäftsgang der Banken war jedoch schlecht, sie gingen kein Risiko ein und borgten daher nichts her. Das Geld, das die EZB ihnen gab, zirkulierte nicht.
Diese überschüssigen liquiden Mittel legten sie in den Kassen der Eurobank ab, wo sie sich ansammelten, ohne in der Realwirtschaft anzukommen. Die Zentralbank musste darauf reagieren und setzte eine Strafzahlung von -0,4% für diese Einlagen fest, den sogenannten Negativsatz.
Das veranlasste die Banken, sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen, um ihr Geld zu deponieren. Vor allem, weil sie einander immer noch nichts verleihen.“
Dieser Satz ist sehr wichtig, weil er besagt, daß der ganze Interbankenhandel zum Erliegen gekommen ist. Seit der Krise verdächtigt jede Bank die andere, jeden Augenblick zahlungsunfähig zu sein. Gerade ihresgleichen vertrauen die Banken also kein Geld an.
Das heißt weiter, daß die EZB mehr denn je als lender of last resort gefragt ist.

Die Banken verleihen kein Geld aneinander und borgen sich nichts voneinander aus.
„Umso eher, falls sie in verschiedenen Ländern domiziliert sind.
In diesem Zusammenhang bemühen sich die Unternehmen seit Mitte 2014, diese Liquidität in öffentliche Schuldtitel zu investieren, die ihre Bilanzen nicht mit Strafzahlungen belasten. Aber auch Versicherer und Pensionskassen müssen Geld sicher verwahren.
Und auch sie investieren es in öffentliche Schuld. Sobald darüber hinaus große Unsicherheit über die Konjunktur besteht, drängen sich weitere Anleger auf den Markt für Staatsanleihen. Die Situation ist so weit gediehen, daß mehr als die Hälfte der Staatsanleihen in der Eurozone negative Zinsen bieten.“
„Verlangen“, müßte es eigentlich heißen, weil als Angebot kann man dieses Begehr nicht bezeichnen.
„Die Banken könnten das Geld als Banknoten bei sich aufbewahren, um die Strafzinsen durch die EZB zu vermeiden. Aber das ist teuer, es erfordert Sicherheitvorkehrungen und verursacht immense logistische Probleme, um es dorthin zu bringen, wo es gebraucht wird. Geld ist heute nämlich eine elektronische Angelegenheit, die sich in großen Mengen besser digital verschieben lässt.“
Ja, das liebe Bargeld, nix wie Gescher hat man damit.
„Und Unternehmen haben das gleiche Problem mit ihrem Barvermögen. Sie müssen die Zahlung an Zulieferer, die Auszahlung der Gehälter, ausstehende Zahlungen usw. verwalten. Wenn sie nur das Geld sicher aufbewahren wollten, könnten sie Anleihen kaufen. Das erlaubt ihre Situation aber nicht.
Da die EZB über weitere Zinssenkungen nachdenkt, hat sie eine Studie erstellt, in der sie die Gültigkeit dieser Negativzinsen verteidigt. Und er argumentiert, dass Banken den Unternehmen ihre Einlagen in Rechnung stellen können.“
Auch nicht schlecht. Die Unternehmen, die teilweise ohnehin mit heraushängender Zunge der Konjunktur nachlaufen, sollen jetzt den Banken für die Verwaltung ihrer Liquidität außer den ohnehin bereits anfallenden Gebühren auch noch Zinsen auf ihr Konto-Plus zahlen.
Die EZB sieht die Negativzinsen als bleibenden Gast und versucht den Banken einzureden, auch damit ließen sich Geschäfte machen.

„»Ein Prinzip der modernen Wirtschaft besagt, dass die Geldpolitik nicht mehr viel erreichen kann, wenn sich die Zinssätze […] Null nähern, weil die Marktakteure das Geld in bar ansammeln«, erinnert sich der Bericht der Eurobank.“
Ein schönes Eingeständnis der Ohnmacht der Zentralbanken. Alle schönen Grundsätze aus Lehrbüchern sind wertlos, wenn Faktoren eingetreten sind, die dort nicht vorkommen. Die allgemeine Überschuldung und der reichliche Kredit der EZB halten zwar die Ökonomie aufrecht, verhindern einen Crash, aber das wars dann auch schon. Mehr Pulver haben sie nicht zum Verschießen.
„Die Experten der EZB verwenden dieses Dokument jedoch, um diese Behauptung zu widerlegen. Ihrer Meinung nach funktionieren die Negativzinsen. So sehr, dass in der Eurozone bereits 20% der Geschäftseinlagen Zinsen an die Bank zahlen – 5% der gesamten Einlagen.“
Man fragt sich, wer die anderen Einlagen sind, die entweder auch oder nicht Strafzinsen zahlen. Der EZB-Bericht läßt die Zinssituation der restlichen 95% der Einlagen offen. Sind es kleine Sparer, sind es dicke Anleger, sind es Institutionen? Erhalten die noch Zinsen auf ihre Einlagen?
„Die Situation ist regional sehr unterschiedlich: In Deutschland werden bei bis zu 50% der Einlagen von Unternehmen – 15% der gesamten Einlagen – Zinsen an die Bank gezahlt. In den Peripherieländern hingegen machen diese Einlagen kaum 5% der der gesamten Unternehmenseinlagen aus.“
Surprise, surprise. Unternehmen, die ordentliche Gewinne machen, können sich diesen Aderlaß noch leisten, aber diejenigen, die ohnehin schon in Schwierigkeiten sind, wohl kaum. Das heißt natürlich, daß auch die Banken in Krisenländern diese Einnahmequelle nicht anzapfen können, um ihre Bilanzen zu verbessern.
„Der Präsident der BBVA, Carlos Torres, gab 2016 zu, daß in einigen Fällen von der Bank Zinsen eingehoben worden waren. Und derjenige von Bankia, José Ignacio Goirigolzarri, sagte dasselbe vor einigen Wochen. Es handelt sich hier um Unternehmen, die ihre flüssiges Vermögen bei der Bank einlegen und mit denen sie keine Verträge über Dienstleistungen oder Kredite abgeschlossen haben, für die sie Gebühren erheben können. In keinem Fall geht es hier um Einzelpersonen.“
Man fragt sich, um was für Firmen es sich hier handelt, – die ihr Geld auf die Bank tragen und dann nicht mehr anrühren? Auch das Dementi, es seien keine Einzelpersonen, ist eigenartig.
„In ihrem Bericht möchte die EZB nachweisen, dass Banken einen erheblichen Teil der Einlagen von Unternehmen in Rechnung stellen können. Und das liegt daran, »dass Unternehmen ihre Geschäfte ohne Bankeinlagen nicht ohne weiteres betreiben können«, wird dort angeführt.
Vor allem dann rät der Bericht dazu, wenn die Banken gesund sind. Tatsächlich hätten dort die Einlagen aufgrund des Bedürfnisses nach Sicherheit zugenommen. In der Peripherie hingegen fürchten die Banken, ihre Hauptfinanzierungsform zu verlieren, und nur wenige Banken heben Negativzinsen ein, steht weiters in dem Bericht.“

Die EZB meint, die sogenannten „gesunden“ Banken könnten ihre Geschäftskunden sozusagen erpressen, weil die keine andere Wahl haben, als auf ihre Hausbank zu setzen. Die EZB drängt förmlich, doch die Blutegel auf ihre Firmenkundschaft anzusetzen.
Abgesehen davon, daß die Unternehmen dadurch nicht unbedingt zahlungsfähiger würden, ist auch zu fragen, welche Banken denn jetzt als verläßlich angesehen werden? Und von wem?

„Auseinanderdriften des Finanzsektors
Die spanischen Bankfachleute meinen, daß sich der Banksektor zwischen Zentrum und Peripherie sehr unterschiedlich entwickelt: Als sicher gelten die Banken von starken Staaten, die sie unterstützen können.“
Oh oh. Das sind ja Erinnerungen an das Wallersteinsche Weltsystem.
„Da ist z.B. die Deutsche Bank, die eine schwierige Phase durchläuft, aber hinter der das deutsche Finanzministerium steht.
»Die EZB – Studie ist etwas optimistisch. Die Daten der Eurozone sind durch die deutschen Zahlen verzerrt. Und Einlagen von Unternehmen sind insgesamt nicht so wichtig«, sagt Francisco Vidal, Chefökonom bei Intermoney.“
Man fragt sich, welche Einlagen eigentlich wichtig sind? Die EZB will die Banken auf eine mögliche Finanzierungsquelle hinweisen, von der die meisten von ihnen offenbar nichts wissen wollen.
„Der Bericht der EZB besagt auch, dass die Investitionen zunehmen, weil Unternehmen ihre Einlagen an andere Ziele verlagern. Die Investitionsdaten weisen jedoch weder in der Eurozone noch in Deutschland auf diesen Trend hin.“

Das heißt, die Unternehmen haben gar keine überschüssige Liquidität, oder sie tragen sie nicht auf die Bank.

„Risiko für die Banken
Eine Studie der spanischen Nationalbank geht davon aus, dass negative Zinssätze die Kreditvergabe nicht nachteilig beeinflusst haben. Obwohl der Geschäftsgang der Banken nicht berauschend ist, läßt sich im Moment auch nicht feststellen, dass die negativen Zinsen ihre Renditen stark belastet hätten. Zinsmargen leiden, aber im Moment hat es geholfen, dass Banken Anleihen hatten und mit ihren Wertsteigerungen verdienen.“
Mit einem Wort, daß sie Anleihen kaufen und mit Gewinn an die EZB weiterverkaufen. Das scheint heutzutage eines der Hauptgeschäfte der Banken der Krisenstaaten zu sein. Sie hängen also alle am Tropf der BZE mit ihrem Anleihenaufkaufprogramm.
„Die Niedrigzinsen begünstigen das Wachstum, dadurch werden säumige Zahler in die Lage versetzt, ihre Kredite zu bedienen, faule Kredite werden verkauft und Rückstellungen aufgelöst. Darüber hinaus verbessern die Banken ihre Leistungsfähigkeit durch Verschlankung des Personalstandes und technologische Neuerungen.“
Leute entlassen und stärkere Server anschaffen – dadurch wächst die Zahlungsfähigkeit der Kundschaft nicht unbedingt. Die bestimmt aber den Geschäftsgang der Banken.
„Aber all dies könnte eine Grenze haben und die Rentabilität beeinträchtigen, warnen Stimmen aus dem Banksektor. Um so mehr, als das Bankgeschäft in Spanien sehr auf Einlagen und variablen Zinssätzen basiert.
Bei geringem Wachstum, in dem keine Nachfrage nach Krediten besteht, besteht das Risiko, daß das Vertrauen in die Bezahlbarkeit der Rechnungen schwindet, was zu finanzieller Instabilität führt. Der Börsenkurs liegt bereits unter dem Buchwert. Um den Banken nicht zusätzlich zu schaden, überlegt die EZB die Staffelung von Einlagen: Dann würden die Banken die 0,4% Zinsen nur für einen Teil der Einlagen bei der EZB zahlen.“
———-
Das heißt, die EZB rechnet damit, weiter als Parkplatz für Liquidität der Banken herhalten zu müssen, weil sie weder Anlagesphären finden noch einander vertrauen wollen.
Dieser Bericht wirft kein gutes Licht auf den Zustand des europäischen Banksektors.
Der Titel des Artikels gibt eher das Wunschdenken der EZB wieder, daß die Banken sich doch eine Finanzierung außerhalb der EZB erschließen mögen, obwohl es dafür keine Grundlage gibt.

Gastkommentar: „Der soziale Staat“ von Dillmann/Schiffer-Nasserie

DER GEGENSTANDPUNKT SPIELT DIE BELEIDIGTE LEBERWURSCHT
Angesichts des kenntnisreichen und agitatorischen Werkes „Der soziale Staat“ zeigt sich der GSP beleidigt. So etwas hat er in 45 Jahren nicht hinbekommen, nicht einmal ansatzweise. Weil er es nicht hinbekommen hat, andere aber schon, muss es falsch, falscher geht es gar nicht, sein.
Diese schräge Logik bebildert er in einem – oder mehreren – Vorträgen zum Sozialstaat, wie folgt:

1. Negative Urteile und die Aufforderung, doch selber zu prüfen – Wissenschaft vom Feinsten

1a. Die Autoren verfassen keine systematische Ableitung. Darauf haben wir, der GSP, aber einen Anspruch in dem Sinne, daß wir definieren: Wissenschaft = Ableitung (was immer man darunter verstehen will, die Methode des GSP eben), deshalb ist alles, was nicht als Ableitung angelegt ist, schon einmal unwissenschaftlich und daher falsch.
So ergeht sich der GSP dann des öfteren in der öden Wiederholung des negativen Urteils, daß hier die richtige Methode nicht angewendet wurde und daher alles verkehrt sei.
1b. Die gehen doch glatt durch die einzelnen Abteilungen des Sozialstaates durch, das ist doch keine Ableitung!
1c. Dann kommt auch noch Geschichte vor, Bismarck ganz prominent, so geht doch keine Ableitung!
1d. Dann stellen sie auf Seite 27 ein „Schaubild“ ein – OMG, wie kann man denn mit einem Schaubild etwas erklären?!
Der gute Mann kennt noch nicht einmal den Unterschied zwischen einer tabellarischen, begrifflichen Zusammenfassung, die auf den Ausführungen der 7 Seiten zu „Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft“ beruht, und einem Bild, also einer Zeichnung oder so etwas, wo Gegenstände oder Leute abgebildet sind:
�Schaubild�
Es ist schon erstaunlich, mit wie wenig Substanz und welch völlig unkundigem Gerede in der Sache der GSP in der – zugegeben recht begrenzten – Öffentlichkeit auftritt.
Der Referent fordert das Publikum auf, ihm nicht einfach zu glauben, sondern die Erläuterungen selbst zu prüfen. Das muß dem p.t. Publikum einmal nahegelegt werden, weil es dazu offenbar selber gar kein Bedürfnis hat.
Man kann das als offen erklärten Offenbarungseid eines Vereins betrachten, der sich in jahrzehnterlanger Kleinarbeit eine treudoofe Hammelherde herangezüchtet hat. Stichwort (Marburger Lösung): „Wir warten erst einmal, was aus München kommt“.
Jetzt ist also der GSP mit dem Resultat eignen Treibens konfrontiert, nämlich einer Glaubensgemeinde, die sich auf das Buch angesprochen, sich bestenfalls irgendetwas zusammenstammelt nach dem Motto, da sind irgendwie Fehler drin, „ich und andere“ hätten das vielfach getestet.
Man stelle sich einmal vor, man geht zu einem wissenschaftlichen oder politischen Vortrag und der Referent bettelt, bitte glaubt mir nicht einfach, denkt selber – ist so etwas vorstellbar, nein, beim GSP aber schon – man denkt ans Mittelalter, und an seine Überwindung: Nein, nicht einfach nur mehr was glauben!
So bleibt nur noch etwas zu den
2. Idealismen
des GSP zu sagen:
2a. Das Grundeigentum und der Wohnungsmarkt
In deutschen Großstädten ist eine neue Wohnungsnot ausgebrochen. Ein Normalverdiener zahlt derzeit rund ein Drittel seines Einkommens für ein Dach über dem Kopf – und die Mieten steigen weiter. Dass diese elementare Lebensbedingung für die arbeitende Bevölkerung ein Luxus ist, den sie sich kaum leisten kann, wird hochoffiziell als „soziales Problem“ anerkannt. „Besonders vor Wahlen versprechen Politiker, sich dafür einzusetzen, dass »das Wohnen bezahlbar bleibt« – was als Diagnose und Therapie schon alles sagt: Nach 150 Jahren kapitalistischen Wachstums ist es das für viele eben nicht.“ (Gleichnamiger GSP Artikel, 2/14, s. 123)
Ach so, eigentlich hätte die Wohnungsnot nach all den Jahren schon verschwinden müssen.
Oder aber, vor 150 Jahren hatte jeder was zum Wohnen?!
Man fragt ja nur, was der Hinweis auf die 150 Jahre eigentlich soll.
2b. Das liebe Geld
„Zwar herrscht an Notlagen kein Mangel in »unserer Überflussgesellschaft«. Die davon Betroffenen haben aber noch nie ein Gesuch um die amtliche Betreuung an die Obrigkeit gerichtet. Sie haben in der Regel einen recht eindimensionalen Begriff von der Ursache ihrer Lage – dessen Richtigkeit kaum zu bestreiten ist; zu wenig Zaster.“ (Beruf Sozialarbeiter, in: Die Jobs der Elite, S.124)
Der Referent behauptet völlig herbeigelogen, dafür aber permanent, die Autoren von „Der soziale Staat“ gäben immer nur Geldmangel als Grund der Misere an.
Das hat er wohl seinen eigenen Schriften abgelauscht:
„So geht im modernen Klassenstaat Volksgesundheit. Funktionieren kann das freilich nur so, dass der Staat den Medizinbetrieb als Teil des kapitalistischen Geschäftslebens organisiert, dem er zuarbeitet … Die organisierte Volksgesundheit ist zwar für alle da, aber sie soll und kann nur in der Weise für alle dasein, dass sie gemäß den Kriterien der Konkurrenz freier Erwerbspersonen hergestellt wird, um deren Opfer sich die Medizin zu kümmern hat: Sie ist eine Geldfrage. (Broschüre Gesundheit, Gegenstandpunkt Verlag, Seite 77)
Dem GSP scheint die Kategorie Geld so eine Art Allschlüssel zu sein: Mit dem tumben Hinweis auf Geld ist auch die gesundheitliche Betreuung ursächlich geklärt.
So, so.
2c. Das Soziale und die Revolution
„Auch beim Sozialstaat ist also absolut nichts Revolutionäres in Sicht im Zuge dieser industriellen Revolution. Der zur Lohnarbeit gehörende Pauperismus war auch schon vor der »Wertschöpfung in der digitalen Welt« eine öffentliche Angelegenheit und bleibt es auch in der digitalen Zukunft.“
(Industrie 4.0., GSP 2/16, Seite 51)
Aha, was der GSP dem Sozialsstaat so für ein Potential zumisst, prinzipiell jedenfalls. Und oho, die Veränderung der Produktivkräfte könnten ggf. was Revolutionäres hervorbringen in Sachen Sozialstaat. Da fehlt es doch ein bisschen an den Grundlagen einer marxistischen Analyse.
3. Warum dieses Buch so gut ist
Bei so viel idealistischem Schwachsinn über den Sozialstaat empfehle ich dem GSP mal das Buch „Der soziale Staat“ zu lesen. Da werden solche Vorstellungen grundlegend kritisiert. Wenn gewünscht, ließe sich sogar ein Lesekreis zum Thema einrichten, da könen sich der Referent und andere Interessenten mal anmelden – kostenfrei.
Insgesamt: Was soll man schon von einem kleinbürgerlicher Eliteverein erwarten? Die wollen halt gern recht haben, egal wie, – da kommt dann so etwas raus.
Wer wirklich was zum Sozialstaat erfahren will,
1. kaufe das derart geschmähte Buch und lese es.
2. Das Internet bietet auch einen Vortrag der Autorin, und ein Interview mit beiden Autoren.
3. Es gibt im Netz einige Rezensionen: Besonders sei die von Norbert Wohlfahrt empfohlen, der zunächst einen redlichen Überblick über die Inhalte des Buches gibt und auch den historischen Abriss erläutert und dabei nicht wie der GSP-Referent schon beim Namen Bismarck das Stottern kriegt.
4. Wir dulden keinen Gott außer uns
Nachtrag: Es gibt für den GSP offensichtlich das Bedürfnis, mit großem Fleiß und Einsatz (z.B. mit einer Wochenendschulung, über die ein Audiomitschnitt vorliegt, sowie einem Protokoll, besser ein Chefpapier von Konrad Hecker, und schließlich mit öffentlichen Vorträgen) gegen dieses Werk anzutreten.
Nach außen, vor allem aber nach innen seinen Anhängern gegenüber, arbeitet sich der GSP ja an der Vorstellung ab, dass politische Arbeit, insbes. Agitation, unheimlich schwer ist. Keiner seiner Anhänger bekommt irgendetwas hin. Nach 40 Jahren Schulung stellt sich besagter Hecker vor einem Haufen Professoren und Oberstudienräten hin und sagt: Die Chronik der laufenden Ereignisse – also die 2-3 Seiten Infos zum Weltgeschehen im Vorfeld anderer Artikel im Gegenstandpunkt – müsse eingestellt werden, da es niemand mehr gäbe, der so was schreiben kann. (!!!)
Normales Deutsch ist also demzufolge beim GSP ausgestorben, nur mehr für die verschlüsselten und verdrechselten Artikel, deren Inhalt sich für Normalverbraucher gar nicht erschließt, finden sich noch Schreiber bei dieser ausgedünnten Mannschaft, die ständig jammert, es fehle ihr an „Ressourcen“!
Und jetzt kommen welche daher und zeigen, dass man ein Buch, welches den Sozialstaat darstellt bzw. erklärt, gleichwohl keine „Ableitung“ ist, enorm kleinschrittig, gut lesbar und agitatorisch verfassen kann. Zudem hat die Autorin Dillmann früher selbst einige GSP Artikel mitverfasst, ein Buch über China verfaßt, und hat in GSP Kreisen immer noch einen guten Namen. (Der Autor dieser Zeilen war selbst überrascht, wie vielen GSP-Anhängern er das Buch verkaufen konnte.)
Summa summarum: für einen kleinbürgerlichen Eliteverein, der in erster Linie in Konkurrenzkriterien reflektiert (Wir sind besser als alle anderen!), ist ein solches Werk aus den bisher genannten Gründen ein wahrer Alptraum.
Das also ist das Substrat oder die vorläufige Endstation eines Vereins, der mit dem Anspruch antritt, der einzige und wahre marxistische Analytiker zu sein.
__________
Renate Dillmann selbst bezieht auf ihrer Website auch Stellung zu den GSP-Anwürfen gegen ihr neues Buch (Scrollen nach unten):
Zur Kritik der Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ am Buch „Der soziale Staat“