Annexion, Teilung, Föderation – gar ein Einmarsch?

WAS HAT RUSSLAND IN DER UKRAINE VOR?
Rußland hat im März dieses Jahres die Krim heim ins Reich geholt. Das hat einen Sturm der Entrüstung in den westlichen Medien hervorgerufen, die seinerzeit nichts dabei fanden, als sich die Ukraine von der Sowjetunion abspaltete und die Krim dabei mitnahm. Um die Krim und deren Bewohner kann es also nicht gehen. Es ist einfach alles, was Rußland nützt oder Rußland Vorteile bringt, ein einziger völkerrechtlicher Skandal.
Seither wird der russischen Regierung nachgesagt, sie wolle sich die ganze Ukraine einverleiben, die Ukraine teilen, oder zumindest einen Teil der Ukraine einkassieren. Der Hunger des russischen Bären sei unersättlich, wird der westlichen Öffentlichkeit suggeriert. Putin ante portas! Vor allem in Polen und im Baltikum werden alte Ängste wieder erweckt und geschürt.
Und dafür, um diesen unersättlichen Landhunger zu stillen, würde Putin beinahe im Alleingang irgendwelche Agenten im Osten und Süden der Ukraine fernsteuern.

1. Rußland und die ostukrainischen Aufständischen

Es ist eine interessante Unterscheidung zwischen den Bewohnern der Ukraine, die hier vorgenommen wird: Während einige Tausend vom Westen unterstützte Krawallmacher eine Regierung stürzen dürfen und dabei als Repräsentanten des ukrainischen Volkes gehandelt werden, so, als hätten sie damit den Willen der Bevölkerung exekutiert – währenddessen sind ebensolche Aufständischen im Osten, die sich gegen die solchermaßen in Kiew eingesetzten Hampelmänner stellen, Separatisten, Agenten einer auswärtigen Macht, womöglich aus Rußland eingeschleust. Auf keinen Fall repräsentieren sie jedenfalls Volkes Willen.
Daß die „Separatisten“ überhaupt zu solchen geworden sind, hat sowohl mit der Haltung des Westens als derjenigen Rußlands zu tun.
Rußlands Position ist seit Wochen, daß die Ukraine als einheitlicher Staat – allerdings ohne Krim – weiterbestehen soll, aber sich eine im Unterschied zur derzeitigen zentralistischen Verfassung eine föderalistische geben soll. Die Ukraine sollte sich nach dem Vorbild von zweifelsohne demokratischen Staaten wie der BRD, Österreichs oder der Schweiz organisieren, mit Regionalwahlen und eigenen Landesparlamenten. Diese Position wird aber von niemandem ernsthaft diskutiert, weder von den Kiewer Hampelmännern, noch von deren Gönnern in USA und EU. Eine solche Verfassung würde nämlich die imperialistische Benützung der Ukraine verunmöglichen, da es nicht mehr möglich wäre, mit der Zentralregierung Verträge auszuhandeln und dann auf diese Druck auszuüben, damit sie die unerfreulichen Bedingungen derselben landesweit durchsetzt.
Diejenigen Bewohner der Ukraine, die sich mit Autonomie begnügt hätten, wurden also von Kiew her schroff abgewiesen.
Rußland hingegen will von einem (weiteren) Anschluß von ukrainischen Gebieten nichts wissen. Es hat alle Hände voll zu tun, um die Krim administrativ und ökonomisch einzugliedern und legt keinen Wert auf weitere Gebiete. Das wurde den Bewohnern der Ostukraine auch klar mitgeteilt.
Denjenigen Unzufriedenen, die die Kiewer Putschisten, die „Junta“ nicht als rechtmäßige Regierung anerkennen wollen, blieb also praktisch kein anderer Weg als der der Eigenstaatlichkeit, weshalb auf die ominösen Abstimmungszettel auch nur mehr diese Variante Eingang fand.
Die Kiewer Regierung und ihre mediale weltweite Unterstützung betreiben weiterhin die Denunziation der ostukrainischen Aufständischen als fremde Elemente – von Rußland unterstützt, von Rußland eingeschleust, – um den verfassungswidrigen Einsatz des ukrainischen Militärs gegen die eigene Bevölkerung zu rechtfertigen. Obendrein werden sie als „Terroristen“ bezeichnet, also als Leute, die keinen politischen Zweck verfolgen, sondern nur den negativen, die bestehende Ordnung zu stören.
Wobei von einer Ordnung im Sinne eines staatlichen Gefüges in der Ukraine eigentlich keine Rede sein kann …
2. Rußlands Pläne und Vorgehen
Die Website des Kaukasus-Emirates veröffentlichte vor einigen Wochen angebliche Pläne Rußlands für einen militärischen Einmarsch in die Ukraine. Der Bericht war etwas zu detailliert, um der bloßen Einbildungskraft eines Dschihadistengehirns entsprungen zu sein: der mit der Planung beauftragte General wurde genannt, und auch einige Details, welche Truppen wie eingesetzt würden.
Solche Pläne gibt es sicherlich, und sie werden von der russischen und militärischen Führung ebenso sicher erwogen wie auch wieder verworfen. Erstens ist die politische und militärische Reaktion des Westens nicht absehbar. Die NATO könnte eine Besatzung der Ukraine durch Rußland als Anlaß für einen Dritten Weltkrieg nehmen. Zweitens ist auch die rein militärische Durchführbarkeit fraglich. Ein endloser Partisanenkrieg vor den Toren Rußlands könnte drohen. Afghanistan läßt grüßen, von Tschetschenien und anderen Kaukasus-Unruheherden ganz zu schweigen.
Rußlands Interesse an der Ukraine ist ebenso stark wie unentschieden. Strategisch ist die Ukraine ein unverzichtbarer Bestandteil der russischen Grenzsicherung, ein Gebiet, in dem es auf keinen Fall NATO-Truppen sehen will. Ökonomisch bezieht Rußland noch immer einen Haufen von Produkten aus der Ukraine, auf die die russische Führung nicht verzichten will. Neben Erzeugnissen der Schwerindustrie gehören dazu auch Bauteile für militärisches Gerät, die Rußland bis heute nicht auf dem eigenen Hoheitsgebiet herstellen kann. Schließlich kann sich Rußland auch keinen Bürgerkrieg in der Ukraine leisten, der gigantische Flüchtlingsströme nach Rußland verursachen würde. Schon heute wurden in den angrenzenden Gebieten Rußlands Anlaufstellen eingerichtet für den seit Jahresanfang stetigen Zustrom von Umsiedlern, die sich in Rußland sicherer fühlen als in der Ukraine.
Natürlich unterstützt Rußland die Aufständischen in der Ostukraine mit Waffen und Beratern, vor allem von der und über die Krim. Natürlich hält es Truppen in Grenznähe in Bereitschaft. Ein tatsächlicher Einmarsch wäre aber nicht im Sinne Rußland, weil die Konsequenzen eines solchen Schrittes nicht berechenbar sind.
3. Der Kampf der Oligarchen und Rußland
Die ukrainischen Oligarchen haben sich die Reichtumsquellen der Ukraine in hartem Kampf unter sich aufgeteilt. Dieser Kampf ist natürlich nie zu Ende. Kaum zeigt sich bei einem Konkurrenten eine Schwäche, so versuchen andere, auf sein Terrain vorzudringen. Julia Timoschenkos Gefängnisaufenthalt hat sie z.B. aus der Gas-Transit-Branche hinausgedrängt und sie wird es wahrscheinlich nicht mehr schaffen, ihre frühere Position wiederzuerobern.
Jeder der Oligarchen hat eine „Sicherheitsdienst“ genannte private Schlägertruppe, die gegebenenfalls mit Fußballfans und Angestellten zu einer kleinen Privatarmee aufgestockt werden kann. Ihre Macht kann jedoch das in der Ukraine fehlende Gewaltmonopol nicht ersetzen. Jeder trachtet danach, notfalls in Koalition mit anderen, möglichst nahe an die politische Macht zu gelangen, Parteien zu gründen oder für sich zu kaufen, um die politischen Entscheidungen in seinem Sinne beeinflussen zu können.
Dieses labile Gleichgewicht ist durch die Ereignisse in Zypern sehr durcheinander gebracht worden. Alle ukrainischen Oligarchen machen den Großteil ihrer Geschäfte mit Rußland und anderen Staaten des ehemaligen COMECON, bzw. mit Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens. Parken tun sie ihre Barvermögen, ihren „Reservefonds“ jedoch mehrheitlich in der Eurozone, um es in richtiges Weltgeld umzuwandeln. Da mußten sie schon in Zypern Federn lassen. Die lockere Art, mit der sich in Zypern ukrainisches und russisches Vermögen einkassieren ließ, hat womöglich die EU-Politiker erst so richtig wagemutig und frech werden lassen, der Ukraine diesen Assoziationsvertrag unbedingt aufs Aug drücken zu wollen.
Jetzt, rund um die Ereignisse des Maidan, hat die EU wiederum Druck ausgeübt: Wer nicht mit uns ist, wird als Verbrecher, Geldwäscher behandelt und sein Geld ist futsch! Und deshalb haben sich die meisten Oligarchen auf die Seite der EU bzw. der USA gestellt.
Nicht so der größte Oligarch der Ukraine, Rinat Achmetov. Achmetov kontrolliert wie kein anderer den Osten der Ukraine. Wenn er heute seine Arbeiter in verschiedenen Städten patrouillieren läßt, so handelt er im Einklang und in Absprache mit Rußland, und übrigens auch mit einem guten Teil der „Separatisten“ wider Willen, zumindest mit deren Führung.
Mit ihm wird sich auch Poroschenko einigen müssen, sollte er es irgendwie schaffen, diese Wahl-Farce als einen Sieg darzustellen und versuchen, die Ukraine zu regieren. Alle Versuche der Rivalen, Achmetov zu diskreditieren und zu entthronen, sind zum Scheitern verurteilt, eben weil er die Rückendeckung Rußlands hat. Er, nicht sein Hampelmann Janukowitsch, war und ist der eigentliche „Namestnik“, Statthalter Rußlands.
Auch Poroschenko muß sich mit Rußland arrangieren. Vermutlich hat er bereits Schritte in diese Richtung getan. Ohne den russischen Markt kann ein guter Teil seiner Unternehmen zusperren. Ohne Rußlands Zustimmung kann er die Ukraine nicht regieren.
4. Perspektiven
Es fragt sich allerdings, ob er es selbst mit Rußlands Rückendeckung schaffen wird. Denn die Karten für die Einflußnahme auf die Ukraine sind ja schon verteilt. IWF, EU und USA warten, um ihre miteinander, mit den Interessen der Ukraine und mit denen Rußlands unvereinbaren Ansprüche zu präsentieren.
Nicht zu vergessen ein Haufen bewaffneter Ukrainer, deren jeder die jeweils andere Fraktion als den ersten Feind betrachtet …

Die EU in der Zwickmühle

MITGEFANGEN; MITGEHANGEN?
Die EU hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um die ukrainische Regierung zu destabilisieren und hat wesentlich zu ihrem Sturz beigetragen. Es ist wichtig, sich das in Erinnerung zu rufen angesichts der nicht ganz zu verbergenden Verlegenheit, die sich inzwischen der EU-Politik bemächtigt hat.
Letztere hat nämlich dazu geführt, daß diejenigen Personen, die unbedingt in der EU eine Prosperität und Frieden stiftende Institution sehen wollen, gerne die Rolle der EU rückwirkend als völlig passiv darstellen und die Schuld an der angeblichen „Eskalation“ der Lage je nach politischer Präferenz wechselweise Rußland oder den USA zuschreiben.
Es ist nämlich nicht zu übersehen, daß die EU als Akteur ziemlich ins Hintertreffen geraten ist.
In der Ukraine selbst
haben die Ereignisse rund um den Aufstand auf dem Maidan gezeigt, daß es schon unter der Regierung Janukowitsch schlecht um das ukrainische Gewaltmonopol bestellt war. Der Staat hatte weder die Mittel noch das nötige Personal, um sich gegen ein paar Tausend gut ausgerüstete Krawallmacher durchzusetzen. Als die Regierung die Armee ersuchte, sich an der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zu beteiligen, erhielt sie eine glatte Absage: Die Armee sei nicht für Inlandseinsätze da. Die Heeresführung berief sich dabei auf die ukrainische Verfassung. Dies geschah wenige Tage vor Janukowitschs Sturz und war offenbar einer der letzten Tropfen, die das Faß zum Überlaufen brachten: Janukowitsch mußte feststellen, daß er weder auf die Truppen des Innenministeriums, d.h. die Polizei, noch auf die Elitetruppen von Berkut und Alfa, noch auf die Armee zählen konnte.
Es war also, das läßt sich im Nachhinein sagen, gar nicht schwer, die ukrainische Regierung zu stürzen.
Das damit aber endgültig flöten gegangene Gewaltmonopol wiederherzustellen ist schier unmöglich – eine Erfahrung, die schon in islamischen Ländern gemacht worden ist, und jetzt in der Ukraine wieder neu durchgespielt werden wird.
Die neu ernannten Hampelmänner in Kiew sind zwar getreue Befehlsempfänger westlicher Institutionen und Regierungen, und unterschreiben fast alles, was man ihnen vorlegt, haben aber nicht einmal die Kontrolle über die Straßen von Kiew. Den nicht vorhandenen oder sich aufgelöst habenden staatlichen Gewaltapparat versuchen sie einerseits durch Aufruf an Freiwillige, durch das Anwerben von Söldnern und durch das Einsetzen der Oligarchen als Provinzverwalter zu ersetzen. Auf die Freiwilligkeit allein können sie sich dabei offenbar nicht verlassen. Ein in der Ostukraine von den dortigen Aufständischen gefangengenommene Mitglied der völlig neuformierten „Alfa“-Einheit gab bekannt, daß er durch Drohungen gegen seine Familie zum Eintritt in die Einheit gezwungen wurde.
Was die Kiewer Hampelmänner seit einigen Wochen nach Süden und Südosten schicken, ist eine Art letztes Aufgebot aus Faschisten und Söldnern, die zwar kleinere und größere Massaker unter der dortigen Bevölkerung anrichten und vermutlich noch anrichten werden, aber die staatliche Autorität nicht wiederherstellen könnten.
Die Vorstellung, durch die für den 25. Mai angesetzten Wahlen zu einem stabilen Verhältnis von oben und unten zu gelangen, ist zwar höchst abwegig, wird aber dennoch von den westlichen Medien und Politikern als „Lösung“ dargestellt, die einzig und allein von Rußland hintertrieben wird.
Mit dem Versuch, sich doch noch als Akteur einzubringen und gegenüber Rußland zu positionieren, wird die Konkurrenz innerhalb der EU angeheizt. Man merkt wieder einmal, daß man es hier mit einem Bündnis imperialistischer Staaten zu tun hat, die sich durchaus gegeneinander positionieren, soweit es die Verhältnisse zulassen, und ihre Regierungen sich davon Vorteile versprechen.
Die EU und die Sanktionen
Es ist keineswegs im Interesse der EU-Staaten, Sanktionen gegen Rußland zu verhängen. Sie schädigen dadurch die eigene Ökonomie, verlieren Märkte und Kaufkraft. Dennoch stellen sie derzeit – solange nicht überhaupt Krieg ausgerufen wird – die einzige Möglichkeit dar, Rußland unter Druck zu setzen. Also kann sich die EU diesem Schritt nicht verschließen.
Einzelne Staaten hingegen können es schon. Das tschechische Parlament hat Anfang März den Vorschlag der Regierung, sich den Sanktionen gegen Rußland anzuschließen, verworfen. Der ehemalige Präsident Klaus hat sogar ein öffentliches Statement abgegeben, in dem er die EU-Politik verurteilt und sich hinter Rußland stellt. Die gerade frisch wiedergewählte ungarische Regierung spart nicht mit Verlautbarungen, daß es seine guten Beziehungen zu Rußland nicht durch Sanktionen gefährden wird. Deutschland hingegen bemüht sich, bei sämtlichen Treffen den Sanktionen die Spitze zu nehmen, um seine ökonomischen Beziehungen zu Rußland nicht allzusehr zu beschädigen, während sich die Politiker und die Medien einer um so schärferen Sprache bedienen, „Wir werden … wir müssen … keinesfalls … unbedingt … usw.“ – was nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die selbsternannte Führungsmacht der EU in der Ukraine-Frage ebenso machtlos wie ratlos ist.
Polen hingegen sieht seine Chance gekommen, sich durch einen engen Schulterschluß mit den USA innerhalb der EU aufzuwerten und der deutschen Führung etwas auf die Zehen zu treten. Der Regierungschef Tusk machte den frechen Vorschlag, den Gaseinkauf in Zukunft zentral zu erledigen, sodaß z.B. auch Deutschland sich seinen Gasverbrauch aus Brüssel genehmigen lassen müßte. Polen hingegen wäre kaum betroffen, da seine Energieversorgung immer noch zu einem hohen Prozentsatz auf einheimischer Kohle beruht. Propagandistisch wird alles aufgefahren, was an antirussischer Propaganda nur möglich ist, und der Bevölkerung signalisiert, die Russen könnten bald wieder in Polen einmarschieren. Der Staatspräsident Komorowski möchte gar einen eigenen Raketenschirm für Polen exklusiv errichten, zusätzlich zu dem von der NATO in Polen geplanten. Man müsse nur noch prüfen, ob dafür auch Geld im Budget da sei. Die ganze Außenpolitik Polens seit Monaten läuft daraus hinaus, der Regierung Janukowitsch jede Legitimität abzusprechen, während die jetzigen Hampelmänner von Polen sofort als legitime Regierung anerkannt wurden. Polen versucht sich mit dieser Position als das Eintrittstor der Ukraine in die EU und – mit der NATO im Hintergrund – als Schutzmacht der Ukraine zu präsentieren.
Polen pokert dabei hoch. Der Boom des letzten Jahrzehnts in Polen, der jede Menge Kapital nach Polen gelockt hat, beruht auf seiner Nähe zu und dem polnischen Know-How auf dem russischen Markt. Polen ist zu einem, ja eigentlich dem Brückenkopf europäischen Kapitals für den Sprung nach Rußland geworden.
Ähnlich verhält es sich mit grenzüberschreitendem Business in der Ukraine, das im Gefolge der Fußball-EM 2012 an Volumen zugenommen hat. Wenn die Ukraine zahlungsunfähig wird, so geht eine Menge polnischen Kapitals den Bach hinunter.
Als weiterer antirussischer Scharfmacher innerhalb der EU hat sich zur Zeit der Annexion der Krim Schweden in Position gebracht. Inzwischen hört man jedoch nichts mehr aus dieser Richtung. Anscheinend hat sich in Schweden die Erkenntnis durchgesetzt, daß das schwedische Kapital, das sich in Polen und im Baltikum eingenistet hat, von Sanktionen gegen Rußland schwer betroffen wäre.
Spanien fürchtet um seine zahlungskräftigen Touristen und um die dringend benötigten russischen Investitionen in den stark ramponierten Immobiliensektor, und London fürchtet um seine Stellung als erster Finanzplatz Europas, wenn das russische Kapital abgezogen würde bzw. Investitionen in Rußland gefährdet wären.
Während also die meisten europäischen Regierungen schon keine besondere Freude mit den Sanktionen haben, so ist die Geschäftswelt vollends und ziemlich geschlossen dagegen. Man kann hier sehr schön sehen, wie verkehrt die Vorstellung ist, daß die Politik immer genau das macht, was ihr die wichtigen Kapitalfraktionen einflüstern. Hier tritt das genaue Gegenteil ein: Um irgendwelche Ansprüche in der Ukraine durchzusetzen, den großen Verbündeten nicht zu verprellen und Rußland in die Schranken zu weisen, setzen sich die meisten Regierungen Europas (noch?) über die Interessen der Wirtschaftstreibenden hinweg. Es ist jedoch anzunehmen, daß sowohl die Regierungen als auch die Brüsseler Politiker ständig von irgendwelchen Delegationen der Unternehmerschaft und der Banken bedrängt werden, es doch bitte ja zu keinem Wirtschaftskrieg mit Rußland kommen zu lassen.
Also reist jetzt wieder einmal van Rompuy nach Kiew, überschüttet die Kiewer Hampelmänner mit Anerkennung und versucht sie zum „Dialog“ mit ihren Separatisten mit Rußland zu bewegen, was diese kategorisch zurückweisen werden.
Vor den Trümmern ihrer Einmischungspolitik stehend, ohne Möglichkeit der Einflußnahme auf die Ereignisse in der Ukraine, gegen die Interessen ihrer Lieblingsbürger handelnd und untereinander uneinig – so präsentiert sich das Staatenbündnis, das mit den USA als Weltmacht konkurrieren und Rußland dafür benützen wollte. Eine vertrackte Situation, in die die Politiker der EU – unter begeisterter Assitenz ihrer Medien – sich selbst hineingeritten haben.

Die Schulden der Ukraine

EIN FASS OHNE BODEN?
Kurz nach dem Triumphgeschrei der Medien über den Sturz der Regierung Janukowitsch und der Einsetzung der neuen Hampelmänner, die jetzt als „Regierung“ gehandelt werden, obwohl sie diesen Namen nicht verdienen, machte die Botschaft, die Ukraine sei praktisch pleite, die Runde. Sie benötige dringend einen IWF-Kredit, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können.
Sofort drängen sich Fragen auf: Bei wem sind diese Zahlungsverpflichtungen aufgelaufen? Wer sind die Gläubiger der Ukraine? Wann, wie ist diese Schuld entstanden?
Man hörte dann nicht mehr viel von dem Thema.
Der IWF gewährte der Ukraine angeblich seit 1994 Kredite. Über diejenigen der 90er Jahre findet man wenig Information. Dennoch war ihre Gewährung an die „Politik des knappen Geldes“ gebunden und hatte zur Folge, daß in vielen Sektoren der Ökonomie und der Beamtenschaft jahrelang keine Gehälter gezahlt wurden, bevorzugtermaßen in den russischsprachigen Gebieten der Ukraine, wo die Identifikation mit der Regierung in Kiew von Anfang an gering bzw. inexistent war.
Ein Streik der Bergleute im Donbass 1996 für die Zahlung der ausstehenden Löhne wurde unter dem Ministerpräsidenten Lasarenko zu einem Akt des Landesverrates erklärt und durch Militäreinsatz beendet. Ebendieser Pawlo Lasarenko floh schließlich in die USA, wo er wegen Korruption und Geldwäsche zu einigen Jahren Haft verurteilt wurde. Vermutlich stehen die Vorwürfe gegen Lasarenko im Zusammenhang mit erhaltenen Krediten, die in private Taschen wanderten – ob vom IWF oder anderen Institutionen, weiß man nicht.
Überhaupt umgibt die gesamte Staatsschuld der Ukraine der Flair eines Mysteriums. Weder ihre Höhe noch ihre Herkunft ist bekannt. Generell läßt sich sagen, und das mußte auch der IWF erfahren, daß die Gelder weder widmungsgemäß verwendet, noch die Bedingungen der Vergabe eingehalten werden. Das hat mit der zerstörerischen Wirkung dieser Bedingungen sowie mit rasch wechselnden Koalitionen und Rotationen von Ministern zu tun – die jeweils nur kurzfristig tätigen Amtsinhaber sahen sich an die Verträge, die ihre Vorgänger unterschrieben hatten, nicht gebunden. Besonders augenfällig war das beim IWF-Kredit von 2008:
„2008 gewährte der IWF eine Kreditlinie über 17 Milliarden Dollar und setzte Bedingungen: Freigabe des Kurses der Landeswährung Hrywnja, Streichung von Staatsausgaben und eine Anhebung der inländischen Gaspreise. Das IWF-Geld floss, doch das Reformprogramm »lief rasch aus der Spur«, so ein IWF-Bericht. Kaum eine seiner Forderungen wurde erfüllt. Denn sie waren unpopulär: Die Freigabe der Hrywnja hätte eine deutliche Abwertung der Währung bedeutet. Importe würden dadurch teurer. Zudem hatten viele Ukrainer Kredite in Auslandswährung aufgenommen, deren Rückzahlung mit der Abwertung viel teurer würde.“ (Frankfurter Rundschau, 9.3.)
Damals waren noch die inzwischen zerstrittenen Lichtgestalten Timoschenko und Juschtschenko, die durch die „Orange Revolution“ an die Macht gekommen waren, im Amt. Die IWF-Verhandler hofften offenbar, bei einer solchen prowestlichen Führung endlich Vertragssicherheit zu haben. Aber das Gegenteil war der Fall. Zögerliche Versuche, die IWF-Bedingungen umzusetzen, hatten den Abgang beider von der politischen Bühne zur Folge, und die an die Macht gekommene Partei der Regionen sah sich an das Verelendungsprogramm, das der IWF verordnet hatte, nicht gebunden.
Jedenfalls beginnt mit dem IWF-Kredit von 2008 – nach den offiziellen Zahlen – eine rasante Verschuldung der Ukraine, weil ihr dieser Kredit die Tore zu den Finanzmärkten öffnete. Von 6,3 Milliarden € im Jahr 2007 stieg sie bis 2013 auf 43,7 Mrd. €.
Der Versuch, einen neuerlichen IWF-Kredit auszuhandeln, und die Bedingungen, die er enthielt, sollen nach Aussage des damaligen Ministerpräsidenten Mykola Azarow der letzte Tropfen gewesen sein, der das Faß zum Überlaufen brachte und die Regierung bewog, sowohl die Verhandlungen mit dem IWF abzubrechen, als auch von der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU zurückzutreten. (New York Times, 22.11. 2013)
Die Pleite wurde inzwischen abgewendet und die Gläubiger, die mehrheitlich im Westen sitzen, können aufatmen:
„Der IWF will der Ukraine einen Kredit zwischen 14 und 18 Milliarden Dollar (rund 10 bis 13 Milliarden Euro) gewähren. Das teilte der Währungsfonds nach tagelangen Verhandlungen mit der Kiewer Regierung mit. Eigentlich hatte die Ukraine sogar auf bis zu 20 Milliarden Dollar gehofft. Der genaue Betrag werde festgelegt, wenn die ukrainischen Behörden ihre Bedürfnisse präzisiert hätten und geklärt sei, welche anderen Hilfen das Land bekommen werde, so der IWF. Im Gegenzug muss die Regierung in Kiew umfassende Wirtschaftsreformen im Land anpacken.“ (Tagesschau, 27.3.)
Es kann jedoch den Verhandlern von IWF und auch denen der EU nicht ganz entgangen sein, daß die derzeitigen Hampelmänner in Kiew sich nicht einmal in den Straßen Kiews Respekt verschaffen können, geschweige denn im Rest des Landes, und ihre Unterschrift unter irgendwelche Verträge daher nichts wert ist.
In diesem Zusammenhang ist folgende Meldung interessant:
„Goldreserven der Ukraine wurden in die USA transportiert. Das ukrainische Nachrichtenportal Iskra-News berichtet, dass die Goldreserven der Ukraine in die USA geflogen worden seien. Laut einem Augenzeugenbericht sei entsprechende Ware am Kiewer Flughafen Borispol auf eine Frachtmaschine verladen worden … Iskra-News erklärte zudem, dass man von einem leitenden Regierungsbeamten die Information erhalten habe, dass auf Befehl der »neuen Führung« in der Ukraine, alle Goldreserven des Landes in die USA geliefert worden seien. Die Goldreserven der Ukraine werden im jüngsten Bericht des World Gold Council mit 42,3 Tonnen beziffert. Das entspricht einem aktuellen Marktwert von 1,3 Milliarden Euro.“ (Goldreporter, 10.3.)
Soweit es ging, haben sich also die maßgeblichen Autoritäten die größtmögliche Sicherheit verschafft, bevor sie irgendwelche Zusagen gegeben haben. Der Goldschatz der Ukraine wurde eingesteckt, um westliche Gläubiger zu befriedigen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß der IWF selber zu denjenigen Gläubigern gehört, deren Schuld unbedingt bedient werden mußte, um nicht seine Glaubwürdigkeit als Garant des Kredites einzubüßen. Mit einer Pleite der Ukraine hätte das ganze Weltwährungssystem gewackelt.
Auch wenn die ukrainische Pseudoregierung stürzt, es zu Bürgerkrieg kommen sollte, das Land geteilt wird, usw. – die Schuld wird bleiben:
„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld. Daher ganz konsequent die moderne Doktrin, daß ein Volk um so reicher wird, je tiefer es sich verschuldet. Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.“ (Karl Marx, Das Kapital I, 24. Kapitel, S 782-783)